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Es gibt immer wieder auf dem Flohmarkt oder bei einer Wohnungsauflösung Gemälde oder Fotos, die auf ihre Entdeckung warten. So mancher Picasso oder Rembrandt ist so schon gefunden worden. Ganz so spektakulär erging es dem französische Historiker Pierre Schill nicht, als er in Montpellier das Privatarchiv eines Abgeordneten durchforsten durfte. Bald stieß er auf einen unscheinbaren Pappkarton mit vergilbten Fotos.
Es waren „nur“ etwa dreißig Fotos, aber die hatten es in sich. Sie zeigten militärische Truppen in der Wüste oder an einer Oase. Auf einem Foto war eine öffentliche Hinrichtung von Männern zu sehen. Name des Fotografen, Ort oder Datum der Aufnahmen fehlten. Es musste also geforscht werden. Das war 2015. Inzwischen hat Pierre Schill zwei Bücher darüber veröffentlicht und 2018 eine Ausstellung angeregt.
Gesammelt hatte die Bilder Paul Vigne d’Octon, ein Abgeordneter des Départements Herault. Während seines Militärdienstes als Arzt im Senegal hatte er die Schattenseiten des kolonialen Schwarzafrikas entdeckt. Durch die Brutalität einiger Soldaten empört, begann er sich einzumischen. In einer Art Schwarzbuch prangerte er die Positionen von Parlamentariern an, denen es vor allem darum ging, Kolonien zu erobern ohne Rücksicht auf die Rechte und das Leben der Einwohner. Er sammelte Berichte und Fotos, um zu beweisen, wie grausam die Einwohner behandelt und gequält wurden. Doch seine Anklagen blieben ungehört. So gerieten auch die Fotos mit den erhängten Männern in Vergessenheit. Erst als der Historiker Pierre Schill die historische Untersuchung dieses Archivs begann, konnte 2015 die Herkunft dieser Bilder entschlüsselt werden.
„Ich entschuldige mich bei denen, die den Anblick für ekelhaft halten, und ich werde versuchen das zu erklären, aber es ist notwendig, dass Sie über die begangenen Gräueltaten informiert werden. Ich war selber entsetzt so etwas sehen zu müssen. Diese Bilder gehen über alle Grausamkeiten hinaus, die wir bis jetzt kannten.“
Diese Worte hat kein Journalist beim Anblick der Leichen in den Schützengräben von 1916 geschrieben. Man findet sie in einem Artikel im „Le Matin“ vom 30. November 1911. Der Journalist Gaston Chérau war von der Pariser Tageszeitung beauftragt, über den Italo-Osmanischen Krieg zu berichten, der kurz zuvor in Libyen ausgebrochen war, ein Konflikt, den kaum niemand in Europa wahrnahm.
Fast ganz Nordafrika stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter der Kontrolle der europäischen Mächte, vor allem Frankreichs und Großbritanniens. Ein Teil des libyschen Territoriums jedoch war unter osmanischer Herrschaft, die zwei Provinzen Tripolitanien und Cyrenaica. Italien wollte dabei nicht leer ausgehen.
Man versprach sich Expansionsraum und Entwicklung der industriellen Produktion, und die armen Kleinbauern des Südens glaubten Land zu erhalten, das sie sich in ihrer Fantasie reich und fruchtbar vorstellten. Man hatte von eichengroßen Olivenbäumen gehört, die in der Oase Tripolis wachsen sollten, von Maulbeerbäumen so groß wie Buchen, Weizen, der das Drei- oder Vierfache der besten europäischen Böden liefern sollte und von Weinbergen mit Trauben von unglaublichen 20 bis 30 Kilo pro Frucht. Vielleicht gab die fruchtbare Tripolis-Oase mit ihren zwei Millionen Palmen tatsächlich so viel her, aber für das gesamte libysche Territorium war das reine Fantasie. Es war überwiegend verlassen, heiß und unwirtlich.
Am 3. Oktober eröffnen zwanzig italienische Schiffe das Feuer auf die Festungen von Tripolis. Zwei Tage später erfolgt die Landung. Ende September haben die italienischen Truppen die Stadt eingenommen. Der Generalstab geht davon aus, dass die einheimische Bevölkerung wohlgesonnen sei oder zumindest die Kämpfe gleichgültig hinnehme. Im Oktober jedoch werden Soldaten des 11. Bersaglieri Regiments aus dem Hinterhalt von Beduinen angegriffen. Ihre Leichen werden zerstückelt, die Genitalien abgeschnitten, die Augen ausgerissen.
