von Agnes Sapper
Die Heimreise aus Österreich
„Ist das ein köstlicher Friede hier oben! Kinder, wie haben wir’s gut, wie wollen wir die vier Wochen genießen!“ Frau Lißmann stand auf der Altane eines kleinen Bauernhauses in einem weltentlegenen österreichischen Dörfchen. Sie war am Vorabend mit ihren zwei jüngsten Kindern hierher in die Sommerfrische gekommen. Die Kinder – ein Knabe von zehn und ein Mädchen von zwölf Jahren – sahen auch aus, als ob sie eine Erfrischung brauchten. Beide hatten im Frühjahr Scharlachfieber gehabt und sich schwer davon erholt; auch die Mutter war angegriffen durch die Pflege. So hatte Herr Lißmann, der in München Lehrer an einer Kunstschule war, für diese drei Glieder seiner Familie einen stillen Sommeraufenthalt in den Tiroler Bergen ausgewählt. Er selbst hatte Ende Juli eine Studienreise nach Paris angetreten. Sein ältester Sohn Ludwig war in Passau, wo er sein Einjährigenjahr abdiente. Es blieb noch Philipp, der siebzehnjährige, der Gymnasiast, zu versorgen. Der wäre wohl gerne mit Mutter und Geschwistern ins Gebirge gereist; allein er war ein etwas leichtsinniger Schüler und hatte im Schuljahr so wenig gearbeitet, daß er in den Ferien lernen mußte. So übergaben ihn die Eltern einem Lehrer, der alljährlich eine Anzahl Ferienschüler aufnahm, und Philipp mußte sich darein ergeben, statt nach Tirol oder gar nach Paris nach Hinterrohrbach zu reisen!
Wieviel hatten all diese Pläne zu überlegen gegeben, und welche Mühe war es gewesen, für die nach verschiedenen Richtungen Abreisenden alles Nötige herbeizuschaffen und die Koffer zu packen! Und dann die große Wohnung abzuschließen und alles gut zu versorgen für die lange Ferienzeit! Kein Wunder, daß Frau Lißmann jetzt, nachdem all das hinter ihr lag, aufatmete und mit Wonne in die stille Landschaft blickte.
„Herrlich ist’s!“
Auf diesen Ausruf der Mutter waren beide Kinder herbeigeeilt und auf die Altane getreten. Wie schön war’s, die Mutter für sich zu haben, die Mutter, die nun Zeit und Ruhe hatte und so beglückt in die schöne Landschaft hinausschaute.
Ja, es war herrlich; zwar regnete es die ersten Tage, und in dem Dörfchen wurden die Wege bodenlos; aber man war doch traulich beisammen, konnte sich recht ausruhen und erholen. Nur eins vermißten unsere Sommerfrischler: Nachricht von den fernen Lieben. Man war wie von den Menschen abgeschlossen, in diesem von der Bahn weit abliegenden Örtchen, in das nur zweimal wöchentlich ein Postbote kam.
Eines Morgens brach die Sonne durch, wärmte, trocknete und vertrieb die Nebel. Die bisher verhüllten Bergspitzen hoben sich vom tiefblauen Himmel ab und lockten hinaus. So wurde denn auch für den nächsten Tag ein großer Ausflug geplant, und am frühen Morgen brachen sie auf, die Mutter, Karl und Lisbeth mit Bergstöcken bewaffnet, mit Rucksäcken versehen. Ihr Ziel war der Bergpaß, von dem aus man hinübersehen konnte in die Gletscher der Venedigergruppe. Gute Fußgänger machten das leicht in einem halben Tag, aber sie wollten sich einen ganzen Tag dazu nehmen und auf der Paßhöhe übernachten, wo eine einfache Unterkunft für Sommergäste war und von wo aus sie am nächsten Morgen den Sonnenaufgang sehen konnten. „Wenn es uns gar zu gut gefällt dort oben, bleiben wir vielleicht zweimal über Nacht, also haben Sie keine Sorge um uns,“ sagte die Mutter noch beim Abschied zu der freundlichen Bäuerin, bei der sie wohnten.
Wie war das schön für unsere drei Sommerfrischler, auf dem Bergsträßchen, das sachte anstieg, immer weiter hinter in das enge Tal, immer näher auf die hohen Berge zu zu marschieren! Hie und da traf man auch andere Wanderer, die den schönen Tag benützten. Gegen Mittag wurde im Freien getafelt und nach einer längeren Rast ging es mit frischen Kräften vorwärts. Die Straße wurde steiler, der Anstieg mühsamer. „Nur sachte voran,“ mahnte die Mutter, „wir haben viel Zeit vor uns. Schaut euch um, es wird immer schöner.“
Je höher sie kamen, um so mehr neue Bergspitzen stiegen auf, und plötzlich – die Paßhöhe war erreicht – leuchtete das große Schneefeld des Venedigers vor ihnen auf. Ein paar Schritte noch, und man stand an der Unterkunftshütte und hatte vor sich das herrlichste Gebirgspanorama.
So großartig und erhebend war der Anblick, daß sie wie aus einem Mund riefen: „Da bleiben wir, o da gehen wir nicht so schnell wieder herunter!“
Und so kam es auch. Als einzige Gäste der munteren Sennerin, die allein die Hütte bewirtschaftete, brachten sie zwei Tage in der stillen, friedlichen Bergeinsamkeit zu. Nichts war zu sehen, als die erhabene Gebirgswelt, nichts zu hören von dem, was tief unter ihnen die Menschen in ihren Städten beschäftigte.
Am dritten Tag umwölkte sich der Himmel, die hohen Berge waren verhüllt, das erleichterte den Abschied. Mutter und Kinder traten den Heimweg an, und hochbefriedigt von diesem ersten Ausflug planten sie weitere für die nächsten Wochen.
Als gegen Abend in der Ferne das Dörfchen erschien, freuten sie sich doch wieder auf dieses Heim. Endlich mußten ja auch Nachrichten eingetroffen sein von den Lieben, die so weit zerstreut waren. Wie oft hatten sie sie herbeigewünscht, fast am meisten den siebzehnjährigen Philipp, den lustigen Jungen, der nach Hinterrohrbach verbannt war und arbeiten sollte, während sie durch die herrliche Gebirgswelt streiften.
Nun kamen sie am ersten Häuschen vorbei; unter der Türe standen der Bauer, seine Frau und die Kinder und vor ihnen zwei Burschen, jeder mit einem Militärkoffer in der Hand. Sie hatten voneinander Abschied genommen. „B’hüt Gott, b’hüt Gott, kommt g’sund wieder,“ riefen ihnen die Dorfbewohner nach. Der eine der Burschen wandte sich noch einmal um und rief fröhlich zurück: „Eine jede Kugel, die trifft ja nicht!“
„Hast du gehört, Mutter?“ rief Karl, „die ziehen in den Krieg!“
„Ja, offenbar,“ sagte die Mutter, „aber es hieß doch, die Tiroler müßten nicht einrücken. Bloß die Regimenter an der Grenze sollten gegen Serbien ziehen.“
Sie gingen weiter, kamen wieder an einem Haus vorbei, an dem eine Gruppe von Leuten beisammen stand, die lebhaft miteinander sprachen. Im Vorbeigehen hörten sie sagen: „In Kufstein ist es schon vorgestern angeschlagen gewesen.“
„Was denn?“ fragte Frau Lißmann und trat zu den Leuten.
„Daß die Russen den Krieg erklärt haben.“
„Nein, wirklich?“ sagte Frau Lißmann zweifelnd; „es wird ein falscher Lärm sein.“
Nun redeten alle zusammen: „Gestern ist’s bekannt gemacht worden: Allgemeine Mobilmachung.– Es geht nicht nur gegen die Serben, nein auch gegen die Russen; die stecken dahinter. Ja, jetzt wird’s ernst.“
Ein Mädchen stand dabei, das schlug die Schürze vor die Augen und ging weinend ins Haus zurück. Ihre Eltern sahen ihr nach: „Es ist hart für sie, am Sonntag hätte die Hochzeit sein sollen, nun muß er in den Krieg.“
Frau Lißmann konnte kaum glauben, was sie hörte. „Kommt, Kinder, kommt heim; vielleicht ist ein Brief da oder eine Zeitung, ich habe noch keine gesehen, seit wir hier sind; es wäre ja schrecklich, wenn dies alles wahr wäre!“
Sie eilten; wenn sie nur irgendeine Nachricht vorfänden! Als sie sich dem Häuschen näherten, kam ihnen die Bäuerin schon entgegen: „Küß die Hand, gnä‘ Frau! Gottlob, daß Sie da sind! Wir haben alleweil nach Ihnen ausgeschaut. Daß Sie nur nicht erschrecken: zweimal ist der Telegraphenbote da gewesen. Zwei Telegramme hat er für Sie gebracht. Es wird halt alles wegen dem Krieg sein. Droben auf dem Tisch liegt alles beisammen.“
Nun eilten sie die Treppe hinauf. Telegramme, Zeitungen, einen ganzen Pack, fanden sie vor. Das erste Telegramm, das Frau Lißmann öffnete, kam von dem Lehrer in Hinterrohrbach und lautete: „Bin einberufen, muß Philipp heimschicken.“ Die Mutter und die Geschwister waren bestürzt!
Heimschicken! Das Heim war ja verschlossen! Nun das zweite Telegramm, das kam vom ältesten Sohn Ludwig, von dem Einjährigen: „Unser Regiment kommt an die französische Grenze! Ich komme noch für einen Tag nach Hause.“
Ja, war denn nicht nur mit Serbien und Rußland Krieg? Und nicht nur Österreich, auch Deutschland machte mobil? „Die Zeitungen her, Kinder!“ Sie griffen alle drei gierig danach; da stand es ja in großen Buchstaben über das ganze Blatt: „Krieg mit Rußland! Krieg mit Frankreich!“
Entsetzt stand Frau Lißmann. Krieg nach beiden Seiten! Und vom Vater, der eben nach Paris gereist war, von ihm keine Nachricht? Und der älteste Sohn mußte sofort mit in den Krieg! Und der jüngere, wo trieb der sich herum? Einen Augenblick stand sie wie niederschmettert von all diesen Nachrichten, die so viel Sorgen auf einmal brachten; und auch die Kinder verstummten. Krieg! Das war etwas, von dem man nur in der Geschichtsstunde gehört hatte, und nun trat das plötzlich herein, ins eigene Leben, in die Familie! Die Mutter raffte sich auf: „Kinder, wir müssen heimreisen so rasch wie möglich!“–„Ja, Mutter, schnell, schnell,“ rief Lisbeth ängstlich. „Die Brüder können ja gar nicht ins Haus herein!“ Karl war nicht so schnell gefaßt. „Jetzt sollen wir schon wieder abreisen? Einen einzigen Spaziergang haben wir erst gemacht! Können wir nicht wenigstens morgen noch an den Schwarzsee? Kommt es denn auf einen Tag an?“
Aber die Mutter antwortete darauf kaum. Sie faßte sich mit beiden Händen an den Kopf, alle Gedanken mußte sie zusammennehmen. Sie holte den Fahrplan, aber sie war kaum imstande, die kleinen Zahlen pünktlich anzusehen. Krieg! Krieg! Das schreckliche Wort, das so aufdringlich vorne in der Zeitung stand, raubte ihr die Besinnung. Sie konnte es noch gar nicht fassen, daß sie so ahnungslos, so vergnügt und glücklich in den Bergen herumgestiegen war, während ein so grenzenloses Unglück über das Vaterland hereinbrach. Aber sie mußte nun handeln, mußte packen, abreisen! Es war sechs Uhr abends; wenn sie den Wagen bestellte, der sie von der Bahnstation hiehergebracht hatte, so konnte sie noch den Nachtzug nach München erreichen. „Lisbeth, fange an einzupacken; wie es kommt, nur schnell! Ich gehe mit Karl ins Wirtshaus, um den Wagen nach der Bahn zu bestellen.“
In der Dorfstraße, an einem Scheunentor, war ein großes Plakat angeschlagen. „Sieh, Mutter,“ sagte Karl, „Vom Kaiser von Österreich: ‚An meine Völker!‘ Das möchte ich lesen.“–„So lies, ich gehe zum Wirt.“
Der Wirt aber war mit den Pferden fort. Er hatte einen Leiterwagen voll einberufener Burschen zur Station fahren müssen und konnte erst nachts zurückkommen. Andere Pferde gab’s nicht–vor dem nächsten Morgen war nichts zu machen. „Aber dann gewiß?“ fragte Frau Lißmann. „Um wieviel Uhr können wir wohl abfahren?“ Die Wirtin konnte dies nicht sagen, sie müßte erst mit ihrem Manne sprechen. Sie lasse dann durch einen Burschen Bescheid sagen. „Um neun Uhr vielleicht.“ – „So spät?“ – Ja, die Pferde müßten doch ausruhen und ihr Mann auch; der Knecht sei schon einberufen, und ihre zwei Söhne, ihre einzigen Kinder, auch. Die Tränen traten ihr in die Augen. Bekümmert verließ Frau Lißmann das Haus. Karl hatte inzwischen den Ausruf des Kaisers gelesen, mit der begeisterten Aufforderung, in den Krieg zu ziehen, der dem Vaterland aufgezwungen war. Und unter dem Ausruf war ein Telegramm angeschlagen, das besagte, daß auch Deutschland, als treuer Bundesgenosse Österreichs, seine ganze Heeresmacht mobil mache. Da fühlte der Junge, was das Großes bedeute; er spürte keine Lust mehr, spazieren zu gehen.
Nein, er begriff, daß der Mutter der Boden unter den Füßen brannte und daß sie unglücklich war, nicht heim zu können, wo man sie so nötig brauchte. Aber man mußte sich bis zum nächsten Morgen gedulden. Die Koffer wurden gepackt und alles zur Abreise gerichtet – daran sollte es wenigstens nicht fehlen! Dann kam die Nacht. Sie brachte doch den Müden Schlaf; sie konnten sich ihm ja auch ruhig überlassen, wenn doch vor neun Uhr keine Möglichkeit war, fortzukommen.
Aber um fünf Uhr morgens klopfte die Hausfrau. Die Wirtin schicke her; ihr Mann müsse Burschen zum Frühzug fahren, im Leiterwagen; wenn sie aufsitzen wollten, es wäre noch Platz. Aber sie müßten gleich kommen, es sei schon angespannt.
Keinen Augenblick besann sich Frau Lißmann. „Jawohl, wir kommen, der Wirt soll doch ganz gewiß warten! Auf, auf, Kinder! Nicht waschen, nicht kämmen! Nur Kleider und Stiefel anziehen!“ Die Kinder fuhren aus den Betten und waren gleich munter. Sie lachten: Nicht waschen, nicht kämmen? So ein Befehl von der Mutter? Nur so vom Bett aus fort und mit Bauernburschen auf einen Leiterwagen!
Solch ein Abenteuer! Und wie die Mutter alles zusammenraffte und in die Reisetasche stopfte und wie sie sich alle den Mund verbrannten an der frisch abgekochten Milch, die die Bäurin schnell brachte! Und wie sie dann, noch mit dem Frühstücksbrot in der Hand, über die Dorfstraße dem Wirtshaus zuliefen und die Bäurin ihnen noch nachsprang mit Schwamm und Kamm, die sie vergessen hatten!
Als sie vor dem Wirtshaus ankamen, stand da der Leiterwagen, aus dem fünf Bauernburschen ihnen neugierig entgegen sahen und der Wirt saß schon oben, die Peitsche in der Hand, stieg aber noch einmal ab, als er sah, wie Frau Lißmann ratlos am Wagen stand und nicht wußte, wie man den erklettern mußte. Er half kräftig nach und so saßen sie bald alle drei nebeneinander auf quer herüber gelegtem Brett und die Fahrt ging los.
Mit viel Jauchzen und Winken, das aus allen Fenstern erwidert wurde, verließen die Burschen das Dörfchen. Sie waren aus benachbarten Höfen und Weilern zusammengekommen, lauter große, kräftige Leute; guten Muts fuhren sie hinaus in den Krieg.
Die Zeit drängte, die Pferde wurden tüchtig angetrieben und der Leiterwagen stieß, daß unsere drei leichten Städter, die noch nie in einem Wagen ohne Federn gefahren waren, ordentlich in die Höhe flogen und gar nicht wußten wie ihnen geschah. Lisbeth hielt sich krampfhaft fest an den Brettern. Sie hatte noch immer Schwamm und Kamm in der Hand und traute sich nicht loszulassen. Karl lachte und hatte seinen Spaß an dem „Hopsen“. Der Mutter war es weniger zum Lachen; das Stoßen tat ihr weh. Einer der Burschen mußte es ihr anmerken. Neben dem Wirt lag eine Pferdedecke, die langte er herunter. „Frau,“ sagte er, „da setzen Sie sich drauf und das kleine Fräulein auch.“
Sie nahmen es dankbar an und nun war Freundschaft geschlossen zwischen den Reisenden, ohne viel Worte, denn die holperige Fahrt machte das Verstehen schwer.
„Mein Sohn muß auch mit in den Krieg,“ sagte Frau Lißmann und sah die jungen Leute warmherzig an, als künftige Kriegskameraden ihres Sohnes.
„Muß er sich in Wien stellen?“
„Nein, wir sind Deutsche, aber wir halten ja mit den Österreichern.“
„Wohl, wohl; gegen den Russen und den Franzos. Das gibt Arbeit! Ein Volk allein könnt’s nicht ausrichten, aber Deutschland und Österreich zusammen, die können’s machen!“
Auf der Straße sah man einen Burschen mit dem Militärkoffer in der Hand. Vom Wagen aus wurde er angerufen: „Steig ein, Kamerad!“ Der Wirt murrte: „Sind so schon genug!“ Aber er fuhr doch langsamer und mit einem Satz sprang der Soldat auf; sie rückten kameradschaftlich zusammen und nun ging’s weiter im Galopp; denn der Wirt sah manchmal bedenklich auf seine Uhr, ob es wohl noch bis zum Zugabgang reichen würde. Als endlich die Stadt sichtbar wurde und der Leiterwagen über das Straßenpflaster holperte, stimmten die künftigen Krieger ein Soldatenlied an, wodurch die Leute an ihre Fenster gelockt wurden und mit lauten Zurufen und Winken grüßten. Unsere drei Reisenden winkten ebenso eifrig, man hielt sie natürlich für die Angehörigen dieser Burschen, so galten auch ihnen die Grüße.
Das Aussteigen war wieder ein Kunststück, aber die Burschen kannten sich jetzt schon aus und einer, der ein besonders großer, stämmiger Kerl war, hob ohne weiteres zuerst die Kinder, dann die Mutter herunter, die sich ganz elend und zerschlagen fühlte von dieser Fahrt im Leiterwagen. Aber sie achtete nicht darauf; wenn es nur nicht zu spät war!
