1931 erschien im Transmare Verlag, Berlin, ein besonderes Buch, das nur aus Fotos bestand. Der Titel: 1910-1930, Zwanzig Jahre Weltgeschichte in 700 Bildern.
Das Bildmaterial wurde seinerzeit von Sandor Márai und Lászlo Dormándi zusammengestellt. Das Buch wurde 1938 von den Nationalsozialisten verboten („Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“). Kein Wunder – sollte es doch nach dem Willen der Herausgeber ein Anti-Kriegsbuch sein, auch wenn Friedrich Sieburg im Vorwort den Begriff „Kriegsbuch“ verwendet.
Es lohnt sich, die vollständige Einleitung von Friedrich Sieburg hier abzudrucken – zeigt es doch die Absicht, die hinter der Auswahl der Bilder steht. Die Fotos, die die Schrecken des Ersten Weltkriegs zeigen, sind unter http://win2014.de/?page_id=37 zu finden. Alle Fotos haben kurze Titel, an denen man erkennen kann, dass es sich um Antikriegsbilder handelt.
EINLEITUNG
VON
FRIEDRICH SIEBURG
Dies Bilderbuch soll, den, der es betrachtet, nicht vom Denken befreien. Es soll ihm nicht die geistige Mühe sparen, die im Lesen liegt. Im Gegenteil, es soll ihn veranlassen, die letzten siebzehn oder zwanzig Jahre bis zu Ende durchzukosten und einen Blick auf die Tatsachen zu tun, ohne daß diese durch eine Deutung verhüllt oder gefärbt würden. Zugleich mag die Breite und Vollständigkeit des Angeschauten ihm das versöhnliche Gefühl verleihen, daß eine Zeit, der völlig gut zu sein kläglich mißlang, auch nicht völlig böse sein kann.
Wenn wir wollen, ist es die beste Zeit und die schlechteste Zeit, die Zeit der dunkelsten Verblendung und der schärfsten Erleuchtung, die Zeit des rückhaltlosesten Opfermuts und der bösartigsten Gewinn sucht, die Zeit des größten Getreideüberflusses und der zahlreichsten Hungertode, die Zeit der sportlichen Unschuld und der blutbefleckten Wollust, die Zeit der schlaffen Hände und der geballten Fäuste, die Zeit des Massenmordes und des Heilserums, die Zeit der technischen Triumphe und der Naturkatastrophen, die des weißen und des roten Terrors. Es ist die Zeit, in der es heißt- „Volldampf voraus!“und „Wer weitergeht, wird erschossen!“
Kaiser Wilhelm hackt Holz, und Gandhi dreht das heimische Spinnrad. Throne fallen, aber die Kontorsessel treten ins weiße Scheinwerferlicht der Zukunft. Die Schönheitsköniginnen gehen nackt über die Straßen, Neger, die dies zu einfach verstehen, werden vor dem Rathaus verbrannt. Die Krüppel fahren in kleinen Wägelchen mit Handkraft durchs Gewimmel, aber Autos mit zweiunddreißig Zylindern bringen es auf dreihundert Meilen in der Stunde. Es ist die Zeit, die dunkle Zeit, in die Rathenau und sein Mörder mit dem gleichen festen Blick hineinsehen. Es ist die Zeit, die einer nicht gewollt und ein anderer reiflich erwogen hat. Es ist die Zeit, die keine Zeit hat, und die in jeder Minute eine Ewigkeit zurücklegt. Die Zeit denkt ohne Stolz an Gestern und ohne Mut an Morgen, aber das Heute kommt ihr wie das goldene Zeitalter vor. Es ist unsere Zeit.
Es ist unsere Zeit, und darum ist das Buch, das sie im Bilde zeigt, ein Kriegsbuch. Die Bilder der Leichenberge, der verfaulten Menschengesichter, der farbenprächtigen Verwesung treten ohne die vermessene Hoffnung auf, die Zeitgenossen vom Kriege für immer zurückschrecken zu können. Der dumpfe Kämpferinstinkt im Menschen läßt sich nicht dadurch einschüchtern, daß ihm die Gefahren des Kampfes gezeigt werden. Er hat sich ein tödliches Ideal gebildet, das nur durch ein anderes Ideal, aber nicht durch Schreckensbilder entthront werden kann. Eine Zeit, die sich ein neues Ideal, und sei es auch ein falsches, zu schaffen versteht, entrinnt dem Kriege leichter als eine, die das alte Ideal des Kämpfens schlummern läßt. Auch das edelste und sanfteste Zeitalter kann sich keine Männer wünschen, die vor Gefahren zurückschrecken, selbst wenn diese Gefahren im Reiche des blutigen Kotes und der Fäulnis liegen.