Die italienische Vergeltung ist unmittelbar und unendlich brutaler als der libysche Aufstand. Über 4 000 Menschen werden erschossen oder aufgehängt. Und das ist nur der Anfang. Galgen- und Zwangsvollstreckungen sind an der Tagesordnung.
Einige Korrespondenten vor Ort sind darüber empört und verbreiten die Ereignisse in der europäischen Presse. Plötzlich geraten die Massaker und Deportationen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Das Ansehen der Italiener ist in Gefahr. Nun soll die Presse auf ihrem Schlachtfeld kämpfen. Man lädt verständnisvolle Journalisten nach Tripolis ein, die das Bild der Italiener gerade rücken sollen. Gaston Chérau ist einer von ihnen.
Er hatte von einem Freund eine Kamera geliehen bekommen, eine neue Kodak, mit der zum ersten Mal schnelle Schnappschüsse möglich sind, ohne sekundenlange Belichtung. Er bringt aus Tripolis mehr als zweihundert Fotografien mit. Es ist vielleicht übertrieben, hier von der Geburtsstunde des Fotojournalismus zu sprechen, aber wir erleben zum ersten Mal, wie sich Wort und Bild, Bericht und Illustration in das Kriegsgeschehen einmischen. Die Presse engagiert sich gegen den Krieg und schickt mutige Journalisten mit Kamera und Stenoblock in die Kampfzonen.
Gaston Chérau ist eigentlich nur Journalist. Aber mit seiner kleinen Kodak wird er einer der ersten Fotojournalisten und einer der ersten Kriegsberichterstatter, die nicht der Zensur unterliegen, im Gegensatz zu dem, was während des Krieges zwischen 1914 und 1918 passieren wird.
Als Gaston Chérau Ende November 1911 Paris verlässt, um zum ersten Mal nach Tripolitanien zu reisen, hat er, wie gesagt, eine Kodak-Kamera im Gepäck. Er hat sie kaum ausprobiert und weiß nicht so recht, was er damit fotografieren könnte. Vielleicht Erinnerungsfotos für seine Frau und seinen Sohn?
Aber zum Knipsen hat ihn „Le Matin“ nicht losgeschickt. Er soll über den Krieg berichten, durch den Italien sich erhofft, auch Kolonialmacht zu werden. Gaston Chérau ist Schriftsteller, und man erwartet von ihm, dass er über die Heldentaten italienischer Soldaten berichtet und die erhoffte Niederlage des Osmanischen Reiches darstellt. Er freut sich über seine Aufgabe; denn er liebt Italien leidenschaftlich. Und er hat schon immer davon geträumt, den Orient zu sehen, den Harem mit den Kurtisanen und die Dromedare im Schatten großer Dattelpalmen. So stellt er sich jedenfalls den Orient vor.
Die kleine Kodak im Gepäck, fährt er los, fährt durch sein Sehnsuchtsland Italien und ist nicht enttäuscht. Die Italiener sind allesamt bezaubernd, redselig und unbeschwert – so schreibt er in dem ersten Brief an seine Frau. Das unvergleichliche Blau des Himmels und des Meeres, jede Blume, jede Frucht rufen Verzückung in ihm hervor, die Düfte machen ihn trunken, und es ist doch schon November.
In Messina und in Syrakus geht das märchenhafte Schauspiel trotz Sturmböen weiter. Auf dem Schiff, schreibt er stolz an seine Frau, gehöre er zu den wenigen Passagieren, denen die Seekrankheit nichts antut. Am Morgen des 28. November ist es soweit. Die Palmen, die Gebirge, die Wüste, alles ist da, und natürlich scheint die Sonne. Die akkreditierten Journalisten gehen von Bord und werden von einem italienischen Offizier mit äußerster Liebenswürdigkeit empfangen.