Ein furchtbares Getriebe war am Bahnhof; eine Menschenmenge drängte sich an den Schalter, wie es diese kleine Stadt vielleicht noch nie erlebt hatte; zum Teil waren es Einberufene, zum größeren Teil aber Sommerfrischler, die alle des Krieges wegen heimreisen wollten. Mitten in das Drängen und Drücken der Leute, die fürchteten zu spät zu kommen, klang jetzt der Ruf eines Bahnbeamten: „Nichts zu eilen, der Zug hat drei Stunden Verspätung!“
Das war eine Nachricht! Allgemeiner Schrecken und Entrüstung! „Nun, das geht gut an! Ja, da erreicht man ja den Schnellzug nicht mehr! Ist das ein Unfug, eine Rücksichtslosigkeit!“ Da erhob ein älterer Herr mitten im Gedränge den Arm, man sah unwillkürlich auf ihn und da das Murren etwas verstummte, sprach er mit ernster Stimme: „Meine Herren, das ist kein Unfug, das ist der Krieg. Wir werden noch ganz andere Dinge erleben müssen als das!“
Da schwiegen die Leute und ergaben sich; holten sich ruhig nach einander die Karten und suchten sich da und dort ein Plätzchen zum Ausruhen, eine Gelegenheit zur Stärkung, eine Zeitung mit neuen Nachrichten. Sie zerstreuten sich, aber es zog sie doch alle bald wieder an die Bahn. Jeder ahnte, daß es schwierig sein würde, im Zug Platz zu bekommen. Auch Frau Lißmann stand bald wieder mit ihren Kindern im dichten Gedränge. In ihrer Nähe bemerkte sie die Gruppe der jungen Leute, mit denen sie gefahren war, und es überkam sie das Verlangen, diesen ins Feld ziehenden Burschen noch eine Freundlichkeit zu erweisen. Welch‘ schweren Zeiten mochten sie entgegen gehen! Ihr junges, gesundes Leben mußten sie einsetzen fürs Vaterland. Hätte sie doch früher daran gedacht, wenigstens ein paar Zigarren zu kaufen! Sie sagte es den Kindern. Die nahmen den Gedanken eifrig auf.
„Mutter, es dauert ja noch eine Viertelstunde, wir haben noch Zeit!
Draußen, am Obststand, waren auch Zigarren zu kaufen!“ Sie drängten, baten um das Geld, wollten durchaus noch einkaufen. Da gab die Mutter nach. Es war schwierig, gegen den Strom der Menschen nach rückwärts zu drängen. Mit Mühe schoben sie sich durch und erwarben die Zigarren. Aber dann gelang es ihnen nicht mehr, ihren früheren Platz in der Nähe der Burschen zu erobern; andere hatten sich vorgedrängt.
„Allein käme ich schon durch“, versicherte Karl.
„So nimm die Zigarren, gib sie ab und sage einen Gruß; wir wünschten ihnen von Herzen Glück in den Krieg!“ Der Knabe schlängelte sich geschickt zwischen den Leuten zu den Burschen hindurch. Die Mutter sah von ferne, wie sie überrascht waren und einer nach dem andern dem jungen Überbringer freundlich dankte. Der fand sich auch glücklich wieder zurück und sie freuten sich zusammen über die kleine Liebesgabe, die sie übergeben hatten. Es war vielleicht eine der ersten von den Tausenden, ja Millionen, die im Laufe des Krieges gespendet wurden.
Endlich – es war heiße Mittagszeit geworden – kam der Zug an! Aus allen Fenstern johlten Burschen denen entgegen, die am Bahnhof standen und ein unbeschreiblicher Lärm, ein beängstigendes Drängen entstand. Die Wagen wurden von den Männern gestürmt, Frauen und Kinder blieben zurück, und wo sie hinein wollten, hieß es: „Voll, übervoll!“
Die Beamten trösteten: „In drei Stunden kommt wieder ein Zug.“
Aber wer wollte noch einmal warten, und wer wußte, ob es dann mehr Platz gäbe? Frau Lißmann mit den Kindern lief hin und her, überall standen die Leute bis an die Trittbretter und wollten niemand mehr einlassen. Da plötzlich hörte sie eine Stimme: „Nur herein, es geht schon noch!“ Ein starker Arm streckte sich ihr entgegen und ehe sie wußte, wie es zugegangen, stand sie mit den Kindern eingekeilt in dem schmalen Gang eines Wagens dritter Klasse, obwohl sie Karten zweiter Klasse gelöst hatte. Der Zug fuhr ab, eine Menge verzweifelter Leute zurück lassend.
„Gottlob!“ rief Frau Lißmann, sie zitterte noch vor Erregung. „Wo ist denn mein Hut?“ fragte Karl, „man hat ihn mir vom Kopf gerissen!“ „Macht nichts,“ tröstete die Mutter, „das ist der Krieg, hat der Herr gesagt. Gottlob, daß wir alle drei im Zuge sind. Irgendjemand hat uns geholfen, sonst wären wir nicht herein gekommen.“
„Das war ja der große Soldat, der uns aus dem Leiterwagen gehoben hat, hast du ihn denn nicht erkannt, Mutter?“
„Nein, ich habe nur einen Arm gesehen, der sich nach uns ausgestreckt hat. Ich konnte ihm auch gar nicht dafür danken.“
Ein Mitreisender hatte das Gespräch gehört, er mischte sich ein: „Da ist nichts zu danken. Sie sind Deutsche, wir sind Österreicher; wir sind Verbündete und helfen einander. Ich werde Ihnen jetzt einen Sitzplatz schaffen“ und er nahm seinen Handkoffer und stellte ihn auf den Boden des Ganges. „So, nun nehmen Sie Platz,“ sagte er freundlich. „Für das Töchterl bleibt auch noch ein Eckerl und der Bub, der will doch auch einmal Soldat werden, der übt sich einstweilen im Stehen.“
Langsam fuhr der überfüllte Zug. An jeder Station gab es längeren Aufenthalt; eine Menge Einberufene drängten noch herein und immer wurden sie mit fröhlichen, heiteren Zurufen begrüßt. Ein Wiener Zug, schon voll eingekleideter Soldaten, die ins Feld zogen, fuhr vorbei. Aus den Güterwagen schauten die Burschen Kopf an Kopf, ihnen wurde besonders lebhaft zugejubelt. Allerlei Aufschriften, mit Kreide an den Wagen angeschrieben, bezeugten die fröhliche Stimmung der Krieger. An einem war zu lesen:
Serbien Du mußt sterbien!Und unter dem Briefschalter des Postwagens stand: ‚Hier werden noch Kriegserklärungen angenommen.‘ Unter Lachen und lautem „Heil, Heil“ rufen, fuhr man an dem Zug vorüber.
So verging Stunde um Stunde; immer dumpfer und drückender wurde es in dem Wagen. Ein kleines Kind schrie unablässig; seine blasse Mutter entschuldigte sich: sie kam schon aus Italien, fuhr seit zwei Tagen ununterbrochen. Einer Frau wurde es schlecht; ein Bub stieß des Vaters volles Bierglas um, das zum Fenster herein gereicht worden war; klebrig und übelriechend wurde der Boden. Aber niemand klagte – es war ja Krieg – man mußte sich in alles fügen, mußte froh sein, daß man überhaupt noch fahren durfte; vom nächsten Tag an wurden nur noch Soldaten befördert.
Gegen Abend kam man an die Grenzstation: Zoll, neuer Sturm auf einen ebenso überfüllten Zug. Wie ein Traum erschien es Frau Lißmann, als sie endlich spät abends in den Münchner Bahnhof einfuhren. Eingekeilt in die Menge ließen sich unsere müden Reisenden vom Strom treiben, dem Ausgang zu. Nicht wie sonst warteten hier die Angehörigen; der Zutritt war für jedermann gesperrt. Umso dichter stand die Menge an den Ausgangstoren des Bahnhofgebäudes und hier war es, wo plötzlich eine Stimme, eine liebe, bekannte, fröhliche Stimme rief: „Mutter, grüß dich Gott, endlich kommt ihr! Gebt nur euer Gepäck her! Hergeben, Lisbeth, ich trage alles! Nur her, Karl!“
„Philipp!“ riefen sie alle erstaunt, „ja woher hast du denn gewußt, daß wir jetzt kommen?“
„Einmal habt ihr doch kommen müssen! Siebenmal habe ich euch schon erwartet, vorgestern, gestern und heute; ganz heimisch bin ich geworden am Bahnhof. Warum seid ihr so spät gekommen, habt ihr meinen Brief nicht erhalten?“
„Nein, keinen Brief, auch nicht vom Vater.“
„Der Vater kommt morgen. Hat telegraphiert. Auch Ludwig kommt morgen. Das wird sein, wenn wir erst alle beisammen sind, Mutter. Jetzt kommt nur heim, ihr seht gar nicht aus, als ob ihr aus der Sommerfrische kämt. Aber daheim ist schon der Tisch für euch gedeckt. Nämlich schon seit zwei Tagen.“
„Wie bist du denn ins Haus gekommen, es ist doch alles gesperrt?“
„Es gibt ja Schlosser! Ich habe dir alles geschrieben, Mutter, aber es scheint, die Briefe gehen nicht mehr nach Österreich. Die ganze Haushaltung habe ich in Gang gebracht, die Kathi herbeigeholt, ihr werdet staunen. Dürft euch nur aufs Sofa setzen und es euch wohl sein lassen.“
Ja, es wurde ihnen jetzt schon wohl bei der freundlichen Aussicht. „Aber weißt du, daß Krieg ist?“ fragte Karl. Philipp lachte hell auf. „Besser als du. Wißt ihr schon das Neueste? England hat uns den Krieg erklärt!“
Die Mutter blieb mitten auf der Straße stehen: „England! Kinder, das ist ja schrecklich! England auch! England mit den Slaven gegen uns? Ist es denn amtlich mitgeteilt?“
„Amtlich, an allen Ecken kannst du das Telegramm lesen. Aber Mutter, nur keine Angst, du wirst sehen, wir werden mit allen fertig. Aber wir müssen auch alle zusammenhelfen. Jetzt heißes: Alle Mann auf Deck! Du hast also meinen Brief nicht bekommen? Ich habe dir geschrieben, Mutter, daß ich mich als Freiwilliger gemeldet habe.“
Wieder stand die Mutter vor Schrecken still: „Philipp, du mit deinen siebzehn Jahren!“
„Mit siebzehn wird man angenommen. Mutter, du warst nicht da und der Vater nicht, da habe ich nicht lange fragen können. Ich habe mich gemeldet, gleich wie ich hier angekommen bin. Und, Mutter, denke nur, ich sei der erste, der sich hier gemeldet hat als Freiwilliger, sagte der Kommandeur. Er war sehr freundlich, es hat ihn sichtlich gefreut.“
„Aber er muß doch nach der Eltern Erlaubnis gefragt haben?“
„Freilich, das hat er getan. Ich habe gesagt: Der Vater ist in Paris, die Mutter in Österreich, da kann ich natürlich nicht warten, bis sie heimkommen. Ich bringe aber den Erlaubnisschein, sobald sie da sind. Das war ihm recht. Dann fragte er nach dem ärztlichen Zeugnis. Das habe ich mir auch einstweilen verschafft. Auch einen Kriegskoffer, wie man ihn so braucht, habe ich gekauft. Ich habe nicht mehr warten können, sie gehen reißend ab, sind schon kaum mehr zu haben.“
„Aber Philipp, alles ohne unsere Zustimmung!“
Bei diesem Vorwurf traten aber beide Geschwister auf einmal für den Bruder ein. „Er hat doch geschrieben, wir haben nur keine Briefe mehr bekommen!“
Philipp aber griff nach der Mutter Hand, seine Worte klangen jetzt ruhiger, ernster, als es sonst seine Art gewesen: „Mutter, es ist eben Krieg! Und was für ein Krieg! Da leidet es keinen zu Haus, der kämpfen kann. Der Vater wird’s begreifen, Ludwig auch!“
„Ich auch“, „und ich“, riefen die Geschwister. Die Mutter schwieg einen Augenblick, dann sagte sie nachdenklich: „Die Engländer auch – eine Welt von Feinden! Philipp, ich will dich nicht zurückhalten!“
* * * * *
Eine Weile später saßen sie beisammen am gedeckten Tisch. Die Mutter sah Philipp nach, der hin und her ging und für die erschöpften Reisenden in liebevollster Weise sorgte. Ihr Philipp, ihr unnützer Schlingel; nein, ihr Philipp, der künftige Soldat, der sein Leben geben wollte fürs Vaterland; der zum Mann wurde durch den Krieg!
Der 4. August
Die Mutter und ich sind schon seit drei Wochen auf dem Landgut der Großeltern. Der Vater hat uns hieher begleitet, mußte aber gleich wieder abreisen. Wir sollen wegen der Mutter Gesundheit über die ganzen Ferien hier bleiben.
Es ist herrlich hier bei den Großeltern. Die Großmutter hat mir ein reizendes Mädchenstübchen eingerichtet und der Großvater, der im siebziger Krieg als Offizier dabei war, erzählt uns viel und kann alle Kriegsnachrichten fein erklären. Aber noch lieber hätten die Mutter und ich doch diese Kriegszeit mit dem Vater erlebt und darum waren wir ganz überglücklich, als er uns neulich telegraphierte, er würde uns auf der Heimreise von Berlin besuchen. Heute ist er wieder abgereist, aber wir sind noch ganz erfüllt von seinem Besuch und ich will mir alles ausschreiben, was er uns erzählt hat; ich möchte garnichts davon vergessen; denn ich bin stolz und glücklich, daß der Vater so Großes miterlebt hat, und während er uns erzählte, kamen mir vor Begeisterung fast Tränen.
Der Vater kam also von Berlin; denn der Reichstag war wegen des Krieges zu einer außergewöhnlichen, ganz kurzen Tagung einberufen. Schon das Wiedersehen mit all den Reichstagsabgeordneten muß ganz anders gewesen sein als in gewöhnlichen Zeiten. Der Vater sagt, jedem habe man angesehen, daß er die Wichtigkeit dieser Tage empfinde. Fast vollzählig waren sie da, aber doch nicht „ganz“, weil einige schon zu ihrem Regiment einberufen waren.
Um ein Uhr, glaube ich, war die feierliche Eröffnung im Weißen Saal des königlichen Schlosses. Der Reichskanzler, die Mitglieder vom Bundesrat, Generale und andere Offiziere und die Reichstagsabgeordneten versammelten sich. Die Kaiserin, die Kronprinzessin und die Prinzessin Eitel Friedrich saßen in der Hofloge. Das war, glaube ich, alles nicht viel anders, als es jedesmal bei der Eröffnung des Reichstags ist. Aber das war dann anders, und der Vater sagt, das mahnte gleich so ernst an den Krieg, daß der Kaiser in der grauen, feldmarschmäßigen Uniform erschien und auch der Kronprinz und die fünf andern Prinzen, alle in Felduniform. Der Kaiser schritt die Stufen des Thrones hinauf, bedeckte sein Haupt mit dem Helm und las die Thronrede, laut, mit tief bewegter Stimme. Er rief die Welt zum Zeugen auf, daß wir durch Jahrzehnte unermüdlich bestrebt waren, den Frieden zu erhalten und daß nur mit schwerem Herzen der Befehl zu mobilisieren ergangen sei. Dann sprach er von unserer Bundestreue gegen Österreich und von der Feindschaft im Osten und Westen, und der Vater sagt, man fühlte bei dem begeisterten, stürmischen Beifall, wie sehr er all den Anwesenden aus dem Herzen kam. Am Schluß bat der Kaiser, der Reichstag möchte doch einmütig und schnell die nötigen Beschlüsse fassen.
Nach dem Vorlesen der Thronrede geschah etwas ganz Ungewöhnliches: der Kaiser sprach noch frei einige persönliche Worte. Davon habe ich mir das gemerkt, was mir besonders gut gefiel, er sagte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Und dann bat er die Vorstände der Parteien, ihm in die Hand zu geloben, daß sie mit ihm durch dick und dünn, durch Not und Tod zusammen halten wollten.
Da traten die Präsidenten und die Parteivorstände, zu denen ja auch der Vater gehört, vor, und gelobten es durch Händedruck. Ich weiß nicht, ob der Vater dadurch dem Kaiser noch treuer gesinnt ist, als er schon vorher war, aber ich bin’s, das kann ich für ganz gewiß sagen.
Und ich begreife so gut, daß alle Anwesenden nach dem „Hoch“ auf den Kaiser, das sonst immer das letzte war, diesmal die Nationalhymne angestimmt haben und alle mitsangen. Ich möchte nur gerne wissen, wer den ersten Ton angestimmt hat, aber der Vater weiß es nicht; er sagt, man hatte den Eindruck, als hätten es alle zugleich getan.
Die Sozialdemokraten waren ja bei dieser ganzen Feier nicht dabei; das ist schade; aber später waren sie sehr nett, das kommt nachher. Vorher muß ich noch was Lustiges erzählen.
Als nämlich die Feierlichkeit vorbei war und die Hymne gesungen, verließ der Kaiser den Saal. Im Vorbeigehen gab er noch einigen der Herrn, wie z.B. dem Reichskanzler, dem Grafen Moltke und andern die Hand. Unter diesen Herrn war auch ein Abgeordneter, ein Professor, der trug nicht wie die Mehrzahl der Abgeordneten den schwarzen Gehrock oder den Frack, sondern wie manche andere seine Uniform, ich glaube als Major der Garde-Landwehr. Das fiel wohl dem Kaiser auf; er sah ihn einen Augenblick an, drückte ihm die Hand und dann machte er mit der geballten Faust eine drohende Gebärde wie einen Hieb nach unten und sagte zu dem Herrn: „Nun aber wollen wir sie dreschen!“
Dies kräftige Wort hat ganz Deutschland so gefreut, daß es zur Losung für den Krieg geworden ist und auf allen möglichen Postkarten sieht man, wie wir uns das „Dreschen“ ausmalen können.
Nachmittags um drei Uhr war dann die erste Reichstagssitzung. Schon gleich der Anfang war großartig. Von all den umständlichen Vorbereitungen, die sonst immer die ersten Stunden des Reichstags so unerquicklich ausfüllen, wollten die Abgeordneten diesmal gar nichts wissen. Kein Namensaufruf, keine Neuwahl von Präsident und Schriftführern. Das war ihnen jetzt alles Nebensache. Einmütig standen die Abgeordneten aller Parteien auf zum Zeichen, daß ihnen der frühere Präsident und seine Mitarbeiter recht seien. Dann erhob sich der Reichskanzler. Der Vater sagt, es sei bei seinen ersten Worten im ganzen Haus eine Stille eingetreten, die man nicht mit einem lauten Atemzug hätte stören mögen. Die ersten Worte des Reichskanzlers waren: „Ein gewaltiges Schicksal bricht über Europa herein.“ Dann legte er dar, wie es nur durch die Schuld unserer Feinde zum Krieg gekommen sei. Wie die Russen sich so heimtückisch benommen hätten und wie die Franzosen ohne Kriegserklärung in die Reichslande eingedrungen seien, so daß wir nicht länger zuwarten konnten und nach Belgien hinein mußten, weil uns sonst die Franzosen von dieser Seite angegriffen hätten. Wir könnten mit reinem Gewissen in den Krieg ziehen, in dem wir unser Höchstes verteidigen müssen.
Im Lauf der Rede gab es immer mehr begeisterte Zurufe. Ganz hinreißend sei der Schluß gewesen, als der Reichskanzler mit erhobener Stimme rief:
„Unsere Armee steht im Felde, unsere Flotte ist kampfbereit, hinter ihr ist das ganze deutsche Volk!“ Da brauste es durch den großen Saal und von den dicht gefüllten Tribünen; der Beifall wollte garnicht enden und der Reichskanzler wiederholte noch einmal die Worte: „das „ganze“ deutsche Volk!“ Dabei machte er eine Handbewegung, mit der er über die Sozialdemokraten hinwies, die ebenso stürmisch Beifall riefen, wie alle andern Parteien.