Jede Belehrung, die sich an den schöpferischen Sinn im Menschen wendet, muß verstanden werden. Das Opfer soll seinen Sinn haben. Die stumme, aber dröhnende Stimme der Bilder spricht indes von dem Sinnlosen, von dem Zufälligen, dem Spielerischen, dem Tollen, das die größten Opfer der Wettgeschichte hervorrief. Der Befreiung des Menschengeschlechtes wurde n i c h t gedient. Alles war ein Zufall. Wer diesen Zufall begriffen hat, wer ihn aus den biederen oder bösartigen Gesichtern der Herrscher und Diplomaten, der Rüstungsindustriellen und der Arbeiterführer herausgelesen hat, den erfaßt beim Anblick funkelnagelneuer Geschützrohre, Gasbomben und Tanks mehr als nur ein bitteres Lächeln.
Die fünfzehn oder zwanzig letzten Jahre in Bildern scheinen nahtlos, lückenlos in einander überzugleiten. Immer sausen mächtige Männer, von Bewaffneten umgeben, durch abgesperrte Straßen, immer geben sich Herrscher, die zu jedem Verrat aneinander entschlossen sind, lächelnd die Hände, immer haut die Polizei ins graue Menschengewimmel, immer versprechen die öffentlichen Schönheiten Tausenden, was sie Einem nicht halten wollen, immer schwankt ein funkelndes Kruzifix über jeglichem Menschenjammer, immer spritzen die Ölquellen ihr Gift in die Politik, immer hat das Geld mit dem Reichen Erbarmen, immer wird in Werkstätten gehustet und in Ministerien gelogen.
Aber eine Kleinigkeit hat sich d o c h geändert. Es ist nicht genug, um den Tod von vielen Millionen Menschen zu rechtfertigen, aber es rechtfertigt doch das Leben derer, die übriggeblieben sind: diejenigen, die Unrecht tun am Ganzen, haben ein schlechtes Gewissen bekommen.
Gewiß sind die Gegensätze zwischen Arm und Reich heute so scharf wie nur je, gewiß bricht die Gewalt den Schwachen heute nicht minder leicht als früher. Aber das bohrende Gefühl; daß es anders sein müßte, ist gewachsen. Der Reiche ist seines Geldes, der Große seiner Macht nicht mehr froh, er fühlt es bis in sein persönlichstes Leben hinein, wenn das soziale oder moralische Gleichgewicht der Welt, aus der er Nutzen zieht, gestört ist.
Das Gefühl steigender Verantwortung und regeren Gewissens entsteht in dem Augenblick, wo die Klassengegensätze ihre schärfste Zuspitzung erreicht haben. Gehen wir dem sozialen Frieden entgegen? Bestimmt der sozialen Umschichtung!
Die Transformatoren, die Staudämme und Luftflotten, von denen unsere Bilder schließlich sprechen, gehören bald den Vereinigten Staaten, bald der Sowjet-Union. Die Massen, die schwarz-weiß die Bilder erfüllen, sind auf dem einen noch Gaffer und Spalier, auf dem andern schon handelndes Element, neues Wesen, von dem alle Gewalt ausgeht. Die Menschen wachsen ineinander, die Gesichter entschwinden, die Masse füllt mächtig den Raum. Die Schicksale verlieren ein wenig von ihrer Einmaligkeit. Das Gemeinsame wird Kraft und Gefahr. Auch für die Völker.
Wieviele Nationalflaggen, Grenzsoldaten und Hauptstädte wir auch erblicken mögen, der Zwang der Völker zur Solidarität wächst doch. Es gelingt ihnen nicht mehr völlig, in ihrer Abtrennung und ihrem Egoismus zu verharren. Weil in Japan ein Streik ausbricht, kann das alte Fräulein in der Familienpension in Brighton ihre Wochenrechnung nicht bezahlen; weil im Kaukasus eine neue Ölquelle angebohrt wird, werden Männer in Pennsylvania arbeitslos und müssen in den Schächten der Untergrundbahn schlafen.
Auf eine neue und zunächst grausame Art werden die Menschen. und Völker zum Gefühl des Verbundenseins gebracht. Was werden sie mit diesem Gefühl beginnen?
Wer davon ein Bild hätte, der würde mit Freuden jedes Bild dieser letzten zwanzig Jahre in ewige Dunkelheit versenken.