Gaston Chérau spaziert durch Tripolis, er fotografiert Handwerker, verschleierte Frauen, im Staub spielende Kinder, und er hört zum ersten Mal den Muezzin zum Gebet rufen. Er besucht die italienischen Schützengräben. In seinem ersten Artikel gerät er in Verzückung über den Mut der Soldaten. Er macht ein Foto von ihnen, in der Hocke sitzend, in einer Reihe hinter ihrem Unteroffizier, das Bajonett aufgepflanzt, als würden sie gleich zum Sturm ansetzen.
Am 5. Dezember passiert es dann. Vierzehn Araber, denen man unterstellt, sie wären am Massaker gegen die Bersaglieri beteiligt gewesen, werden durch Tripolis geführt, die Hände hinter den Rücken gebunden, im Gänsemarsch, an der Leine. Gaston Chérau fotografiert ihre Ankunft vor dem Tribunal. Ein italienischer Offizier liest die Anklageschrift in einer Sprache vor, die sie nicht verstehen. Die Aufständischen werden alle zum Tode durch den Strang verurteilt.
In der Nacht, um vier Uhr früh, wohnt er der Hinrichtung auf dem Marktplatz bei. Er macht daraus für „Le Matin“ einen ausführlichen Bericht. An seine Frau schreibt er, dass er nicht schlafen gehen wollte aus Angst vor furchtbaren Träumen. Er versteht nicht die Gleichgültigkeit der Menschenmenge, die sich um den Galgen versammelt hat, an dem die vierzehn Leichname den ganzen Tag über hängen bleiben. Er macht Bild um Bild, er nähert sich den Gehängten, er macht Nahaufnahmen von ihren Gesichtern. Spät am Nachmittag ist er noch immer da, als man die Leichen abhängt, um sie auf einem Karren zu stapeln.
Am 26. Dezember veröffentlicht „Le Matin“ vier seiner Fotografien unter dem Titel „Ce qu‘on voit en Tripolitaine‘‘ – „Was man in Tripolitanien sieht“: die vierzehn Araber in einer Reihe gehängt, in der Luft baumelnd, an besagtem Galgen, unter den Augen einer Schar ungerührter Kinder, und schließlich ihre auf den Karren gestapelten Leichen.
Wir wissen nicht, ob Gaston Chérau selber die Fotos ausgewählt hat. Aber diese Bilder lassen ihn nicht mehr los. Er irrt durch Tripolis, er versucht vergeblich, den Orient seiner Träume wiederzufinden. Stattdessen sieht er in einem Hauseingang ein eingeschlafenes Kind, betrachtet es einen Augenblick und merkt schließlich, dass es tot ist. Er wird wütend auf die Italiener, die sich darüber entrüsten, wie ihre Toten behandelt werden, die Leichen der Araber aber auf der Straße verwesen lassen. Er ahnt: Es geht hier nur um Rache. Unter denen, die die Italiener gehängt haben, sind bestimmt Unschuldige. Gaston Chérau beschließt Zeugnis abzulegen über die Grausamkeiten der Europäer gegenüber den Arabern.
Jeden Tag sieht er die Ankunft weiterer Menschen, die vor dem Kriegstribunal landen, jeden Tag gibt es weitere Hinrichtungen. In Paris wartet man inzwischen auf seine Fotos ungeduldiger als auf seine Artikel. Er mag noch so großartige Texte schreiben und rhetorischen Meisterleistungen vollbringen. All dies verblasst gegenüber der Faszination und Macht der Fotografien. Er hat in Tripolitanien nichts mehr zu schaffen. Er ist stolz darauf, sich geweigert zu haben, italienische Propaganda zu schreiben und verlässt das Land.
Pierre Schill hat 2015 ein Buch über den Krieg in Tripolitanien veröffentlicht. Mit Freunden hat er im Februar 2016 im Centre Photographique d’Ile-de-France die Ausstellung „À fendre le cœur le plus dur“ („Ich habe Dinge gesehen, die das härteste Herz brechen.“) kuratiert. Im Mittelpunkt stand das Archiv von Gaston Chérau mit seinen Artikeln und Fotos aus dem Krieg in Libyen 1911 bis 1912. Es sind Briefe an seine Frau und seinen Sohn dabei, in denen er sein Herz ausschüttet über das, was er an Grausamkeiten in Tripoli gesehen hatte.