Bei der zweiten Sitzung, die noch am Abend gehalten wurde, ging’s ebenso großartig zu. Ich weiß aber nur noch das eine, daß alles, was die Regierung beantragt hatte, einmütig ohne irgend einen Widerspruch durchging; so z.B. wurden gleich 5 Milliarden für die Kriegsausgaben bewilligt. Das ist doch eine Riesensumme, aber keine Partei, nicht einmal die Sozialdemokraten, erhoben irgendeinen Widerspruch; im Gegenteil, einer der Sozialdemokraten, der Abgeordnete Haase, sagte:
„Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich.“ Das freute mich am allermeisten. Am Schluß der Sitzung dankte der Reichskanzler im Namen des Kaisers dem Reichstag und es gab noch einmal einen stürmischen Beifall, als er sagte. „Was uns beschieden sein mag, der „4. August 1914“ wird bis in alle Ewigkeit einer der größten Tage Deutschlands sein.“
Der Vater war selbst ganz bewegt, als er uns von diesem Tag erzählte. Er sagte, den größten Sieg hätten wir schon errungen, den über unsere eigene Uneinigkeit; jetzt könnten wir guter Zuversicht sein. Der Kaiser hat es ja auch in dem Ausruf: „An mein Volk“ gesagt: „Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war.“
Die Eltern sprachen dann noch davon, wie sich all unsere Feinde ärgern werden, wenn sie in den Zeitungen die Berichte über diesen Reichstag lesen. Sie rechnen immer auf unsere Uneinigkeit, das haben sie schon im Jahr 1870 getan. Aber sie verrechnen sich. Wir sind einig gegen sie; wir streiten nur untereinander, wenn es nach außen nichts zu streiten gibt, und das finde ich ganz natürlich.
Der Vater ist noch ein paar Tage in Berlin geblieben, er hatte noch einige Besprechungen, über die er aber nichts mitteilen darf. In diese Tage fiel die Kriegserklärung der Engländer. Diese taten, als müßten sie Belgien schützen und leider deshalb in den Krieg ziehen.
Aber der Vater sagt, man hätte gleich gewußt, daß das nur ein Vorwand sei und England habe sich durch diese Ausrede nur verächtlich gemacht. Es sei eine große Schande, daß sie sich mit den Russen verbünden und sie würden dieses Unrecht schwer büßen müssen.
Für den Vater gibt es jetzt vermehrte Arbeit und wir werden ihn nicht viel für uns haben, wenn wir heimkommen. Aber die Mutter kann ihm wenigstens manches helfen, manches schreiben, was er den Schreibern nicht gern anvertraut.
Wenn ich nur schon 18 Jahre alt wäre statt 13, dann würde ich vielleicht auch in manches eingeweiht. Stattdessen muß ich in die Schule gehen, als wenn kein Krieg wäre. Die Mutter versteht, daß ich keine Lust dazu habe; als ich es aber vor dem Vater sagte, kam ich nicht gut an. Er sah erstaunt auf mich und sagte: „Ich hoffe doch von meinem Mädel, daß es dasselbe tut, wie unsere Soldaten!“ Ich verstand nicht gleich, was er damit meinte, bis er sagte: „Die Soldaten tun ihre Pflicht; mancher tut sogar noch mehr. Wenn du in diesem Schuljahr noch mehr lernen willst, als nur das Nötige, so soll es mich freuen.“
Da schwieg ich über die Schule. Es ist ja auch einerlei; denn ob man zu Hause ist, oder in der Schule, bei den Großeltern auf dem Land oder bei den Eltern in der Stadt, man denkt doch an gar nichts anderes, als an den Krieg und man hat keinen andern Wunsch, als daß wir Deutsche siegen!
Das Pfarrhaus in Ostpreußen.
In Ostpreußen waren die Russen eingebrochen. Das herrliche, blühende Land, das an das riesige russische Reich grenzt, mußte den ersten Anprall der Feinde aushalten. Wohl kämpften die todesmutigen preußischen Grenadiere gegen den eindringenden Feind und hinderten ihn, weiter nach Deutschland vorzurücken; aber Ostpreußen war der Kampfplatz und ehe das Volk nur recht wußte, daß der Krieg erklärt sei, begann schon die Verwüstung des Landes. Ein Teil der Bewohner war noch rechtzeitig geflohen, aber wer Haus und Hof, Äcker und Vieh besitzt, verläßt nicht so leicht die Heimat.
Da lag ein Pfarrdorf friedlich in fruchtbarer Gegend. Mit Entsetzen hörten die Einwohner von der nahen Gefahr, aber sie flohen nicht. „Wir können nicht,“ sagten sie zueinander, „wie sollten wir das machen? Wohin? Wovon sollen wir uns ernähren? Was mit den Kranken anfangen, und wo das Vieh unterbringen? Nein, es geht nicht.“
Vom Nachbarort hatte man freilich gehört, daß viele Familien geflüchtet waren, auch der Pfarrer.
„Unser Pfarrer wird auch gehen“, sagten sie zu einander, „er hat seine Mutter in Danzig. Dorthin wird er seine Frau und seine Kinder bringen; da sind sie gut aufgehoben und bekommen ihr Brot umsonst. Wir wollen ins Pfarrhaus gehen und hören, was der Herr Pfarrer meint.“
Der Pfarrer saß am Schreibtisch und hatte die Zeitung aufschlagen vor sich. Seine junge Frau lehnte neben ihm und sah zugleich in das Blatt, aus dem er ihr die Kriegsnachrichten vorlas. Jetzt wurden Schritte laut vor dem Studierzimmer. Die Pfarrfrau öffnete die Türe. Eine ganze Anzahl Männer und Frauen standen da. Sie sagten, daß sie des Herrn Pfarrers Meinung hören wollten, ob man fliehen sollte.
Der Pfarrer riet zur Flucht: „Morgen schon können die Feinde hier sein“, sagte er, „und wir wissen ja, wie sie hausen. Wir Männer sind unseres Lebens nicht sicher, Frauen und Kinder sind ihren Schandtaten preisgegeben. Jetzt können wir noch flüchten; die Landsleute in Westpreußen und in der Mark werden uns barmherzig aufnehmen, das bin ich überzeugt.“
„Also wollen Sie gehen, Herr Pfarrer?“
„Wenn ihr geht, ja.“
„Und wenn wir nicht gehen?“
„Dann werde ich bei euch bleiben.“
Einer sah den andern an, sie waren still und überlegten. Die Pfarrfrau, die neben ihrem Manne stand, hatte noch kein Wort gesprochen; aber jetzt unterbrach sie das Schweigen und sagte fast bittend mit erregter Stimme:
„Warum wollt ihr denn nicht fort? Ihr könnt ja doch Haus und Hof nicht schützen, rettet doch wenigstens das Leben! Ach wir wollen fliehen, gleich heute, sonst ist es zu spät!“
Da wandte einer der Bauern sich an sie: „Frau Pfarrer, ich glaube es nicht, daß die Russen hier durchkommen; unser Ort liegt nicht an der großen Straße; die Russen wollen doch auf Berlin marschieren, nach Sudehnen werden sie schwerlich kommen. Wenn wir unsere Heimat verlassen, dann geht sie uns verloren, denn allerhand Raubgesindel treibt sich herum in solcher Zeit. Und in der Fremde werden wir alle ins bitterste Elend kommen. Ich meine, wir sollten bleiben.“
Die Andern stimmten zu. Die Pfarrfrau erblaßte. Wohl legte ihr Mann den Leuten noch mit der Landkarte in der Hand die Gefahr dar, aber sie fühlte: es ist umsonst, was er redet, sie können sich nicht trennen von ihrer Heimat.
So kam es auch; die Leute verabschiedeten sich: „Wir danken auch, daß Sie bei uns bleiben, Herr Pfarrer.“
Sie gingen hinaus durch den Pfarrgarten. Dort spielten noch die Kinder der Pfarrleute. Der Kleine saß in der Schaukel, das fünfjährige Fickchen kam zutraulich heran, sie kannte fast alle die Leute. Im Fortgehen deutete einer der Männer auf die Kinder: „Die haben wir auf dem Gewissen, wenn sie in die Hände der Kosaken fallen. Was die Frau Pfarrer betrifft, die wäre gern geflohen.“–„Ja, und der Herr Pfarrer war auch dafür.“
„Kein Wunder; den Herrn Pfarrer Amelung aus Tenlauken sollen die Kosaken erstochen haben, weil er ihnen nicht sagen konnte oder mochte, wo die deutschen Truppen stehen.“
Mit schwerem Herzen gingen sie heim; zur Sorge kam noch die innere Unruhe, ob sie recht taten. Sie hatten den Pfarrer um Rat gefragt und dann doch beschlossen, gegen seinen Rat zu handeln. Die Leute hatten kaum das Studierzimmer verlassen, so zog der Pfarrer seine Frau an sich mit großer, innerer Bewegung: „Wir müssen uns trennen, Luise, du und die Kinder sollt in Sicherheit kommen.“
„O Johannes!“ rief sie, „warum hast du ihnen versprochen zu bleiben! Ich habe im stillen schon angefangen die Koffer zu packen, wir wollten doch zu deiner Mutter!“ Sie weinte bitterlich. Er drückte sie innig an sein Herz: „Du sollst auch zur Mutter, sollst fort mit den Kindern; nur ich kann nicht, unmöglich. Ich darf doch meine Gemeinde in dieser schweren Zeit nicht verlassen. Denke dich hinein! Sie hätten keinen Gottesdienst, keinen Zuspruch in Unglück, Krankheit und Todesnot. Keine Einsegnung auf dem Friedhof, wenn einer stirbt. Luise, denke an den Spruch: Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Ich will mein Amt treu verwalten; mache mir’s nicht schwer, jetzt, wo wir uns trennen müssen.“
„Trennen?“ sagte sie, „wenn du bleibst, bleiben auch wir. Du hast das rechte Wort gesagt. Sei getreu bis in den Tod. Auch ich bleibe bei dir bis in den Tod.“
Es gelang ihm nicht, sie zu überreden, daß sie sich mit den Kindern flüchtete. Von dieser Stunde an klang es immer in dem Herzen der Pfarrfrau: „Sei getreu bis in den Tod.“ Ruhig und mutig sah sie dem entgegen, was kommen sollte; die Angst war von ihr gewichen.
Ein Tag und eine Nacht waren vergangen und ein strahlend schöner Sonntag war angebrochen. Die Kirche füllte sich wie an einem hohen Festtag. Jeder wollte im Gotteshaus beten, jeder wollte die Predigt des Pfarrers hören, der treu bei seiner Gemeinde ausharrte. Nie hatte so stille Andacht die ganze Kirche erfüllt wie heute. Als nach dem Gottesdienst der Pfarrer im Talar dem nahen Pfarrhaus zuging, sah er von ferne eine Anzahl Leute von der Landstraße her auf das Dorf zurennen. Schon von weitem hörte man ihren Schreckensruf: „Die Kosaken kommen! Ein ganzer Trupp ist hinter uns her!“
Der Pfarrer eilte zu seiner Frau. „Luise, es wird ernst! Die Feinde kommen! Gott sei uns gnädig!“ Er wollte den Talar ablegen.
„Behalte ihn an,“ bat seine Frau, „vielleicht achten sie dies Gewand!“
„Meine gute, kluge Frau!“ rief er und drückte sie an sein Herz, „was wird nun über uns kommen?“
„Was sollen wir tun?“ fragte sie dagegen, „das Hoftor und die Haustüre schließen?“
„Das hat keinen Wert; sie schlagen die Türen ein und dringen dann schon in feindlicher Stimmung ins Haus. Nein, wir wollen sie wie Einquartierung behandeln, gutwillig geben, damit sie keine Gewalt brauchen. Trage auf, was du irgend Gutes im Haus hast und zeige keine Furcht.“ Er rief seinen beiden Kleinen, die noch ahnungslos im Nebenzimmer spielten: „Kinder, es kommen Soldaten ins Dorf, wahrscheinlich kommen auch welche zu uns zum Mittagessen.“
„Keine Feinde, gelt Vater?“ sagte Fickchen, als es des Vaters ruhige Worte hörte.
„Hungrige Soldaten,“ erwiderte dieser ausweichend. „Hilf der Mutter den Tisch decken, Stühle herbei tragen; so ist’s recht, meine Kleine.“
Die Pfarrfrau breitete ein frisches Tafeltuch auf und richtete den Tisch wie für Gäste. In diesem Augenblick kam aus der Küche Maruschka, das Mädchen, totenblaß herein; sie hatte vom Fenster aus in der Ferne russische Reiter traben sehen und konnte vor Schreck kaum stammeln.
„Still, Maruschka, still; wir bekommen wahrscheinlich Einquartierung.
Sieh, daß das Essen recht gut ausfällt. Man muß den hungrigen Soldaten
gut zu essen und zu trinken geben. Geh in die Küche, ich komme gleich nach.“
„Ei, Mutti,“ sagte Fickchen, „ich glaube, Maruschka ist bange vor den Soldaten. Ich gar nicht, ich habe gern Einquartierung.“
Eine Weile herrschte tiefe Stille im Ort; kein Mensch wagte sich auf die Straßen, alle verkrochen sich in Todesangst in ihre Häuser.
Dann plötzlich hörte man von ferne Pferdegetrabe, hörte ein Signal, die Kosaken hielten im Dorf. Ihr Anführer ließ in deutscher Sprache ausrufen, daß keiner der Einwohner den Ort verlassen dürfe. Bei Todesstrafe sei es verboten, durch Signale, durch Glockenläuten oder sonst auf irgend eine Weise die Anwesenheit der Kosaken zu verraten. Nach dieser Androhung stiegen sie vom Pferd und zerstreuten sich im Ort.
Es dauerte nicht lange, so hatten sie das schöne Pfarrhaus, obwohl es abseits lag, entdeckt. Ein Trupp von vier Mann kam mißtrauisch um sich schauend durch den Garten auf die Haustüre zu; voran einer, der der Anführer zu sein schien. Der Pfarrer kam ihnen zuvor und machte die Türe weit auf. Als seine große Gestalt im langen, schwarzen Talar plötzlich vor ihnen auftauchte, stutzten die Kosaken einen Augenblick. Der Pfarrer machte eine einladende Handbewegung und sagte ruhig und furchtlos in russischer Sprache: „Kommt herein, der Tisch ist schon für euch gedeckt!“
Sie folgten ihm. Es war ein freundlicher Anblick, dieses Wohnzimmer mit dem großen weißgedeckten Eßtisch. Die Kosaken mochten in solchem Raum noch nicht oft gewesen sein. Eine Christusfigur an der Wand, die Hände segnend ausgebreitet, schien die Eintretenden willkommen zu heißen. Die Frau des Pfarrers mit den Kindern stand gerade unter der Figur.
„Das ist meine Frau und meine Kinder,“ sagte der Pfarrer ruhig. Die beiden Kleinen traten zutraulich heran. „Meine Frau kann nicht russisch, aber sie kann gut kochen. Bringe du das Essen selbst auf den Tisch, Luise,“ fügte er in deutscher Sprache hinzu.
Neugierig sahen die Kinder zu, wie die Soldaten nun ihr Gepäck ablegten. Der eine warf das seinige auf das Sopha; da bedeutete ihm der Anführer, es auf den Boden zu legen. In der feinen Umgebung, bei der gastlichen Aufnahme, wollten sie auch nicht die rohen Kerle sein. Und nun trug die Pfarrfrau das Essen auf, die Kinder traten an den Tisch und falteten die Hände. Der Pfarrer sprach das Tischgebet, die Kosaken taten mit, sie waren ganz im Bann des Pfarrhausfriedens.
Was draußen in der Küche Maruschka zitternd und bebend zubereitet hatte, was sie aus dem Keller herausgeholt, das schmeckte den Kosaken aufs beste. Während des Essens besorgte Maruschka eifrig, was ihr die Pfarrfrau aufgetragen: die schönen Betten im Gastzimmer überzog sie mit frischer Wäsche. Nach Tisch geleitete der Pfarrer die müden Soldaten hinauf und lud sie ein, es sich behaglich zu machen. Die Pfarrleute atmeten erleichtert auf; der Pfarrer wagte den Talar abzulegen, seine Frau sorgte voraus für das Abendessen und hatte die gute Zuversicht, daß die Kosaken in den weichen Betten wohl bis zum Abend schlafen würden.
So kam es auch; aber nach dem Essen gingen die Soldaten fort und suchten ihre Kameraden im Wirtshaus auf. Dort war ein wüstes Treiben; das ganze Wirtshaus lag voll Kosaken, die aßen und tranken bis tief in die Nacht hinein, und zuletzt brach Streit aus. Der Wirt wollte den Kellerschlüssel nicht ausliefern, den die Kosaken verlangten. Er weigerte und wehrte sich; plötzlich zog einer der Soldaten die Pistole und schoß den Wirt nieder.
Noch in der Nacht kam die Nachricht von der Gewalttat ins Pfarrhaus und am frühen Morgen, während die Russen noch schliefen, schickte die Wirtin einen Buben zum Pfarrer, er möchte doch den Toten beerdigen, den die Soldaten nicht im Haus dulden wollten. Der Pfarrer ließ sagen, man möge das Grab richten, er werde den Toten beerdigen, aber es müsse in aller Stille und Heimlichkeit geschehen, um die Feinde nicht zu weiterer Gewalttat zu reizen.
Vom Dorf aus brachten vier Träger den Sarg mit dem Toten. Niemand als seine Frau und seine Kinder begleiteten ihn. Am Eingang des Friedhofs trat der Pfarrer zu ihnen und ging dem Zug voraus. Als sie durch das Tor des Friedhofs traten, wurde, wie es der Brauch war, das Friedhofglöcklein geläutet. Der Pfarrer blieb bestürzt stehen: „Wer läutet? Wißt ihr nicht, daß die Kosaken auch das Läuten bei Todesstrafe verboten haben?“
„Ach, Herr Pfarrer,“ sagte die Frau erschreckt, „es ist ja nur das Sterbeglöckchen! Ich habe den Meßner gebeten, daß er läutet. Das werden die Unmenschen doch erlauben. Mein Mann soll doch nicht ohne Geläute zu Grabe getragen werden.“
Der Pfarrer hörte kaum auf sie, er wandte sich an ihren ältesten Buben: „Spring zum Meßner! Er soll das Läuten sein lassen, es kann ihm das Leben kosten!“
Der kleine Leichenzug war am Grab; der Sarg wurde eingesegnet und versenkt. Aber in das Gebet, das der Pfarrer in tiefem Ernst über dem Grab sprach, drang von ferne wildes Geschrei. Die Kosaken waren beim ersten Glockenton vom Lager aufgefahren, sie hielten sich für verraten. Im Nu war ein ganzer Schwarm beisammen. Wütend stürmten ein paar von ihnen nach der Kirche. Der Glöckner wurde in einem Augenblick überwältigt und lag tot im Glockenturm. Nun suchten sie nach dem Pfarrer, denn der hatte gewiß das Zeichen zum Verrat gegeben. Sie drangen in den Friedhof ein, der hinter der Kirche lag. Beim Anblick der wilden Rotte liefen die Sargträger und die Wirtin mit ihren Kindern unter lautem Geschrei davon. Der Pfarrer allein blieb, das Kruzifix in der Hand, an dem noch offenen Grab stehen. Er deutete hinein. „Ich habe nur getan was meines Amtes ist,“ sagte er zu ihnen in ihrer Sprache, „das Läuten der Sterbeglocke geschah gegen meinen Willen.“ Da wechselten sie ein paar Worte mit einander und beschlossen, den Pfarrer gefesselt fortzuführen. Im Augenblick waren ihm die Hände auf den Rücken gebunden.
Dabei riß einer der Kosaken ihm das Kruzifix aus der Hand. „Versündige dich nicht,“ sagte der Pfarrer, „lege es dem Toten auf sein Grab,“ und der Kosak gehorchte seinem Gefangenen. Sie führten den Gefesselten durch das Dorf. Die Straßen waren leer, niemand traute sich hinaus, denn alle Bewohner waren in Todesangst. Aber hinter ihren Fenstern schauten sie auf die Straße und mit Entsetzen sahen es viele, wie ihr Pfarrer gefesselt auf den Platz vor dem Wirtshaus geführt wurde, auf dem sich die Kosaken sammelten.
Nur die Pfarrfrau wußte nichts von allem, was geschehen. Zwar über das Läuten war sie erschrocken; aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzusinnen. Ihre Kosaken, oben im Gastzimmer, waren auf einmal munter geworden; sie hörte sie lebhaft reden und eilte, Frühstück für sie zu bereiten. So früh hatte sie sie nicht erwartet. Und sie wollte sie doch wieder durch gastliche Behandlung in gute Stimmung versetzen. Eilig trug sie auf, hoffte auch jeden Augenblick, daß ihr Mann wieder vom Friedhof zurück käme.
Schwere Tritte kamen jetzt die Treppe herunter; sie mußte sich wohl darein finden, die Kosaken allein am Tisch zu haben; wenn sie nur ihre Sprache gekonnt hätte! Sie öffnete die Türe; aber die Soldaten schienen nicht vor zu haben, zum Frühstück zu kommen, sie gingen auf die Haustüre zu.
„Tee?“ fragte die Hausfrau und deutete auf das Zimmer. Durch die offene Türe war der einladende Teetisch zu sehen. Einen Augenblick zögerten bei diesem verlockenden Anblick die Kosaken und wechselten ein paar Worte; dann traten sie ein, setzten sich aber nicht, sondern schoben nur in Eile in ihre Taschen alles, was da stand an Brot und Speck, an Käs und Eiern, und verschwanden dann eiligst durch den Garten auf die Straße.
Sie konnte sich dies sonderbare Benehmen nicht erklären, ging hinauf in das Gastzimmer, um nachzusehen, ob die Kosaken wohl all ihr Gepäck mitgenommen hatten. Ja, das war so. Also mußten sie wohl heute früh schon wieder weiter ziehen? Waren vielleicht schon verspätet und deshalb so eilig? O Wonne, diese Gäste glücklich los zu sein!
Vom Gastzimmer aus konnte man hinüber blicken nach dem Friedhof. Der lag still und verlassen. Aber wo war dann nur ihr Mann? Wohin konnte er so früh gegangen sein? In das Trauerhaus zu der Wirtin? Mit dem Talar? Ja, vielleicht; in dieser Kriegszeit tat man manches, was vorher unmöglich schien.
Es war so ruhig im ganzen Haus und nach all den Aufregungen hatte diese Stille etwas Bedrückendes. Es fröstelte sie. Sie ging wieder hinunter in die Wohnstube. Ihr Blick fiel auf die große Teekanne. Ja, eine Tasse Tee würde ihr jetzt gut tun; und dann die Teekappe über die Kanne, daß der Tee schön heiß bliebe, bis ihr Mann endlich käme. So saß sie ganz allein an dem großen gedeckten Tisch und trank langsam, weil sie immer wartete auf ihren treuen Gefährten, der doch auch noch kein Frühstück hatte.
Jetzt endlich hörte sie Schritte, rasch kamen sie durch den Garten, durch die Flur; die Wohnzimmertüre ging auf – ihr Mann stand vor ihr.
„So, endlich!“ sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen, „jetzt komme nur gleich, der Tee wird kalt!“
Er aber war sprachlos. Er, der sich schon im Geist nach Sibirien transportiert gesehen hatte, er, der seine Frau in Jammer und Verzweiflung vorzufinden glaubte, fand sie ruhig am Teetisch mit der einzigen Sorge: der Tee würde kalt.
Sie sah jetzt seine Erregung. „Was ist denn geschehen?“ fragte sie ängstlich.
„Du weißt wohl von gar nichts?“
„Nein, wo warst du denn?“
„Nun, ich war in russischer Gefangenschaft! Freilich nur eine Viertelstunde; aber eine Viertelstunde, die ich nie vergessen werde. Gefesselt bin ich vom Friedhof herein geführt worden, ganz nahe an unserem Haus vorbei. Luise, wie mir da zu Mute war! Ich mag dir’s gönnen, daß du mich nicht gesehen hast! Sie haben das Läuten der Sterbeglocke für Verrat gehalten; dem Glöckner hat es das Leben gekostet, mich wollten sie fortschleppen. Sieh die roten Striemen an meinen Handgelenken! Aber du wirst ganz weiß, Luise; es ist nichts mehr zu fürchten. Du siehst ja, ich bin wieder frei, dank unserer Einquartierung. Unsere vier Leute sind für mich eingetreten, haben für mich gesprochen, bis man mich losgebunden hat. Und jetzt ist die ganze Horde abgezogen, Gott Lob und Dank!“
„Ja, Gott Lob und Dank!“ Die Pfarrfrau war so erschüttert, sie konnte sich gar nicht fassen. Freilich für diesmal war die Gefahr überstanden; aber noch heute konnten größere feindliche Heere das Land überfluten. Aus der Ferne hörte man noch Pferdegetrabe, die Kosaken waren abgezogen.
Und nun trauten sich die Leute wieder auf die Straße und wieder kamen sie in großer Menge ins Pfarrhaus; aber jetzt waren sie anders gesinnt. Sie wollten flüchten; alle waren einig, so schnell wie nur möglich; keinen zweiten Einfall wollten sie abwarten. Der Tod des Wirtes, des Glöckners, das Bild ihres gefesselten Pfarrers, das alles hatte ihnen einen Schreck eingeflößt, so daß es von Mund zu Mund ging:
„Nur fort, nur fort!“
Die Pfarrfrau packte ihre Koffer, das ganze Dorf trug seine Habseligkeiten zusammen, Wagen um Wagen wurden gefüllt, Kranke und Kinder auf Betten gelegt, ja auch Hunde, Kanarienvögel u. dgl. durften mit. Das Vieh wurde losgebunden und mitgetrieben.
Unterwegs stieß man auf Leidensgenossen, bei denen die Russen ganz anders gehaust und Greuel verübt hatten, bei deren Bericht man schauderte. Ein unabsehbarer Zug bewegte sich landeinwärts; ängstliche, bekümmerte Leute, die mit bitterem Schmerz ihre Heimat verließen und mit schwerer Sorge in die Zukunft sahen.
Als unsere Pfarrfamilie in Danzig ankam, sah sie Scharen von solchen geflohenen Familien. Eine endlose Flucht. Von Wagen erfüllte die Straßen und Plätze, ganze Herden heimatlosen Viehs stauten sich brüllend in den engen Straßen.
Aber es wurde Ordnung geschafft und mit rührender Nächstenliebe wurden in kurzer Zeit all die armen Flüchtlinge untergebracht, wurde Dach und Fach, Arbeit und Verdienst für sie geschafft.
Am besten hatten es freilich solche, die wie unser Pfarrer mit Frau und Kindern von der Mutter mit offenen Armen aufgenommen wurden. Aber auch sie trauerten um das schöne Land, das vom feindlichen Heer verwüstet wurde, und um die unglückseligen Opfer russischer Grausamkeit. Keiner konnte froh sein, wenn auch ihm selbst nichts abging; alle Deutschen Ostpreußens hatten ein gemeinsames Leid, eine gleiche Sehnsucht.
Und sie warteten Tag um Tag, Woche um Woche, ob die Heimat nicht aus der Hand der Feinde gerettet würde. Und der große Tag kam; der Retter Ostpreußens erschien: Generaloberst von Hindenburg, der die Russen bei Tannenburg und an den masurischen Seen besiegte und dadurch das Land wieder befreite. Was war das für ein Jubel im ganzen deutschen Vaterland!
Am Abend, da diese herrliche Nachricht durch ein Telegramm des Generalquartiermeisters von Stein bekannt worden war, gingen unser Pfarrer und seine Frau in jedes Haus, wo Leute aus ihrer Gemeinde untergebracht waren. Sie wollten sie selbst sehen, die armen Flüchtlinge, die nun mit leuchtenden Augen davon sprachen, daß sie bald wieder in die geliebte Heimat zurück könnten. Alles Schwere, alles Leid versank, jetzt galt nur die Siegesfreude und die Dankbarkeit gegen Gott, der dem Leid ein Ende gemacht.
Freilich, noch lange wird es dauern, bis alle wagen dürfen zurückzukehren, denn noch immer können sich feindliche Einfalle an der Grenze wiederholen. Inzwischen ist der Winter gekommen und bringt harte Not für die Flüchtlinge, die all ihr Hab und Gut verloren haben. Wir wollen an sie denken und ihnen Gaben schicken, wir alle, die wir so glücklich sind, weit weg vom Feind zu wohnen. Unsere Heimat blieb verschont, erbarmen wir uns der Heimatlosen!
Die Konservenbüchsen.
In der Mittagsstunde stand der Sattlermeister Krauß unter seiner Ladentüre und sah die Straße hinunter, immer nach einer und derselben Ecke. Offenbar erwartete er jemand von dorther. In dem Haus gegenüber sah eine Frau durchs Fenster, ebenso beharrlich nach derselben Ecke, und sie rief dem Nachbar zu: „Kommt sie noch nicht?“ – „Sie muß gleich kommen.“
Des Sattlers Buben spielten vor dem Haus; der größere von beiden sah aber nebenbei auch immer wieder die Straße hinunter. „Jetzt kommt sie!“ rief er und rannte davon. – Sie, nach der sich alles sehnte, war die Zeitungsausträgerin, eine dicke Frau, die so schnell watschelte, als sie es mit dem schweren Pack Zeitungen vermochte, den sie unter dem Arm trug. Sie war froh, daß ihr viele Blätter auf der Straße abgenommen wurden und sie sich manche Treppe ersparen konnte; heute besonders. Man hatte in der Stadt schon etwas von einem großen Sieg der Deutschen gehört und war gespannt, ob es auch gewiß wahr sei. Wer seine Zeitung glücklich in Händen hatte, las sie schon auf der Straße. Auch Georg, so schnell er mit dem Blatt auf den Vater zulief, las doch schon unterwegs, was mit großen Buchstaben über das ganze Blatt gedruckt stand und rief dem Vater zu: „Großer Sieg über die Russen, sechzigtausend Mann gefangen.“–„Wirklich? gib her, Georg!“ Der Vater verschwand im Laden, die Buben folgten ihm. Bald lag das Blatt auf dem Ladentisch, auch die Mutter lehnte sich darüber; der Vater las laut und alle freuten sich. Aber nun kam ein Offiziersbursche in den Laden, der brachte Riemenzeug, an dem etwas zu verbessern war, und die Zeitung mußte beiseite gelegt werden. Die Mutter ging an ihre Arbeit in der Küche, die Jungen folgten ihr. „Das hätte ich so gerne noch gehört,“ sagte Georg, „was der Vater eben angefangen hat zu lesen von den Konservenbüchsen.“–„Was für Büchsen sind denn das?“ fragte der kleine Hans.–„Blechbüchsen, in denen allerlei eingekocht ist, Obst, Gemüse und Fleisch, was die Soldaten im Krieg zum Essen nötig brauchen, wenn sie gerade nichts Frisches haben können. Der Vater wird schon nachher weiterlesen. Geh du einstweilen, Georg, und hole den Käs zum Vesper für den Vater und den Gesellen. Ein Viertelpfund, es darf auch um ein paar Pfennige mehr sein, wenn es ein schönes Stück ist. Ich gebe dir 35 statt 30 Pfennig mit.“
Georg ging mit dem Geld in die nächste Straße und verlangte in dem Warengeschäft ein Viertelpfund Käs. Ein Stück wurde abgeschnitten und gewogen. „Diesmal haben wir’s gerade erraten, ein Viertelpfund, 30 Pfennig,“ sagte die Verkäuferin. Währenddessen hatte Georg auf dem Ladentisch einen Glaskasten mit sehr verlockend aussehenden Schokoladestangen erblickt. Das Stück fünf Pfennig, stand auf dem Kasten. Und fünf Pfennig hatte er doch gerade auch in der Hand. Auf diese fünf Pfennig kam es der Mutter nicht an; sie wären ja auch weg gewesen, wenn er sie für den Käs ausgegeben hätte. „Und eine Schokoladestange für fünf Pfennig,“ sagte er; bekam sie, ging hinaus, ließ sich die Schokolade schmecken und hatte auch kein schlechtes Gewissen dabei; „wegen der fünf Pfennig“. Er war schon mit Essen fertig, als er heimkam. Die Mutter nahm ihm den Käs ab. „Komm, der Vater ist allein im Laden, er liest uns noch mehr aus der Zeitung vor.“
Bald standen sie wieder zu vieren beisammen, und der Sattler las: „Unter den Gepäckwagen, die unsere wackeren Soldaten den Russen abnahmen, fand sich zur großen Freude unserer Krieger auch ein mit Konservenbüchsen angefüllter. Die Büchsen waren verlötet und jede trug die Gewichts- und Inhaltsangabe der verschiedenen Gemüse- und Fleischgerichte. Als aber eine und dann immer mehr dieser Büchsen geöffnet wurden, fand sich, daß sie, anstatt mit Eßwaren, mit Sand und Spänen gefüllt waren. Dieser Betrug ist wieder ein Beispiel von der tiefen Verderbtheit, die im russischen Volk herrscht.“
„Nein, solch eine Gemeinheit, so etwas gibt’s doch bei uns Deutschen nicht!“ rief die Frau empört. – „Ja es ist unglaublich!“ – „Was denn, Mutter, was ist denn so schlimm, erkläre mir’s doch,“ drängte der Kleine, der mit Aufmerksamkeit zugehört, aber doch die Zeitungsmitteilung nicht recht verstanden hatte.
„Begreifst nicht?“ sagte die Mutter, „wenn ich dir einen Nickel gebe und sage, du sollst mir Salz holen, dann darfst du nicht hingehen und dir Gutele darum kaufen; gelt das wäre nicht recht? Da hat aber der russische Kaiser vielleicht 1000 Mark hergegeben, hat zu seinen Leuten gesagt, sie sollen Büchsen mit Fleisch und Gemüse füllen für die Soldaten. Die haben aber das Geld für sich behalten, haben kein Fleisch und Gemüse gekauft, sondern sie haben Sand geholt und in die Büchsen getan und haben sie zugelötet.“
„Die Russen haben das getan?“ fragte Hans, der mit größter Spannung zugehört hatte.
„Ja die Russen, die Deutschen nicht, die tun so etwas nicht, die sind ehrlich.“
„Mit wieviel Jahren wird man denn ein Deutscher?“ fragte Hans wieder, „ich möchte auch ein Deutscher werden.“
Sie lachten über den Kleinen und die Mutter streichelte ihm den Blondkopf: „Bist schon längst einer, Hans, schon seit du auf der Welt bist. Bist kein Russe, nein, sondern ein ehrlicher, deutscher Bub!“
Georg, der am Ladentisch lehnte, hatte aus den Worten der Mutter gehört, daß der Deutsche ehrlich sei; und er wurde ganz nachdenklich. Die fünf Pfennig, die für den Käs bestimmt waren, hatte er für Schokolade ausgegeben; wie die Russen, dachte er. Aber ich bin doch ein Deutscher.
„Wenn einer einmal ein wenig unehrlich ist, deswegen bleibt er doch ein Deutscher, gelt Mutter?“ sagte er, „nur natürlich so etwas, wie mit den Büchsen, darf er nicht tun!“ Der Vater blickte von der Zeitung auf und sah Georg an. „Mit der kleinen Unehrlichkeit fängt’s allemal an,“ sagte er, „es hat keiner gleich 1000 Mark. Aber wenn er zuerst um einen Pfennig betrügt, so kommt er immer weiter.“
„Das ist doch ein Unterschied, auf fünf Pfennig kommt’s doch nicht an,“ beharrte Georg.
„Auf die Pfennige käme es vielleicht nicht an, aber auf die Ehrlichkeit, die darf eben keinen Flecken haben; da muß sich einer rein halten, schon als Bub, dann bringt er’s auch als Mann zustand. Was meinst du, warum soll es leichter sein, auf 1000 Mark zu verzichten, die man sich erschwindeln kann, als auf fünf Pfennig? Wer das eine nicht kann, wird auch das andere nicht können.“
Jetzt wurde es Georg ganz angst; er würde doch nicht später einmal so etwas tun, wie es die Russen getan hatten?
„Gelt, dich drückt etwas,“ fragte die Mutter ihren Großen, der in sichtlichem Unbehagen dastand, „hast was auf dem Gewissen, Georg?“
„Ja, fünf Pfennig vom Käs. Die waren übrig und ich hab mir Schokolade dafür gekauft und schon gegessen, sonst möcht‘ ich sie gleich hergeben.“
„So, so!“ sagte der Vater und besann sich ein wenig. Eigentlich gehörte doch Strafe auf so etwas; aber er strafte so ungern. Während er sich so besann, faltete er das Zeitungsblatt zusammen, sodaß die erste Seite wieder obenauf lag mit der großen, frohen Siegesnachricht über die Russen. „Ja, ja,“ sagte er plötzlich und sah hell auf, „die Russen haben wir besiegt; die ganze Russenart müssen wir unterkriegen; denn etwas davon gibt’s auch bei uns Deutschen, aber wir kämpfen dagegen an. Wir sehen’s jetzt im Krieg, wohin das führt. Ehrliche Deutsche wollen wir sein, keinen Fünfer erschwindeln, dann gibt’s keinen Sand in den Büchsen, gelt du?“–„Ja, Vater!“–„Da drüben ziehen sie die Fahne auf!“ rief der Kleine und sie traten alle unter die Ladentüre. „Ja, Sieg über die Russen und über die Russenart!“
Zu welcher Fahne?
Unter den vielen Deutschen, die sich in Paris aufhalten, war zur Zeit des Kriegsausbruchs ein Bankbeamter namens Kolmann. Er war von Geburt Elsässer; auch seine Frau stammte aus dem Elsaß. In Straßburg hatten sie ihren Hausstand gegründet, dort waren auch ihre beiden ältesten Kinder, zwei Knaben, geboren, die jetzt sechs und acht Jahre alt waren. Später war die Familie Kolmann nach Paris übergesiedelt, wo dem Manne eine gute Stelle an einem großen Bankgeschäft angeboten war. Sie lebten nun seit drei Jahren in Paris und dort war zu den beiden kleinen Brüdern noch ein Schwesterchen gekommen. Für die Elsässer war das Eingewöhnen in Paris leicht gewesen; von Jugend an war ihnen die französische Sprache vertraut; sie sprachen auch mit ihren Kindern französisch und jedermann, der nicht näher mit ihnen bekannt war, hielt sie für Franzosen. Paul und Emil, die beiden kleinen Jungen, gingen mit den französischen Altersgenossen zur Schule.