Buch und Ausstellung sind eine Einladung darüber nachzudenken, wie wir die heutigen Nachrichtenbilder „konsumieren“, ohne sie in einem verständlichen Kontext wirklich zu verstehen und uns so jeglicher Art von Manipulation aussetzen. Der Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser schreibt zu dieser Problematik:
„Im Verlauf der Geschichte haben die Texte die Bilder erklärt, jetzt illustrieren die Fotos die Artikel. Die romanischen Kapitelle dienten den Bibeltexten, die Zeitungsartikel dienen den Fotos. Die Bibel ent-magisierte die Kapitelle, das Foto re-magisiert den Artikel. Im Verlauf der Geschichte dominierten Texte, gegenwärtig dominieren Bilder. Und wo die technischen Bilder dominieren, nimmt der Analphabetismus eine neue Stellung ein. Der Analphabet ist nicht mehr, wie früher, von der in Texten verschlüsselten Kultur ausgeschlossen, sondern er ist fast gänzlich an der in Bildern verschlüsselten Kultur beteiligt. Sollte die vollständige Unterwerfung der Texte unter die Bilder in Zukunft gelingen, dann ist mit einem allgemeinen Analphabetismus zu rechnen, und nur noch Spezialisten werden schreiben lernen.“
Zum Abschluss:
„Bilder schießen“ – so heißt dieser Beitrag. Ausgerechnet ein Fotojournalist aus Libyen wurde vor kurzem in einem Beitrag von FREELENS, dem Berufsverband der Fotojournalisten, mit einer ähnlichen Überschrift vorgestellt: „Eine Kamera ist wie eine Waffe“. https://freelens.com/fotografie-und-krieg/eine-kamera-ist-wie-eine-waffe-alle-haben-angst/
„Vor dem Krieg hätte es in Libyen gar keine Fotojournalisten gegeben, die diesen Namen verdient hätten, meint Abdullah Oshah. „Es war ja gar nicht möglich, ungestört zu fotografieren«, erzählt er, „zumindest nicht, wenn man nicht im Auftrag der Regierung unterwegs war. Erst nach dem politischen Umbruch 2011 war das möglich.“
Abdullah Oshah ist gelernter Feuerwehrmann Oshah. Lange war die Fotografie für ihn nur ein Hobby, doch nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes ist er irgendwie in die Medienwelt hineingerutscht, als in seiner Heimatstadt Sabratha an der äußersten Westküste Libyens die meisten Boote mit Migranten nach Italien ablegten. Die Region Sabratha ist während der Flüchtlingskrise 2015 bekannt geworden als Startpunkt für die Fahrt über das Mittelmeer. Sabratha liegt 300 Kilometer südlich von Lampedusa.
Zwei Buchtipps
Vor wenigen Wochen ist von Jérome Ferrari der Roman „Nach seinem Bilde“ erschienen. Darin gibt es ein Kapitel über Gaston Chérau. Teile dieses Beitrags orientieren sich an Ferraris fiktionaler Schilderung.
2018 ist der Roman „La ragazza con la Leica“ von Helena Janeczek mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden. In diesem Herbst soll im Berlin Verlag die deutsche Übersetzung des Romans erscheinen.
„Das Mädchen mit der Leica“ ist Gerda Taro – Kriegsfotografin, sozialistische Aktivistin, eine unabhängige Frau. 1937, im Alter von nur 27 Jahren, stirbt sie im Spanischen Bürgerkrieg. Gerda Taro war auch die Lebensgefährtin von Robert Capa.
Quellen
Pierre Schill, Réveiller l’archive d’une guerre coloniale, Fotografien und Schriften des Kriegskorrespondenten Gaston Chérau während des italienisch-türkischen Konflikts um Libyen (1911-1912), Créaphis, Paris, 2018
Jérôme Ferrari/Oliver Rohe, A fendre le coeur le plus dur, tishina, Paris, 2015
Jerome Ferrari, Nach seinem Bilde, Secession Verlag, Zürich, 2019
Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen, 1994
https://www.paris-art.com/a-fendre-le-coeur-le-plus-dur-temoigner-la-guerre/
https://www.lanouvellerepublique.fr/niort/gaston-cherau-un-academicien-dans-l-enfer-de-la-guerre
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