Aber jetzt kam der Krieg. Er drohte schon in der letzten Woche des Juli und brachte schwere Sorgen und Überlegungen für viele Deutsche in Paris. In dem Bankgeschäft, für das Kolmann arbeitete, waren mehrere junge Deutsche angestellt. Sie waren schnell entschlossen abzurufen; wußten sie doch, daß ihres Bleibens nicht mehr war, und daß sie jeden Tag ihre Einberufung erwarten mußten. So verließen sie Frankreich noch vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges und eilten in ihr Vaterland zurück.
Der Direktor der Bank, für den die plötzliche Abreise mehrerer Angestellter sehr störend war, sprach mit Kolmann. Er sagte ihm, daß er darauf rechne, ihn, den Elsässer, zu behalten. Im Kriegsfall käme ja Elsaß doch wieder an Frankreich. Die Elsässer würden alle gleich bei Beginn des Kriegs zu den Franzosen übergehen; daran sei gar nicht zu zweifeln. Darauf entgegnete Kolmann, er habe in Deutschland gedient und würde im Kriegsfall einberufen werden.
„Dagegen gibt es ein sehr einfaches Mittel,“ meinte der Direktor; „Sie dürfen sich nur naturalisieren lassen, das heißt wieder Franzose werden.
Im übrigen ist ja immer noch Hoffnung, daß es nicht zum Krieg kommt; die Gefahr kann auch wieder vorüber gehen. Einstweilen möchte ich Sie ersuchen, möglichst die Arbeit der abgereisten Kollegen zu übernehmen, wofür ich Ihren seitherigen Gehalt verdoppeln werde.“
Sehr nachdenklich kam an diesem Abend Kolmann vom Geschäft heim. Seine drei Kinder waren schon zu Bett gebracht. In einem reizenden, kleinen Salon erwartete ihn seine Frau.
„Wie spät du heimkommst,“ klagte sie. „Das kann doch nicht so weiter gehen! Der Direktor kann nicht von dir verlangen, daß du die Arbeit der Herrn übernimmst, die abgereist sind.“–„Ich muß es ja nicht umsonst tun. Der Direktor hat mich heute darum gebeten und mir den doppelten Gehalt angeboten.“
„O wie fein!“ rief Frau Kolmann, „den doppelten Gehalt! Ja, dann werde ich nicht murren, wenn du später von der Bank kommst; wir werden den Abend um so vergnügter verbringen. Gehen wir gleich heute noch ins Odeon? Oder wo feiern wir sonst diese frohe Botschaft?“–„Bitte, laß uns nur ruhig zuerst zu Abend essen. Ich bin wirklich müde und gar nicht in der Stimmung auszugehen.“
„Schade,“ sagte die junge Frau, „wie kann einer nicht in guter Stimmung sein, wenn man ihm unvermutet einen so glänzenden Gehalt anbietet? Aber ich will dich nicht plagen, mein Lieber; mich hat diese Nachricht wirklich in die allerbeste Stimmung zersetzt. Komm ins Eßzimmer, der Tisch ist gedeckt. Wir werden Champagner aus dem Keller holen lassen und auf das Wohl deiner Herrn Kollegen trinken, die ihren Gehalt im Stich gelassen haben und uns zu reichen Leuten machen. Wie töricht sie waren, so schnell abzureisen; es kommt garnicht zum Krieg gewiß nicht, ich habe es heute erst im Figaro gelesen.“
„Glaube den französischen Zeitungen nicht, sie lügen!“
„Aber nein, gewiß nicht; was ich gelesen habe, kann nicht erlogen sein: der Zar hat dem deutschen Kaiser telegraphiert, er wolle keinen Krieg.
Auch der König von England versichert, er habe den ernsten Wunsch, einen europäischen Krieg zu verhindern. Daß die Franzosen den Krieg fürchten, wissen wir doch ganz gewiß und ebenso, daß die Deutschen nie anfangen. Also, wie soll es einen europäischen Krieg geben? Komm, sei nicht so schwarzsichtig, laß dir das Essen schmecken. Denke nicht mehr an den Krieg. Du hast noch gar nicht nach den Kindern gefragt.“
„Ja, wie geht es ihnen?“
Die Mutter erzählte nun fröhlich, daß die kleine Mimi, die einjährige, schon die ersten Schrittchen allein mache und wie Emil und Paul zärtlich seien mit dem kleinen Liebling. Über diesem Geplauder wurde auch der Vater wieder heiter, die Kinder waren seine Herzensfreude.
Am nächsten Morgen machte sich Kolmann frühzeitig auf den Weg zur Bank. Er wußte, daß viel Arbeit auf ihn wartete, und verabschiedete sich von Frau und Kindern mit den Worten: „Auf Wiedersehen um zwei Uhr.“ Zärtlich küßte er seine zwei Knaben, die mit der Mutter beim Frühstück saßen, ging auch noch in das Kinderzimmer, wohin ihn das Stimmchen der Kleinen lockte. Sie wurde eben von der „Bonne“ in ein weißes Kleid gesteckt und streckte verlangend dem Papa die Ärmchen entgegen. Nur einen Augenblick hatte er Zeit, das Kind auf den Arm zu nehmen; dann gab er es wieder der Kinderfrau zurück und verließ eilends das Haus. Er war noch keine hundert Schritte gegangen, als ihm ein Junge ein Zeitungsblatt anbot:
„Es ist der Krieg!“ rief der Junge, erhielt einen Sou und eilte zum nächsten Vorübergehenden mit dem Ruf: „Es ist der Krieg!“ Kolmann hielt mit vor Aufregung zitternden Händen das Blatt und las, daß die Franzosen über die deutsche Grenze geschritten und in die Vogesen eingedrungen waren. Daraufhin hatte Deutschland an Frankreich den Krieg erklärt.
Da wandte Kolmann seine Schritte zurück und nach wenigen Minuten war er wieder in seinem Haus, trat in das Zimmer, in dem seine Frau friedlich mit den beiden Knaben am Frühstück saß, und sagte auch nur die vier Worte: „Es ist der Krieg!“ Sie griff nach dem Blatt, das er ihr hinhielt. Sie las es. „Also wirklich?“ Nun mußte auch sie an den Krieg glauben. Das Blatt fiel ihr aus den Händen, Paul nahm es auf. Er las, was mit großen Buchstaben dastand, und weil er mit seinen Kameraden gern Krieg spielte, so dachte er sich hinein, wie die großen Leute nun wohl den Krieg führen würden. Vater und Mutter sprachen halblaut miteinander und sprachen deutsch, wie sie es meist taten, wenn das französische Dienstmädchen im Zimmer nebenan war. „Papa,“ fragte Paul – er redete französisch – „Papa, die Bonne hat gestern gesagt, die Russen und die Engländer halten zu uns, ist das wahr?“ – „Zu uns?“ Der Vater sah seinen Jungen an. Er hatte nie mit ihm darüber gesprochen, daß sie Elsässer und also Deutsche waren, denn er wollte, daß seine Kinder sich ganz heimisch und wohl fühlten unter den französischen Kameraden. Und jetzt, in dem Augenblick, da Krieg ausbrach, war es noch bedenklicher, davon zu sprechen. „Bitte Papa, sage mir’s!“ wiederholte Paul, „hält England zu uns?“
„Franzosen, Engländer und Russen halten zusammen,“ sagte Herr Kolmann ausweichend. „Dann werden wir leicht fertig mit den Deutschen; oder haben die auch Freunde?“
„Ja, Österreich geht mit Deutschland.“
„Papa, wer wird’s gewinnen?“
„Wir, Paul,“ sagte der Vater und er dachte dabei „wir Deutschen“, aber er merkte wohl, daß Paul dachte: Wir Franzosen. Paul war befriedigt; er forderte den jüngeren Bruder auf, mit ihm hinüber zu gehen ins Kinderzimmer, sie wollten Soldaten spielen.
Die Eltern blieben allein zurück. „Paul meint, wir seien Franzosen,“ sagte Kolmann. „Das ist ja nur gut,“ entgegnete seine Frau, „Elsaß kommt nun sicher wieder an Frankreich. Ich hörte es neulich erst sagen, ganz Elsaß freue sich auf einen Krieg und werde in der ersten Stunde zu Frankreich übergehen.“
„Was man wünscht, das glaubt man gern. Charlotte, ich glaube es nicht, und von all den Elsässern, die wie ich im deutschen Heer gedient haben, wird das keiner glauben. Denke an deinen Bruder; weißt du nicht mehr, wie er begeistert war für das deutsche Heer? Meinst du, daß er überginge zur französischen Fahne?“
„Der freilich nicht,“ sagte sie nachdenklich und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Gottlob, daß du nicht in den Krieg mußt; es wäre ja schrecklich, wenn man nicht wüßte, zu wem man halten sollte.“ In sichtlicher Unruhe ging Herr Kolmann hin und her. Sie sah ihm nach.
„Was beunruhigt dich so?“ fragte sie teilnehmend.
Er schwieg.
„Sage es mir doch, lieber Freund,“ bat sie zärtlich.
Da blieb er vor ihr stehen. „Ich muß es dir ja freilich sagen, wenn du es dir nicht selbst denken kannst. Du irrst dich, wenn du meinst, meine dreißiger Jahre entheben mich der Militärpflicht. Mir bleibt nur die Wahl: entweder ich stelle mich sofort in Deutschland – dann müssen wir alles aufgeben, was wir hier haben und Paris verlassen; oder ich werde Franzose, wie mir der Direktor geraten, – dann gehören wir künftig der französischen Nation an. Schon lange habe ich gefürchtet, daß ich einmal vor diesen Entscheid gestellt würde, nun ist die Stunde gekommen.“
„Aber Liebster, wir können uns doch gar nicht besinnen. Hier haben wir unser reizendes Heim, hier hast du eine glänzende Stellung; so bleiben wir doch natürlich hier und werden Franzosen. Denn was sollten wir in Deutschland tun? Ganz von vorne anfangen, das wäre doch zu töricht!“
„Ja, ja, ganz recht; es wäre töricht und für dich zu schwer,“ antwortete er; aber wieder trieb es ihn unruhig im Zimmer herum.
„Unsere Großeltern waren noch Franzosen,“ sagte sie, „so können wir es doch wieder werden. Sag, Liebster, was spricht dagegen?“
„O nichts,“ sagte er bitter, „nichts als das, daß ich als Soldat zur deutschen Fahne geschworen habe. Und daß es mir ein sonderbares Gefühl ist, den Fahneneid, den ich in voller Begeisterung geschworen hatte, zu brechen, in der Stunde, wo ganz Europa sich gegen das deutsche Heer rüstet, dem ich als junger Mann angehört habe mit Leib und Seele. Es ist das schönste, beste Heer mit seinen prächtigen Offizieren und seinem edlen Kaiser. Aber jetzt, in der Stunde der Not, verlasse ich es. Pfui!
All die deutschen Offiziere – voran mein Hauptmann, der etwas auf mich hielt und den ich verehrte – alle dürften mir zurufen: Pfui!“
Charlotte stand ergriffen. In diesem Augenblick kamen die zwei Knaben hereingesprungen, mit roten Köpfen; lustig war ihr Eifer anzusehen: „Mama, wir sind schon in Berlin gewesen und haben die Deutschen besiegt. Und ihren Kaiser haben wir gefangen, dem soll es schlecht gehen!“
„Schweigt!“ rief der Vater und in aufwallendem Zorne gab er dem ältesten eine Ohrfeige. Sehr bestürzt über diese ganz ungewohnte Behandlung verzogen sich die zwei kleinen Soldaten. Ihrer Mama kamen die Tränen.
„Verzeih,“ sagte der Mann, „ich war zu heftig. Aber ich kann’s nicht hören, daß meine Kinder gegen den Kaiser sind; es regt mich auf. Am besten ist’s, ich gehe jetzt fort, auf die Bank. Adieu!“
Er streckte ihr die Hand hin, sie griff darnach, aber sie weinte nur noch bitterlicher. Begütigend sagte er: „Ich werde Paul noch ein freundliches Wort sagen, ich weiß ja, er hat die Ohrfeige nicht verdient. Du mußt nicht mehr darüber weinen!“
„Ach, das ist’s nicht,“ sagte sie schluchzend, „aber geh nur jetzt, wir können ja mittags alles besprechen.“
Da verlief er das Haus, ging durch die Straßen zwischen der aufgeregten Menge hindurch, hörte nichts als Krieg und wieder Krieg; fand in der Bank ein großes Gedränge von Menschen, die alle besorgt waren um ihr Geld; sah den Bankdirektor selbst an einem Schalter stehen und hörte, wie er die Ängstlichen zu beruhigen suchte. Sein spätes Kommen mußte dem Direktor aufgefallen sein. Er hatte wohl schon Sorge gehabt, auch dieser Beamte möchte abreisen. Nun winkte er Kolmann freundlich zu und dachte, es sei doch gut gewesen, daß er ihm schon gestern doppelten Gehalt angeboten hatte. So etwas schlägt keiner aus – meinte der Direktor.
Sobald der Vater die Wohnung verlassen hatte, suchten die Kinder ihre Mutter auf. Aber sie fanden die Mama nicht heiter und fröhlich wie sonst; verweint sah sie aus, gab ihnen ein paar Bonbons und sorgte, daß sie möglichst schnell mit dem Schwesterchen unter der Aufsicht der Kinderfrau spazieren gingen. Denn sie wollte allein sein, um ordentlich nachdenken zu können. Bisher hatte sie das Nachdenken ihrem Mann überlassen; er hatte alles für die Familie aufs beste eingerichtet und jederzeit gewußt, was geschehen mußte. Nur heute nicht. Es war ihr ungewohnt und schrecklich, ihn so unsicher und aufgeregt zu sehen. Die Ohrfeige, die kam doch nur daher, daß er es nicht ertragen konnte, wenn sein Bub gegen die Deutschen Partei nahm. Also war er mit seinem Herzen auf deutscher Seite und es zog ihn jetzt hinüber zum deutschen Heer.
Aber sie konnten doch nicht fort und alles preisgeben, was sie hatten! Bei dem bloßen Gedanken war ihr, als wankte der Boden unter ihren Füßen. Während sie so in der Stille darüber nachdachte, glaubte sie im Kinderzimmer die Stimme ihres Paul zu hören. Aber der war doch wohl fort mit der Kinderfrau? Sie ging nachzusehen. An dem großen Tisch stand Paul ganz allein, eifrig beschäftigt Soldaten aufzustellen, denen er laute Befehle gab.
„Mama,“ sagte er, „die Bonne hat mir erlaubt daheim zu bleiben, wenn ich ganz still im Zimmer spielen würde. Sie meinte, es werde dir schon recht sein, und wir wollten dich nicht stören. Mama, warum bist du so traurig, und warum ist Papa auch nicht wie sonst?“
„Das kommt vom Krieg, Kind.“
„Mama, die Bonne hat mich gefragt, ob wir richtige Franzosen seien, weil wir alle Deutsch könnten. Der Hausmeister hat ihr gesagt, wir seien Elsässer. Wie ist das eigentlich?“
„Es ist am besten, du redest nicht mit den Leuten darüber.“
„Das will ich auch nicht, nur wissen möchte ich es, Mama. Sieh, da stehen meine Franzosen und da die Deutschen; wenn ich nun Elsässer habe, wohin muß ich sie stellen?“
Er sah auf und wunderte sich, daß die Mutter keine Antwort gab. „Bitte, sage mir nur noch das eine, dann lasse ich dich wieder ganz in Ruhe. Sieh, da ist unsere französische Fahne und hier die schwarzweiß-rote, das ist die deutsche. Zu welcher gehören die Elsässer?“
Der Mutter, die nicht gern antwortete, kam von außen Hilfe. Es klingelte. Sie erkannte an der Stimme einen Freund ihres Mannes, der anfragte, ob er sie in so früher Morgenstunde einen Augenblick sprechen könnte. Sie empfing ihn im Salon. Er und seine Frau waren Deutsche. „Ich wollte nur noch schnell Abschied von Ihnen nehmen,“ sagte Herr Frank.
„Meine Frau läßt Sie herzlich grüßen, sie hat alle Hände voll zu tun. Wir reisen heute ab. Man kann nicht schnell genug fortkommen aus dem Feindesland. Was sagt Kolmann zu diesem Krieg? Wie falsch und tückisch fallen die Feinde von allen Seiten über Deutschland her! In Lug und Trug sind sie verbündet. Aber ganz Deutschland wird aufstehen. Kein Mann wird zurückbleiben. Mir brennt das Herz, zur Fahne zu eilen. Wann reisen Sie?“
„Ich weiß nicht,“ sagte Frau Kolmann; „vielleicht – ich weiß nicht; was macht Ihre Frau?“
„Meine Frau drängt fast noch mehr, sie mag die Franzosen nicht mehr sehen, ihnen kein Wort gönnen.“
„Aber was wird aus Ihrem Geschäft? Wo werden Sie Unterkunft finden mit Ihren Kindern?“
„Das wissen wir alles noch nicht. Wer kann jetzt an sich denken, wenn das ganze Vaterland in Gefahr ist! Wir wissen nur, daß wir nach Deutschland müssen, und wenn es auch nur wäre, um mit ihm zu leiden. Ihr Mann denkt sicher ebenso. Ich muß gehen, grüßen Sie ihn. Wir treffen uns unter der Fahne! Meine Frau und ich, wir danken Ihnen für alle Freundschaft. Vielleicht führt uns das Leben noch einmal zusammen im stolzen, sieggekrönten Vaterland!“ Er drückte ihr die Hand zum Abschied und ging.
Frau Kolmann stand allein. Aber der Freund hatte etwas zurückgelassen, einen Hauch der Begeisterung, der in sie drang, sie erfüllte und ihr, der unsichern, verzagten Frau, den Weg wies. Wie groß war das, zu sagen: Wer kann an sich denken, wenn das Vaterland in Gefahr ist? Sie hatte sich geschämt, dem Freund nur auszusprechen, daß sie daran dächte, in Frankreich zu bleiben. Wieviel mehr müßte ihr Mann sich schämen, er, der Deutschland Treue geschworen hatte! Nein, er sollte nicht um ihretwillen zurückbleiben! Alle Unsicherheit und Schwäche war von ihr gewichen.
Raschen Schrittes kehrte sie ins Kinderzimmer zurück.
„Nun, Paul,“ sagte sie in ihrer gewohnten, frischen Weise, „was wolltest du wissen? Wohin die Elsässer gehören? Zu den Deutschen gehören sie, das mußt du doch wissen! Wir sind Elsässer und Elsaß gehört zu Deutschland.“
„So?“ sagte der Knabe nachdenklich, „ja, dann muß ich alles anders aufstellen; dann müssen die Deutschen meine besten Kanonen bekommen und müssen oben stehen, damit sie siegen können!“
„Ja, mach‘ das so. Und wenn Papa heimkommt, zeigst du ihm das, es wird ihn freuen.“
„Das hättest du mir schon lang sagen sollen, Mama. Ich habe mit den Schulkameraden immer gegen die Deutschen gekämpft und zu den Franzosen gehalten.“
„Das wird jetzt alles anders, Paul, jetzt ist Krieg!“
* * * * *
Kolmann empfand eine helle Freude, als er bei seiner Heimkehr eine entschlossene, tapfere Frau fand, die auf Reichtum und Behagen verzichten wollte und bereit war, mit ihm nach Deutschland zu ziehen, wohin ihn Ehre und Treue riefen. Alle Unsicherheit war nun vorbei. In aller Eile wurde die Abreise vorbereitet, jedes Opfer, das damit verbunden war, wollten sie bringen und alles Schwere auf sich nehmen.
Und das Schwere kam bald genug. Gegen diejenigen Elsässer, die nicht, wie man von ihnen erwartet hatte, zu Frankreich übertreten wollten, wandte sich der größte Haß der Franzosen. Der Bankdirektor wollte den Gehalt nicht zahlen, den er Kolmann schuldete; der Hausherr forderte die Miete fürs ganze Jahr; die Köchin wurde durch ihn aufgehetzt, verlangte ihren Lohn und verließ sofort das Haus. Das Gasthaus weigerte sich, Speisen abzugeben, und der Gepäckträger kehrte den Rücken, als er aufgefordert wurde, das Gepäck zu besorgen. Die Leute aus dem Hinterhaus warfen Steine nach den Fenstern der Wohnung. Kolmann ging auf die Polizei und erbat Schutz. Die Beamten zuckten die Achseln und erklärten, sie könnten nichts machen. Auf dem deutschen Konsulat waren alle Räume überfüllt mit ausgewiesen Deutschen, denen das Reisegeld fehlte, und mit hilflosen Mädchen, die Schutz suchten. Da sagte sich Kolmann: „Hilf dir selbst!“ Mit viel Geld, mit guten und bösen Worten, mit List und Klugheit gelang es doch, daß er am nächsten Morgen mit seiner Familie am Bahnhof stand, wo ein besonderer Zug die Ausgewiesenen bis an die Grenze bringen sollte.
Der Zug hatte nicht genug Wagen, trotzdem die Leute Kopf an Kopf, sogar in den Viehwagen standen. In dem furchtbaren Gedränge, bei der boshaften, schadenfrohen Gesinnung der Bahnbeamten geschah es, daß, während die Mutter mit der Kleinen und der Vater mit Emil einstieg, Paul weggestoßen wurde und zu Boden fiel in dem Augenblick, da der Zug sich in Bewegung setzte. Niemand kümmerte sich um den Jammer der Zurückbleibenden, kein Schaffner achtete auf den verzweifelten Schrei:
„Mein Kind, mein Kind!“, der aus dem Wagen drang, in dem die Familie Kolmann davon fuhr. Sie wußten nicht, war ihr geliebtes Kind überfahren oder stand es hilflos und verzweifelnd in der feindlichen Stadt.
Der Zug fuhr ohne Aufenthalt immer weiter, immer zu. Keine Möglichkeit, irgend etwas zu tun für das verlorene Kind; kein mitleidiger Beamter, kein hilfreicher Telegraph stand zur Verfügung, feindselig waren alle Einrichtungen; es war Krieg.
Und doch kam nach einer Stunde Fahrt ein kleiner Trostschimmer. Eine Mitreisende, ein junges deutsches Mädchen, das in einem der hintersten Wagen gewesen, drängte sich allmählich vor und fragte in jedem Wagen:
„Sind hier die Eltern, die einen Knaben verloren haben?“ Schließlich kam sie mit der Frage in den richtigen Wagen. „Ja, ja!“ riefen Pauls Eltern wie aus einem Mund. „Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich vom Fenster aus gesehen habe, wie der Junge, den man zu Boden geworfen hatte, aufgestanden ist und offenbar keinen Schaden genommen hatte.“ Frau Kolmann stürzten die Tränen aus den Augen: „Aber verloren ist er!“ schluchzte sie laut. „Ich sah noch,“ fuhr das Fräulein fort, „daß eine Frau, es schien mir eine einfache deutsche Bürgersfrau, die mit ihren kleinen Kindern abreisen wollte, Ihren Jungen angeredet hat. Sie sah ihn mütterlich freundlich an; ich denke mir, sie wird sich seiner annehmen und ihn mit nach Deutschland nehmen. Ich wollte Ihnen dies nur zum Trost sagen.“ – „Danke, danke!“
Frau Kolmann konnte nichts weiter hervorbringen; sie wandte alle Kraft an, um Herr zu werden über ihre Tränen. Es war doch schon ein Trost für die Eltern, daß sie wußten, ihr Kind war nicht unter die Räder gekommen, und sie hielten das Bild fest, wie eine deutsche Frau sich ihm teilnehmend zugewandt hatte. Kam er wirklich nach Deutschland, so würden Eltern und Kind sich auf allen Wegen suchen und endlich auch sich zusammenfinden. Es war eine greuliche Fahrt, die all‘ die Deutschen in diesem Zug durchzumachen hatten. In grausamer Weise wurde ihnen alles verweigert, was sie begehrten; an keiner Station durften sie aussteigen, keinen Trunk Wasser, keinen Schluck Milch für die kleinen, schreienden Kinder konnten sie sich verschaffen, und wo sie Aufenthalt hatten, wurden sie vom Pöbel beschimpft, ohne daß es irgend einem Beamten eingefallen wäre, die Wehrlosen zu schützen.
Frau Kolmann graute vor dem Volk, das sich so gehässig zeigte. So Schweres sie jetzt schon erlebt hatte, sie bereute doch nicht, daß sie Paris den Rücken gewandt hatte. Ihre Kinder sollten nicht Franzosen werden; fort, fort aus diesem Land, das unschuldige Menschen so grausam behandelte! Die bedauernswerten Reisenden wurden nicht einmal bis zur Grenze gebracht. Zwei Stunden vor dem Grenzort mußten alle aussteigen und von da an konnten sie selbst zusehen, wie sie mit Kindern und Gepäck vollends hinüber kämen.
Aber mit dem Augenblick, wo sie endlich die Grenze erreicht hatten, trat ihnen deutsche Herzensgüte entgegen. Man hatte den Strom der Vertriebenen erwartet und für die Nacht Unterkunft bereitet. Männer und Frauen, die das Zeichen des Roten Kreuzes auf ihren Armbinden trugen, standen bereit, sie zu empfangen. Den todmüden Müttern wurden die Kinder abgenommen und mit warmer Milch gelabt, für die Erwachsenen waren Kessel voll Tee und Kaffee zur Stelle, und so viele der Ausgewiesenen es auch waren, alle bekamen Obdach und Lager für die Nacht. Manche waren zu Tränen gerührt über diese unerwartete Hilfe, alle segneten ihr wiedergewonnenes deutsches Vaterland!
* * * * *
Wochen waren seitdem vergangen. Die Familie Kolmann hatte in Straßburg eine kleine Wohnung genommen. Jetzt waren sie noch beisammen, aber schon in dieser Woche konnte Kolmann ausmarschieren müssen. Er brachte seine Tage auf dem Exerzierplatz zu, nur in den Mittagspausen und abends war er daheim. Unermüdlich waren in dieser Zeit seine Bemühungen, durch Anfragen bei Behörden, durch Briefe und Zeitungen Erkundigungen über das verlorene Kind einzuziehen. Bis jetzt war alles vergeblich gewesen. Bahn, Post und Telegraph waren fast nur für das Militär zu haben und auch die Teilnahme der Beamten konnte man nicht so viel in Anspruch nehmen. Schon waren große Schlachten geschlagen und viele Opfer gefallen; lange Verlustlisten erschienen und in jeder derselben kam das Wort „vermißt“ vor. Wie konnte man verlangen, daß alle sich bemühen sollten, nach dem einen kleinen Vermißten zu forschen?
Das große Leid, das der Krieg so vielen auferlegte, wollte still und tapfer getragen sein. Auch Frau Kolmann trug ihren Schmerz im verborgenen; sie wollte ihrem Mann, der nun bald in den Krieg ziehen sollte, das Herz nicht schwer machen. Vielleicht kam er nicht wieder aus dem großen Kampf, dem kein Ende abzusehen war; für die kurze Zeit, die sie ihn noch bei sich haben durfte, wollte sie ihm die kleine Häuslichkeit behaglich machen, die ihr doch selbst so gering vorkam, nach den glänzenden Pariser Verhältnissen. Sie waren glücklich, beisammen zu sein, aber im stillen fürchteten sie beide den Tag, an dem sie sich trennen sollten, und wenn sie daran dachten, wie Unzähligen derselbe Abschied bevorstand, so fühlten sie, daß es ihnen schwerer wurde als anderen, weil der Schmerz um das verlorene Kind sie so tief bedrückte.
Eines Abends saßen sie in Gedanken verloren, Hand in Hand. Die Kinder schliefen, es war stille im Haus. Die Hausglocke störte die Stille. „Wer kommt so spät noch?“ Herr Kolmann ging zu öffnen. Ein Briefträger stand außen. „Der Herr Postmeister schickt Ihnen ein Zeitungsblatt, er meint, es könnte Sie interessieren; die Stelle ist angestrichen.“ Der Bote ging.
„Gewiß eine erfreuliche Kriegsnachricht,“ sagte Kolmann, indem er sich wieder zu seiner Frau setzte. Nein; der angestrichene Satz lautete: „Auf Ersuchen aus unserem Leserkreis sind wir gerne bereit, in unserem Blatt eine Liste solcher Familienglieder aufzunehmen, die durch die Kriegswirren – namentlich in Ostpreußen und im Elsaß – von ihren Angehörigen getrennt wurden, und zugleich die Adressen derer, die nach solchen suchen.“
Es folgte eine Liste. Sie begann:
„Berta Schwarz, Lehrerin aus Lyck, gesucht von Frau Elise Schwarz in Berlin, Passauerstraße 6.“
„Ernst und Max Gullasch, 12 und 14 Jahre alt, gesucht von Lehrer Gullasch in Heinrichswalde.“
„Familie Schneider, gesucht von Anna Schneider in Altkirch im Elsaß.“
„Administrator Bajohr mit 40 Familien aus Milluhnen, gesucht von Grau Donalus, Fasanenstraße.“
„Dienstmädchen Ida Kern, gesucht von Dr. Mayer in Mühlhausen im Elsaß.“
So ging das weiter, eng gedruckt, eine lange Spalte.
„Ja,“ sagte Herr Kolmann, indem er die Liste überflog, „an diese Zeitung wollen wir uns wenden, ich werde gleich schreiben.“ Er stand auf, das Schreibzeug zu holen. Im selben Augenblick stieß seine Frau einen Schrei aus: „Liebster, höre nur: ‚Bankier Kolmann und Frau gesucht von ihrem Sohn Paul in Ulm, Walfischgasse 3, bei Frau Peter.‘ Sieh doch, lies nur, ist’s denn wahr? Herzensmann, lies!“
Die Freude benahm ihnen schier den Atem, als sie zusammen lasen und aus den wenigen Worten herausfanden, daß ihr geliebtes Kind wieder gefunden war. „Er sucht uns!“ rief Frau Kolmann bewegt, „‚gesucht von ihrem Sohn‘ heißt es. Wer hat ihm nur geholfen, daß er diesen Ausweg fand? O diese Frau Peter, die möchte ich in Gold fassen! Wäre nur schon die Nacht vorbei! Was machen wir nun? Soll ich gleich abreisen?“
„Zuerst telegraphieren, morgen in aller Frühe!“
Am nächsten Tage gingen Telegramme hin und her. Soviel erfuhren die Eltern, daß Paul gesund sei und gleich abreisen würde; ihn abzuholen, sei unnötig.
„Also wird ihn Frau Peter bringen,“ schloß Frau Kolmann, „denn allein kann das Kind doch nicht reisen.“
Sie telegraphierten noch einmal; es kam die Antwort: Paul sei schon abgereist.
Die Züge gingen so unregelmäßig, man wußte nie, wann einer kam. Aber Frau Kolmann machte unermüdlich mit ihren zwei Kindern den Gang an die Bahn und einmal, als sie wieder am Bahnsteig stand, da sprang ein Junge aus dem Zug – ihr Junge; und war im Nu bei ihr, herzte und küßte sie, lachte vor Glück und weinte vor Freude; gab dem Bruder einen Kuß, hob die Kleine auf den Arm und rief: „Ich kann sie ganz nach Hause tragen. Unseren Kleinen, weißt du, den von Frau Peter, habe ich auch immer getragen. Wir haben keinen Kinderwagen. Wir waren sehr arm, Mama, in der ersten Zeit; aber jetzt haben wir eine Nähmaschine, da kann Frau Peter viel mehr verdienen, jetzt geht es schon besser.“
„War sie gut, die Frau Peter?“
„O ja, Mama. Sie hat mich von Paris mitgenommen an die Grenze. Dort darf niemand hinüber, der nicht auf dem Paß genannt ist. Da hat sie mich Johann genannt, weil so ihr Kleiner heißt und auf dem Paß stand. Der Beamte wollte uns aber doch nicht durchlassen, er sagte, es stehe nur ein Kind auf dem Paß. Da hat Frau Peter den Kleinen, der gerade mörderisch nach seiner Milch schrie, dem Mann hingehalten und hat ihn angefahren: „So nehmen Sie den Schreihals, den geb ich billig!“ Da ist der Beamte ordentlich zurückgebebt und hat uns durchgelassen. Ich habe so lachen müssen, daß ich uns fast verraten habe. – Dann sind wir nach Ulm, in Frau Peters Heimat gefahren. Dort hat sich eine Dame um uns angenommen und uns ein Stübchen und Arbeit verschafft. Für mich hätte sie eine Familie gewußt, die mich aufgenommen hätte, aber Frau Peter und ich wollten doch lieber beisammen bleiben. Die Dame hat auch die Anzeige in die Zeitung gesetzt und dann ist Euer Telegramm gekommen.“
Immerzu erzählte Paul; sein Herz war übervoll von all den Erlebnissen. Als sie zu Hause ankamen und die kleine Wohnung betraten, bewunderte er die Zimmer, die ihm schön und groß vorkamen. Darüber mußte sich sein Bruder Emil wundern. „Uns gefällt es gar nicht“; sagte er, „wir haben doch in Paris eine schönere Wohnung gehabt!“
Aber Paul ließ sich nicht beirren, ihm kam alles wunderschön vor, und die Mutter war froh darüber. Sie merkte es aus allem: in großer Armut hatte ihr Kind diese Wochen verlebt, aber es hatte ihm nicht geschadet, im Gegenteil.
Nun kam der Abend und brachte den Vater. In Uniform trat er, strammer als sonst, herein – Paul war einen Augenblick ganz befremdet; aber der Vater zog ihn so warm an sein Herz, daß die alte Vertraulichkeit gleich wieder da war.
„Der Papa geht jetzt in den Krieg,“ erklärte Emil.
„Gegen die Franzosen, gelt, Papa, ich mag sie nicht mehr. Sie haben die Mama so grob gestoßen beim Einsteigen, und mich haben sie auf den Boden geworfen. Aber die Deutschen waren so gut gegen mich. Frau Peter hat gesagt, ich soll nur ruhig allein nach Straßburg reisen – es tue mir niemand was in Deutschland und es koste sonst so viel Geld, und wir hatten nicht mehr viel. Papa, hast du noch welches? Weißt du, die Nähmaschine haben wir natürlich nicht gleich ganz bezahlen müssen, die muß monatlich abbezahlt werden. Das macht so viel Sorgen. Kannst du Frau Peter nicht etwas schicken?“
„Wieviel habt ihr denn noch abzubezahlen?“ fragte der Vater lächelnd. Paul machte ein sehr ernstes Gesicht: „Fünfzig Mark! Aber wenn du ihr zehn schicken könntest? Frau Peter ist wirklich eine sehr gute Frau!“
„Wir schicken ihr fünfzig und das gerne, mein Kind; und alles was sie für deine Kost und deine Reise ausgegeben hat, soll dieser guten Frau reichlich bezahlt werden. Wir wollen sie auch später nie vergessen.“
Paul strahlte vor Freude. Es war ein unbeschreibliches Glück an diesem Abend. Freilich, wenige Tage nachher kam der Ausmarsch, die Trennung. Aber sie wurde standhaft ertragen. Kann nicht wieder ein so beglückendes Wiedersehen folgen? Sie hoffen darauf in guter Zuversicht und denken treulich aneinander.
Der kleine Franzos.
Als das deutsche Heer im August nach Frankreich einmarschierte, kam es gar schnell auf den großen Straßen, die nach Paris führen, vorwärts. Die Franzosen hatten sich das ganz anders gedacht. Sie wollten auf unsere Hauptstädte losgehen, wir sollten nicht wieder in ihr Land eindringen wie im Jahr 1870. Als sie nun doch wieder sehen mußten, wie unsere Soldaten unaufhaltsam vordrangen, da wurde die ganze französische Bevölkerung von furchtbarem Grimm gegen die Deutschen erfaßt. Männer und Frauen ließen ihre Wut sogar noch an unsern Verwundeten aus und nach der Schlacht, wenn unsere Soldaten friedlich durch ein Dorf zogen, schossen sie heimtückisch, hinter den Fenstern versteckt, aus ihren Häusern heraus.
Da machten unsere Offiziere bekannt, wenn unsere Soldaten friedlich in ein Dorf einzögen, dürfe keinem von ihnen etwas geschehen. Die Einwohner sollten sich hüten und wenn künftig nur auch ein Schuß fiele, so würde das ganze Dorf verbrannt.
Aber die Wut und der Haß waren zu groß; auch glaubten die Leute nicht, daß unsere Soldaten mitten im Krieg gegen die Männer, die keine Waffen trugen, und gegen die Frauen und Kinder freundlich sein würden. Man hatte ihnen so viel vorgelogen, daß sie meinten, die Deutschen seien grausame Barbaren. So kam es immer wieder vor, daß sie wie Meuchelmörder aus dem Hinterhalt auf die einziehenden Deutschen schossen; dann gaben die Offiziere den Befehl, das ganze Dorf in Brand zu schießen, und das geschah.
So kam es, daß eine ganze Anzahl von Dörfern niederbrannte. Viele der Bewohner flüchteten in die nächsten Orte und erzählten dort die Schauergeschichte von dem Brand; aber das erzählten sie nicht, daß sie selbst an diesem Unglück schuld waren. So wurden die Angst vor den Deutschen und der Haß gegen sie immer größer.
Ein großes Dorf, das durch einen Bach in zwei Teile geteilt war, wurde auf diese Weise auch in Brand geschossen; aber nur der Teil, aus dem geschossen worden war. Kirche, Schule und eine Reihe von Häusern rings herum waren verschont geblieben. Dort quartierten sich die Deutschen am Abend ein; aber sie ließen auch die französischen Familien ruhig in ihren Häusern.
So war auch ein deutscher Leutnant ganz friedlich bei zwei alten Leuten einquartiert, die ihren kleinen Enkel bei sich hatten, einen etwa neunjährigen Knaben. Der Junge gefiel dem Offizier, er sah sehr klug aus und war artig gegen seine Großeltern. „Komm doch einmal her zu mir!“ rief der Offizier, der beim Frühstück saß, in französischer Sprache dem Jungen zu.
Ohne Scheu folgte der Knabe.
„Wie heißt du denn?“ – „Pierre“.
„Bist du immer bei den Großeltern?“
„Ja, wenn Schule ist. Aber in den Ferien bin ich daheim bei meinen Eltern im nächsten Dorf; dort ist keine Schule.“
„So; komm einmal mit mir, Pierre, und führe mich in die Schule!“
Ängstlich sahen die alten Leute den Knaben an der Hand des Offiziers hinausgehen. Unter der Türe blickte der Kleine noch einmal zurück und rief: „Keine Angst, gute Großmama!“ Die Straßen waren noch von Rauch und Brandgeruch erfüllt; im untern Teil des Dorfes glühten noch die Brandstätten des gestrigen Abends. An der Kirche vorbei führte der Knabe den Leutnant zum Schulhaus. Die Türe stand offen. Sie gingen hinein. Rechts vom Eingang deutete der Kleine auf ein offenes Schulzimmer: „Das ist unsere Klasse. Gestern waren wir gerade in der Schule, als es hieß:
„Die Ulanen kommen!“
„Dann seid ihr alle ausgerissen.“ – „Ja.“
Der Offizier ging zu der großen Schultafel, die vorn beim Fenster war. Die ersten Zahlen einer Rechnung standen darauf. Der deutsche Offizier nahm vom Boden die Kreide, die wohl gestern dem französischen Schulmeister im Schrecken aus der Hand gefallen war, und nun schrieb er mit großer Schrift in französischer Sprache an: Die deutschen Soldaten tun keinem Menschen etwas zuleide, wenn man ihnen nichts zuleid tut. Die deutschen Soldaten verbrennen jedes Dorf, aus dem geschossen wird.
„So, kannst du das lesen?“
„Ja, gut!“ sagte der kleine Bursche und las laut und deutlich das Geschriebene vor.
„Nun, Pierre, gehe und sage allen Leuten, was da steht, und daß sie kommen sollen und es lesen. Hast du nicht selbst gesehen, daß es wahr ist? Haben wir nicht das Unterdorf verbrannt, weil man von dort auf uns schoß? Haben wir nicht das Oberdorf geschont? Sind wir zwei nicht ganz gut Freunde?“ Er streckte dem Bürschchen die Hand hin. Es hat verstanden und schlug ein. „Nun so spring, kleiner Kamerad.“ Der Knabe rannte davon und machte sich sehr wichtig mit seiner Nachricht. Alle Leute mußten die Schrift lesen.
Einen Tag hatte die Truppe auf nachfolgendes Militär zu warten, am nächsten Abend traf dieses ein und nun sollte es weiter gehen in der Richtung nach Paris. Aber ehe noch die Truppen abzogen, war ihnen der kleine Pierre vorausgeeilt in das Dörfchen, wo seine Eltern lebten. Es lag in der Richtung nach Paris, zwar nicht an der großen Straße, aber nahe dabei, in einem Seitental. Wer konnte wissen, ob nicht ein Teil der Soldaten sich dorthin wenden würde? Er ließ sich nicht von den ängstlichen Großeltern zurückhalten, ihn trieb es ins Elternhaus, er wollte warnen.
Die Kunde vom Nahen der Feinde, von verbrannten Dörfern, war schon in das abgelegene Örtchen gedrungen und allerlei unwahre Schauergeschichten waren dazugedichtet worden; mit Entsetzen sah man der Zukunft entgegen.
Die einzige Hoffnung war, daß die Flut nicht bis in das Seitental dringen möchte! Unwillkürlich sahen die wenigen Leute, die da hinten lebten und ihre Felder bestellten, unzählige Male nach dem Weg hinunter, der von der großen Straße ab zu ihnen führte und beruhigt waren sie, daß sie keinen Menschen sahen. Niemand ging in dieser Zeit ohne dringende Not von Ort zu Ort. Aber einmal entdeckten sie in der Ferne einen kleinen, schwarzen Punkt, der sich vorwärts bewegte und der allmählich größer wurde. Da hielten sie an mit der Arbeit.
„Nur ein Kind,“ meinte jetzt einer.
„Unser Kind,“ sagte eine Frau. Es war die Mutter von Pierre; sie erkannte ihn und rief den andern, die weiter oben im Feld arbeiteten, zu: „Pierre kommt und wie er läuft und winkt! Er hat etwas zu sagen. Heilige Maria, Mutter Gottes, wie das Kind springt!“
Da legten sie alle ihr Geräte aus der Hand und gingen dem Knaben entgegen. Der war nicht wenig stolz, als sie ihn nun alle umstanden und lauschten, was er zu Berichten wußte. Daß das untere Dorf in Brand geschossen war und viele Menschen dabei umgekommen seien.
Aber bald geriet der kleine Mann in Zorn; denn sie hörten ihn nicht ganz an. Von der Schule und der Schrift an der Tafel wollten sie nichts wissen, und ihm war das doch die Hauptsache. Er wußte doch, wie man es machen mußte, damit die Häuser nicht verbrannt wurden, und war deshalb in solcher Eile zwei Stunden weit gelaufen, daß er noch glühte und kaum Atem fand.
Nun jammerten die Weiber: „Was tun, wohin fliehen vor diesen Barbaren?“
Die Männer waren ja fast alle in den Krieg gezogen, nur einer stand dabei, der ganz verwachsen war. Dieser stieß wilde, drohende Flüche aus gegen die Deutschen. Sie sollten nur kommen, ganz nahe heran, und aus dem Heuschober an der Straße wollte er sie niederknallen.
„Ja, ja, holt eure Büchsen,“ schrieen die Frauen.
„Ich hole die von meinem Mann!“ rief Pierre’s Mutter und alle liefen in ihre Häuser.
Wären die Deutschen in dieser Stunde gekommen, es wäre vielleicht einer von ihnen getroffen worden, und ganz gewiß wären die Bauernhöfe mitsamt ihren Bewohnern in Brand geschossen worden. Aber zum Glück zeigten sich noch keine Deutschen und allmählich beruhigten sich die Leute ein wenig. Pierre folgte seiner Mutter, die nach des Vaters Pistole suchte. Da griff er nach ihren vor Aufregung zitternden Händen und flehte sie an:
„Mutter, ich schwöre dir’s bei allen Heiligen, es geschieht uns nichts, wenn ihr nicht schießt! Ich habe es doch gesehen: Im obern Dorf haben sie nicht geschossen und es ist keinem was geschehen und ich war doch selbst dabei, wie es der Offizier an die große Schultafel geschrieben hat, und er hat neben uns geschlafen heute Nacht, hat an unserm Tisch gefrühstückt und freundlich mit mir geredet. An seiner Hand bin ich ganz allein mit ihm im Schulhaus gewesen und es ist mir nichts geschehen.“
„Du ganz allein mit einem deutschen Offizier! Das ist ein Wunder Gottes!
Hört man doch immer, daß sie die Kinder aufspießen, die Unmenschen!“ Da stampfte der Bub zornig auf den Boden. „Es sind keine Unmenschen, es ist verlogen! Aber natürlich, wenn ihr schießt, dann können wir alle braten in den Flammen unserer Häuser!“
Jetzt staunte die Mutter über ihren Buben und sie legte die Pistole weg.
„Wenn das so ist, Pierre, warum hast du es den andern nicht gesagt?“
„Sie haben mich ja nicht hören wollen, haben alle zusammengeschrieen.“ – „So komm mit, Pierre, komm, du mußt es ihnen allen erzählen; mach schnell, schnell, daß sie’s hören, ehe die Deutschen kommen.“
Sie gingen miteinander, um den Buckeligen aufzusuchen; die Frauen kamen auch herzu und jetzt horchten sie alle und staunten den Pierre an, der Hand in Hand mit einem deutschen Offizier gegangen und nicht aufgespießt worden war. Dann wurden sie nachdenklich, ob man wirklich trauen könne, sprachen lebhaft hin und her, bis eine rief: „Da unten kommen sie!“
Ein kleiner Trupp Deutscher bewegte sich zwischen Wiesen das Tal herauf. Ein Offizier mit Mannschaften, die einen leeren Wagen mit sich führten. Wie gebannt standen die Leute; wußten nicht, sollten sie davonlaufen oder sich verstecken. Aber es war kein Wald in der Nähe, Felder und Wiesen ringsum.
Als die Feinde näher kamen, zogen sie sich alle in das nächste große Bauernhaus zurück und beobachteten mit Todesangst, was nun geschehen würde. Pierre und seine Mutter waren auch dabei. Plötzlich rief der Knabe: „Seht ihr den großen Offizier, es ist derselbe, der so freundlich gegen mich war. Das ist gut, den verstehen wir auch, er redet französisch. Dem kann man gleich sagen, daß von uns niemand auf ihn schießt. Sagst du es ihm, Mutter?“
„Wie werde ich den Offizier anreden, ich fürchte mich zu Tode, wenn er kommt!“
„Ich nicht, ich gar nicht, ich springe ihm gleich entgegen!“ Und richtig, der kleine Bursche sprang die Wiese hinab, dem Feinde entgegen.
Mit Herzklopfen sahen alle ihm nach. Die Truppe mochte wohl sehr erstaunt sein, daß hier ein Knabe zutraulich ihnen entgegenkam, anstatt von ihnen davonzurennen, wie es sonst geschah. Aber der Leutnant erkannte den kleinen Burschen sofort wieder, redete ihn freundlich an und führte ihn an der Hand. Pierre verstand nicht die deutschen Worte, in denen der Offizier seinen Leuten die Bekanntschaft erklärte und ahnte nicht, daß er sagte:
„Vorsicht! Es kann eine List sein, mit der man uns in irgend einen Hinterhalt locken will. Bleibt nahe bei mir! Solange wir das Kind vorne haben, werden sie schwerlich auf uns schießen.“
Nun kamen sie den Häusern ganz nahe. „Dort ist meine Mutter,“ sagte Pierre und vom Haus aus sahen alle die Geängstigten, daß Pierre den Soldaten den Weg zu ihnen wies. Pierre wollte nun vorausspringen.
„Bleib bei mir, kleiner Freund,“ rief der Leutnant und hielt den Knaben fest. Da sah dieser betroffen auf.
„Hab‘ keine Angst, wir tun niemand etwas, wenn sie uns nichts tun. Aber bis ich das weiß, mußt du bei mir bleiben.“
Das kluge Bürschlein verstand sofort, wie das gemeint war. Wußte er doch selbst, daß dem Buckligen nicht zu trauen war. Der Kleine mußte den großen Offizier schützen.
Nun waren sie am Haus. Das Kind an der Hand, trat der Leutnant ein, gefolgt von seinem Trupp. Er machte die Stubentüre auf, sah vor sich ein paar Männer und eine ganze Anzahl Weiber und Kinder, die sofort anfingen zu schreien, wie wenn sie schon am Spieß steckten.
Der Leutnant rief mit fester, lauter Kommandostimme: „Wir kommen nicht als Feinde in euer Haus. Keinem wird ein Haar gekrümmt, wenn ihr nicht feindlich gegen uns seid. Wenn aber irgend etwas gegen uns geschieht, wird sofort auf euch geschossen und die Häuser verbrannt!“ Totenstille herrschte jetzt. Da wagte doch Pierre’s Mutter ein Wort:
„Mein Kleiner hat uns schon gesagt, daß der Herr so gut ist und niemand wird etwas Feindseliges tun.“ – „Nein, niemand,“ betätigte der Chor der Weiber. Aber das scharfe Auge des Offiziers hatte im Hintergrund den bösen Blick des Buckligen gesehen und – eine Pistole in seiner Hand. „Die Pistole weg oder ihr seid alle des Todes!“ Die Weiber kreischten auf vor Schrecken, aber der Bucklige hatte die Pistole schon auf den Tisch gelegt und lächelnd entschuldigte er sich: „Pardon, es war nur Zufall, ich wollte nichts mit der Pistole, wirklich nicht, im Krieg hat man eben seine Waffe bei der Hand!“
Der Offizier ging an den Tisch, nahm die Pistole zu sich und sagte ruhig zu dem Buckligen: „Sie werden einstweilen bei meinen Leuten bleiben, bis wir fertig sind.“ Ein Wink und die Soldaten führten den Buckligen ab.
„Hände hoch!“ befahl der Offizier. Alle Anwesenden hielten die Hände hoch – keine Waffe, kein Messer zeigte sich.
„Es ist gut,“ sagte der Offizier und ließ seinen kleinen Kameraden frei.
Dann erklärte er den Leuten in freundlichem Ton, daß er gekommen sei, bei ihnen Lebensmittel einzukaufen für die Soldaten. Sie sollten nun alle aus ihren Häusern bringen, was sie an Butter und Eiern, an Gemüsen, Fleisch und sonstigen Lebensmitteln irgend entbehren könnten und sollten es an den Wagen bringen. Es würde alles gut bezahlt werden, was sie freiwillig brächten; nur wer nichts brächte, dem würden seine Leute nachhelfen ohne Bezahlung. Da sprang nun wieder Pierre allen voran, zog seine Mutter mit sich und trieb sie an, so daß sie die ersten waren, die einen Korb mit Lebensmitteln brachten. Stolz war Pierre, als er sah, wie sein Offizier alles bar zahlte. Allmählich kamen aus allen Häusern die Frauen mit Vorräten und füllten den Wagen.
Auch aus dem Haus des Buckligen wurde viel herbeigeschleppt; denn dem war es angst und bang zwischen den Soldaten. Die hatten ihn der Bequemlichkeit wegen an den Wagen angebunden, damit sie ihn nicht immer bewachen mußten. Er aber wollte sie gut stimmen, denn er traute den Feinden nicht, so rief er seiner Schwester, die mit ihm hauste, immer zu: „Noch mehr, bringe noch dies und das!“ Die leerte Küche und Speisekammer, aber ihr allein wurde nichts bezahlt. – Der Wagen war voll. In aller Freundschaft verabschiedeten sich die Soldaten, die einen guten Trunk bekommen hatten, von den Leuten.
Der Offizier sah sich den Buckligen an, er traute ihm nicht. Der konnte ihnen noch während sie abzogen schaden, er mochte wohl noch eine Büchse besitzen. Er besprach sich mit seinen Soldaten. Darauf gingen zwei von diesen noch einmal in das Haus zurück, suchten, machten da und dort eine Türe auf und zu; was wollten sie wohl? Neugierig folgte ihnen Pierre.
„Hier,“ riefen sie, „hieher bringt ihn!“ Der Bucklige wurde hereingebracht, der Offizier folgte. Sie standen vor einer Getreidekammer ohne Fenster. „Hier nehmen Sie Platz,“ sagte der Offizier. Wortlos folgte der Bucklige, glücklich, daß er nicht, wie gefürchtet, fortgeführt wurde. Die Kammertüre hatte ein großes, schweres Schloß, der Offizier schloß zu und schob den Schlüssel ein. „So, Pierre,“ sagte er, „du kannst uns noch ins Tal hinunter begleiten und dann darfst du den Schlüssel wieder heraufbringen und den Herrn wieder befreien!“
Da lachte Pierre laut auf vor Vergnügen, denn er hatte einen Grimm auf den Buckligen wegen der Pistole. Fröhlich zog er mit den Soldaten hinunter. Sie setzten ihn auf den Proviantwagen, hatten ihren Spaß mit ihm, und fragten sich: wie es wohl ohne diesen kleinen Franzosen abgegangen wäre? Und die von oben sahen dem Zug nach und dachten: Wer weiß, ob wir nicht alle dem Kleinen unser Leben verdanken?
In Gefangenschaft.
Als in die Familie des Buchhändlers Schreiber die erste Kunde vom Krieg kam, da wußten Vater und Mutter, daß ihre beiden Söhne Lutz und Wilhelm sofort mit mußten. Denn der eine stand eben beim Militär, der andere hatte im vorigen Jahr gedient. Beide waren gesunde, kräftige Leute; wenn die nicht ausziehen würden, wer dann? Darüber war also kein Zweifel! Es galt nur, so schnell wie möglich alles zu bedenken und zuzurüsten, was die Krieger im Felde bedurften. Die Mutter war unermüdlich tätig und Anna, die 14jährige Schwester, half, soviel sie nur konnte; denn ihre beiden Brüder standen ihr sehr nahe, ihnen sollte nichts fehlen von allem, was sie im Krieg brauchen konnten. Auch der Vater, der sonst den ganzen Tag in seinem Geschäft, einer großen Buchhandlung, tätig war, kam nun gar oft herauf, um auch guten Rat zu geben und noch bei seinen Söhnen zu sein; er nannte sie immer noch „seine Buben“, obwohl sie ihm beide über den Kopf gewachsen waren. Die tüchtigen, jungen Burschen waren sein Stolz und seine Freude.
Lutz und Wilhelm waren in heller Begeisterung seit der Kriegserklärung. Wohl wußten sie: der Krieg ist ein Unglück; aber daß er gerade jetzt ausbrach, wo sie beide mittun konnten, das war doch ein unerhörtes Glück! Losziehen gegen die Feinde, die ringsum anstürmten, das Vaterland schützen, das von allen Seiten bedroht wurde, das war eine herrliche Aufgabe, keine großartigere konnte das Leben bringen.
Im ganzen Haus kam keine andere Stimmung auf als diese; für Vater, Mutter und Schwester gingen die Tage der Vorbereitung wie in einem großen Begeisterungssturm dahin.
Und dann wurde es plötzlich still; der erste Abend ohne die Brüder! Die waren nun fort, in der Richtung nach Frankreich, – mehr wußte man nicht. Aber die Zurückgebliebenen begleiteten sie in treuem Gedenken, und der Vater, der den Krieg 1870 mitgemacht hatte, erzählte jetzt mehr von seinen Kriegserinnerungen, als in den vier Jahrzehnten vorher.
„So glänzend wie damals wird es jetzt nicht mehr gehen,“ sagte er. Aber siehe da, keine acht Tage waren seit dem Ausrücken der Truppe vergangen, da verkündete ein Telegramm des Generalquartiermeisters von Stein: „Die Festung Lüttich erobert!“
Das war ein glänzender Anfang und Wilhelm hatte auch seinen Anteil daran. Bald kam ein Brief voll Glück und Stolz: „Ich bin in Lüttich dabei gewesen und habe mitgekämpft! Ihr habt gewiß in der Zeitung gelesen von dem Riesengeschütz, der „fleißigen Berta“, womit wir so schnell die stolze Festung zu Fall gebracht haben. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was das für ein Höllenlärm ist, wenn unser großer Brummer loslegt und wie der Boden wankt von der Erschütterung. Und ist es nicht großartig, daß niemand etwas ahnte von solchem Riesengeschütz? Ganz im geheimen wurden sie in Krupps Fabrik angefertigt und alle Welt ist damit überrascht worden. Es ging aber heiß her und es waren schwere Gefechte, bis wir am 7. August als Sieger in die Stadt einziehen konnten. Dann aber war’s schön!
Anna, einmal hätte ich dich hergewünscht, du hättest gelacht, wenn du gesehen hättest, wie ein paar von uns eine schwarz-weiß-rote Flagge zusammen nähten, denn es war keine bei der Hand. Wir nahmen zum schwarzen Streifen ein Stück aus einer schnell zerschnittenen belgischen Hose, zum weißen ein Handtuch, der rote fiel etwas dünn aus, war ein halbes belgisches Halstuch. An einen abgehackten Besenstiel genagelt, gab das die Flagge, die auf dem Wall aufgepflanzt wurde. Es kann nichts Schöneres geben, als nach hartem Kampf eine deutsche Flagge hissen! – Was wohl Lutz erlebt, wir wissen nichts voneinander. Grüßt ihn.“
Kaum zwei Wochen später läuteten wieder die Siegesglocken in der Stadt, und von Mund zu Mund ging’s: „Großer Sieg in Lothringen“, 10000 Franzosen gefangen, 50 Geschütze erobert. Diesmal war es Lutz, der jubeln konnte: Ich war auch dabei! Und sein Brief zeigte, daß er den Lieben daheim das Herz nicht schwer machen wollte. Er schrieb: „Von all den Toten und Verwundeten schreibe ich nicht, Ihr werdet genug davon lesen und hören. Aber ich sage Euch, nichts Erhebenderes gibt es als mitzuerleben, wie so viele Tausende mit Kampfesmut ins Feuer sehen und nichts Beglückenderes, als nach gewonnener Schlacht die Freude und den Stolz unserer Offiziere zu sehen und ihren Dank, ja den Dank von unserem obersten Kriegsherrn, von unserem Kaiser, zu hören. Wohin wir jetzt kommen, weiß ich nicht.“
Ja, jetzt wurde es still; eine Woche, zwei Wochen vergingen, von den beiden Brüdern kam keine Nachricht. Das war eine bange Zeit daheim! Warum schrieben sie nicht? War die Post schuld oder lagen sie irgendwo schwer verwundet oder tot? Es kamen immer neue Verlustlisten. Mit Herzklopfen wurden sie durchgelesen; das tat der Vater unten im Geschäft. Er suchte so eifrig nach den Namen seiner Söhne und suchte doch mit der Hoffnung, sie nicht zu finden. Und wenn er die Listen durchgesehen hatte, kam er herauf ins Wohnzimmer und sagte beruhigend: Nichts gefunden.
Aber eines Tages – die Mutter und Tochter waren eben beschäftigt für jeden der Brüder ein Päckchen mit warmen Socken zu packen – da trat der Vater mit der Verlustliste in der Hand herein. Die Mutter sah ihn an und wurde bleich. „Was ist’s?“ „Keine Todesanzeige, keine Verwundung. Aber hier; Lutz Schreiber, vermißt.“ Und er fügte hinzu: „Wir brauchen uns nichts Schlimmes vorzustellen. Ihr werdet euch erinnern, daß erst kürzlich in einem Artikel ausgeführt wurde, wie bei jeder Schlacht einzelne versprengt werden, von ihrer Truppe abkommen und sich einem andern Regiment anschließen, weil sie nicht gleich die Möglichkeit finden, zu ihrer Truppe zurückzukehren.“
„Ja,“ sagte Anna, „bei dem Bruder meiner Freundin war es ja auch so, weißt du noch, Mutter?“ Vater und Tochter hatten dasselbe Gefühl: sie wollten der Mutter Mut machen. Sie hatte nach dem Blatt gegriffen; das zitterte aber so sehr in ihren Händen, daß sie nicht lesen konnte. Sie legte es weg. „Setze dich, Mutter!“ Anna schob ihr einen Stuhl hin; die Mutter griff nach der Hand ihres Mannes und sagte: „Bleibe noch ein wenig oben bei uns, es ist so schwer!“
Und wie in der ersten Stunde, so hielten die drei zusammen in den langen, schweren Zeiten der Ungewißheit, die nun folgte. Gegenseitig machten sie sich Mut und trugen in Geduld die Sorge.
Dann kam wieder ein Lichtstrahl, eine Karte von Wilhelm: „Wochenlang habe ich nichts von euch gehört, ihr wohl auch nicht von mir? Die Post hat versagt. Aber heute: sechs Paketchen und Briefe von euch und dazu vier gewaltige Kisten voll Liebesgaben für unser Regiment. Warme, saubere Hemden! Ihr wißt nicht, was das für eine Wonne ist! Ich und fünf Kameraden steckten seit vierzehn Tagen in feinen, weißen, spitzenbesetzten Damenhemden; die fanden wir in einer halb abgebrannten Villa eines verwüsteten Dorfes und zogen sie an, weil unser Zeug in Lumpen war. Jetzt schwelgen wir in warmer Unterwäsche, in Zigarren und Würsten und sagen tausend Dank für alle Liebesgaben. Was wißt ihr von Lutz?“
Die Wochen vergingen. Wieder kam der Vater mitten am Nachmittag herauf; er hatte einen Brief in der Hand. „Von Lutz,“ sagte er; aber es klang nicht fröhlich, und auf die gespannten, fragenden Blicke von Frau und Tochter antwortete er: „Er ist gesund, aber gefangen ist er!“ – „Also doch, o Gott, gefangen!“ rief die Mutter. – „Aber er lebt doch und ist gesund,“ tröstete Anna; „bitte, Vater, lies seinen Brief vor!“
„Ja, es steht nicht viel darin; jedenfalls werden die Briefe gelesen und deshalb ist er in einem unnatürlich gezwungenen Ton geschrieben; manches ist wunderlich.“ Er las vor: „Liebe Eltern! Ich bin gefangen in Frankreich; man sagt uns nicht wo. Ich habe über nichts zu klagen und bin gesund. Schreibt mir an die Adresse, die außen auf dem Brief angegeben sein wird. Ich wüßte so gern, wie es Euch und Wilhelm geht. Es ist hier eine schöne Gegend und wärmer als bei uns. Ich grüße Euch alle.
Meine liebe Schwester Anna soll Pater Renatus, Onkel Valentin, Exzellenz Neuburg und Christine Ebner, mein Liebchen, von mir grüßen. Hebt auch für meine Markensammlung die französischen Marken gut auf. Euer treuer Sohn und Bruder Lutz.“
Sie sahen sich alle drei betroffen an. „Der Brief ist gar nicht von Lutz!“ rief Anna. „Die Leute, die wir grüßen sollen, kennen wir ja gar nicht. Einen Pater, einen Onkel Valentin, die Exzellenz.“ – „Ja, es ist ganz wunderlich; und wie sollte Lutz so ganz gewöhnliche Marken für seine Sammlung wollen. Es sind vier Fünfcentimes-Marken.“ – „Aber doch fragt er nach Wilhelm, und es ist ja seine Schrift, seht nur, darüber kann doch kein Zweifel sein.“
„Dann ist er verwirrt im Kopf, fieberkrank vielleicht.“
Sie schwiegen alle drei und grübelten über den merkwürdigen Brief. Da leuchtete es plötzlich in Annas Gesicht auf: „Darf ich den Umschlag haben, Vater? Ich möchte die Marken ablösen.“
„Warum?“
„Er möchte sie doch haben!“ – „Da nimm!“
Mit großer Vorsicht befeuchtete Anna den Umschlag mit Wasser. Die Marken fingen an sich zu lösen, behutsam hob sie ein Eckchen und sah darunter.
„Da steht etwas geschrieben,“ rief sie, „ich habe mir’s doch gedacht!“ – „Nur sachte, sachte!“
Alle drei waren in höchster Spannung, bis die vier Marken glücklich gelöst waren. Es kamen Worte zum Vorschein, in winzigen Buchstaben mit spitzem Bleistift geschrieben, und sie entzifferten folgendes:
Dürfen die Wahrheit nicht schreiben. Behandlung schlecht, aber wir sind gesund, halten es gut aus. Sorgt Euch nicht, wir leiden fürs Vaterland, dem Gott den Sieg geben wird. Fröhliches Wiedersehen im Frieden. Ja, aus diesen Worten erkannten sie ihren tapfern Sohn und Bruder wieder! Immer aufs neue lasen sie das winzige Brieflein und waren tief bewegt.
„Bitte Vater, gib mir den andern Brief, sagte plötzlich Anna lebhaft, ich glaube, ich bringe auch da noch einen Sinn heraus. Er schreibt ja, ich soll seine Grüße ausrichten. Warum soll gerade ich den Onkel Valentin und die andern Herrschaften grüßen, die doch gar nicht existieren? Das bedeutet etwas. Die Brüder und ich haben ja früher zum Spaß oft Geheimschriften betrieben. Ich werde schon etwas herausbringen!“
Da saß sie nun eine Weile mit Bleistift und Papier, sann nach über die geheimnisvollen Namen und endlich kam sie darauf, die Anfangsbuchstaben zusammenzusetzen von „Pater Renatus, Onkel Valentin, Excellenz „Neuburg, Christine Ebner, und diese Buchstaben zusammen ergaben das Wort: Provence. „In der Provence ist er,“ rief sie triumphierend und sie lachte fröhlich, wie in der glücklichen Zeit, wo sie mit den Brüdern ihren Spaß gehabt hatte. „Mutter,“ sagte sie, „du darfst dich nicht zu arg bekümmern um Lutz, der ist noch ganz fidel; er hätte doch ebensogut einfache Namen wählen können. Aber das hat ihm nun gerade Spaß gemacht, und ich kann mir denken, wie er gelacht hat über den Pater, die Excellenz und gar über das Liebchen, Christine. Ich werde ihm auch einen schlauen Brief schreiben, mit dem soll er sich die Zeit vertreiben.“
So kam es, daß Eltern und Schwester, trotzdem sie Lutz in der Gefangenschaft wußten, doch getroster waren, als in den vorhergegangenen Wochen der Unsicherheit. Sie wußten nun doch, wo sie mit ihren treuen Gedanken den Sohn zu suchen hatten, und wenn er auch schlecht behandelt wurde, er nahm es ja tapfer auf. Auch sie wollten tapfer bleiben; manchem, der fürs Vaterland in den Krieg zieht, fällt dies traurige Los. Keiner darf sagen: alles nur dies nicht! Nein, was da kommt, möchte es auch das Schwerste sein, willig muß es ertragen werden.
Einige Tage nach dem Eintreffen dieses Briefes kam in die Stadt ein großer Transport von französischen Gefangenen. Eine Menge Menschen lief, sich diese anzusehen, als sie vom Bahnhof durch die Stadt hinausgeführt wurden auf den Schießberg, wo große hölzerne Baracken für sie errichtet und mit starkem Stacheldraht umzäunt waren.
Aber aus der Familie Schreiber mochte niemand hinausgehen, die Gefangenen zu sehen. Es war ihnen zu traurig, sie mußten dabei zu schmerzlich an ihren Gefangenen in Frankreich denken. Es lockte sie nicht, die Waffenlosen zu sehen, die mit gesenktem Kopf an der gaffenden Menge vorbeizogen, und auch die nicht, die frech oder haßerfüllt mit feindlichen Blicken nach den Deutschen sahen.
Dennoch beschäftigten sich die Gedanken des Buchhändlers immer mit den Gefangenen und ganz im stillen reifte in ihm ein Plan. Aber er konnte sich nicht entschließen, davon zu sprechen; denn es war etwas, das seiner Frau sehr schwer fallen würde, und sie hatte doch schon so viel zu tragen.
Eines Abends kamen sie miteinander aus der Kirche. Ein Kriegsgottesdienst war gehalten worden und die mahnenden Worte klangen in ihnen noch nach: „Helfen, wo wir irgend helfen können, tragen, was immer uns auferlegt sein mag.“ Da fand Herr Schreiber den Mut, seiner Frau den Plan mitzuteilen; und er sprach zu ihr, während er sie am Arm durch die dunkelnden Straßen führte: „Pauline, wenn du noch etwas mehr tragen willst zu allem, was dir schon auferlegt ist, so könnte ich noch etwas helfen.“
Auch sie war noch erfüllt von dem, was sie eben im Gottesdienst gehört hatte. „Natürlich tragen wir und helfen wir so viel wir irgend können.
Was meinst du?“ – „Ich habe mich erkundigt, ob man mich trotz meiner Jahre noch brauchen könnte zur Aufsicht bei gefangenen Offizieren. Und ich bekam den Bescheid, daß dies bei meiner früheren militärischen Stellung wohl sein könnte und daß meine gute Kenntnis der französischen Sprache hierfür wertvoll wäre. So würden sie mich also wieder in Uniform stecken und auf irgend einer Festung anstellen. Also müßtest du auch deinen Mann noch hergeben.“
„Könntest du nicht bei den hiesigen Gefangenen sein?“
„Hier sind keine Offiziere und das, was ich erstrebe, kann ich am ersten bei Offizieren erreichen. Sieh, meine Hoffnung ist, daß ich mit meinem Dienst bei französischen Gefangenen den deutschen Gefangenen dienen kann. Unter den französischen Offizieren ist eine ganze Anzahl, die in ihrem Land eine hohe Stellung einnehmen und deshalb Einfluß ausüben, sogar während der Gefangenschaft durch ihre Briefe und Beziehungen. Gelingt es mir, diesen Offizieren Achtung einzuflößen durch gerechte Behandlung und ihnen ein besseres Verständnis für deutsche Art beizubringen, so könnte das guten Einfluß ausüben auf die Behandlung unserer Gefangenen in Feindesland. Wer kann sagen, das sei unmöglich?“
„Ich nicht, ich gewiß nicht. Nur denke ich, bei uns behandelt jedermann die Gefangenen gut.“
„Gut, was heißt gut? Neulich erzählte mir jemand, daß elf französische gefangene Offiziere, denen Schweinebraten und Sauerkraut vorgesetzt worden waren, diese Speise, die ihnen nicht behagte, mitsamt den Tellern unter die Bank geworfen haben. Diese Gefangenen waren zu gut behandelt worden, sonst hätten sie sich solche Frechheit nicht erlaubt. Zu gut ist aber nicht mehr gut, zu gut ist schlecht, macht uns lächerlich und verächtlich in den Augen der Feinde. Nur wer streng ist und mit festem Charakter auftritt, kann „die“ Güte zeigen, die nicht mißbraucht wird.“
Da erwiderte seine Frau nachdenklich: „Ja, ich glaube, daß dir das gelingen würde; du könntest da Gutes wirken. Du „könntest“ nicht, du kannst. Wenn du mich fragst, ich halte dich nicht zurück, zu helfen, ich will die Trennung tragen.“
„An der tragen wir beide gleich schwer,“ sagte der Mann und fühlte, wie weh ihm der Abschied tun würde, den er doch freiwillig auf sich nahm. Schon nach kurzer Frist kam die Einberufung, kam die Trennung und die große Stille im Haus. Aber an dem Abend, da Mutter und Tochter zum ersten Male zu zweien am Tisch saßen und ihre Vereinsamung so recht schmerzlich empfanden, traf ein Telegramm ein von Wilhelm. Es lautete: „Komme morgen mit ganz leichter Verwundung einige Wochen heim.“ Ja, eine schwere Zeit, aber eine Zeit voll Überraschungen ist der Krieg!
Der junge Professor
Als das neue Schuljahr begann, hatten wenige von den Schülern und auch wenige von den Lehrern Freude daran. Während der Ferien war der Krieg ausgebrochen; seitdem mochte man nichts hören, nichts reden, nichts lesen als vom Krieg; und nun sollte wieder Schule gehalten werden, wie wenn es gar keinen Krieg gäbe!
Einer aber freute sich doch darüber. Das war der junge Lateinschullehrer Jahn. Er lebte mit seinen alten Eltern zusammen, war ihr einziger, geliebter Sohn, und die drei verstanden sich prächtig. Aber still war es in diesem Heim, und so freute sich der junge Mann immer schon am Ende der Ferien auf die Zeit, bis er wieder seine Jungen in der Klasse um sich hatte.
In diesem Jahr ganz besonders. Mit ihnen zusammen wollte er die großen Kämpfe durchleben und sich über die deutschen Siege freuen, mit ihnen, den künftigen Soldaten Deutschlands! Er selbst wäre ja so gerne gleich mit hinausgezogen ins Feld! Aber bis jetzt war er noch nicht einberufen, und die Eltern waren glücklich, daß ihnen ihr Einziger blieb. So sprach er nicht viel davon, wie es ihn drängte, mit ins Feld zu ziehen. Er sagte sich: Vielleicht kannst du auch unter deinen Jungen etwas fürs Vaterland wirken. Er wußte noch nicht auf welche Weise; aber die warme Liebe, in der sein Herz fürs Vaterland glühte, die mußte doch auch die Herzen der Jungen erwärmen.
Der erste Schultag kam. Im Gymnasium war vieles verändert. Mehrere Lehrer fehlten; sie waren einberufen worden. Die Klaßzimmer waren anders eingeteilt; denn man hatte Platz machen müssen für einige Klassen Volksschüler. Das große, neue Volksschulgebäude, das nahe dem Gymnasium lag, war als Lazarett für Verwundete eingerichtet und die Schüler mußten in andere Schulen verteilt werden. Solch eine Klasse Volksschüler war auf demselben Stock und gerade gegenüber dem Klassenzimmer untergebracht, in dem nun Professor Jahn seine Schüler wiederfand. Es waren Jungen im Alter von 11-12 Jahren, die er schon im Vorjahr gehabt hatte. Frisch und gesund sahen sie fast alle aus nach der Ferienzeit und lebhafter als früher blickten sie aus den Augen, hatten sie doch alle so Großes erlebt. Erwartungsvoll schauten sie nun ihren Lehrer an; der würde gewiß etwas über den Krieg sagen; oder sollte er doch gleich mit dem Latein anfangen?
Bewahre! Das konnte er nicht. Er redete mit seinen Schülern über das, was das deutsche Vaterland in den letzten Wochen erlebt hatte. Er wollte auch wissen, ob es ihnen allen ganz klar sei, daß wir ohne Schuld zu diesem furchtbaren Krieg gezwungen wurden. Dann fragte er nach den Feinden und sie riefen durcheinander: Russen, Franzosen, Serben, Engländer, Belgier, Japaner, Montenegriner. – Und unsere Freunde? Da schallte das einzige Wort durch die Klasse: Österreich!
„Ja, so viele Feinde und nur einen Freund! Da haben wir armen Deutschen wohl auch noch gar keinen Sieg erfochten? Oder wißt ihr einen zu nennen?“
Da brüllten sie durcheinander: „In Lothringen, Lüttich, in Ostpreußen, Namur, Maubeuge, Brüssel!“
Einer rief: „Paris!“
„Halt, halt, soweit sind wir noch nicht!“
„Aber soviel wie besiegt ist’s!“
„Aber doch nicht besiegt. Nur kein Wort mehr sagen, als wahr ist! Über was beschweren wir uns denn so sehr bei unseren Feinden, wer weiß es?“
„Über die Grausamkeit,“ rief einer.
„Ja, ich meine aber etwas anderes.“
„Über das, daß sie gegen uns Krieg führen,“ meinte ein kindliches Bürschlein.
„Ja freilich, aber das tun die Feinde meistens. Ich meine etwas, das mir eingefallen ist, weil einer von euch schon Paris gerufen hat.“
Jetzt kam es vielen zumal: „Über die Lügen.“
„Jawohl, sie lügen. Pfui, das wollen wir ihnen nicht nachmachen; und wer sonst manchmal übertrieben oder geschwindelt hat, der soll sich’s in diesem Krieg abgewöhnen. Wer ein ehrlicher Deutscher ist, der sagt nicht mehr als die Wahrheit.“
Plötzlich unterbrach sich der Lehrer: „Kinder, es ist schon halb neun Uhr, schnell die Bücher her! Um zehn Uhr sprechen wir weiter. Ich möchte von euch allen wissen, ob jemand aus euer Familie im Krieg ist. Das erzählt ihr mir dann. Jetzt muß gelernt werden und zwar fest. Stramm an die Pflicht wie unsere Soldaten!“
Es war heute ein guter Geist in der Klasse, fast ein militärischer; etwas vom Krieg war hereingeweht.
Um zehn Uhr wurde Professor Jahn zum Rektor gebeten, so konnte er nicht bei seinen Schülern bleiben. Als er nach der Pause zurückkam und über den großen Vorraum ging, in dem sich sonst seine Klasse tummelte, traf er dort nur die Knaben der Volksschule, keinen einzigen seiner Schüler.
„Seid ihr die ganze Zeit über im Schulzimmer geblieben?“ fragte er, als er wieder in seine Klasse trat. Erwin Planck, ein frischer Bursche, der oft den Sprecher für die Klasse machte, gab auch jetzt aufrichtige Antwort: „Draußen ist ein ganzer Haufen Volksschüler; da können wir nicht hinaus. Wir haben oft Händel mit ihnen gehabt, wenn wir an ihrer Schule vorbeigekommen sind.“ – „Die gehören auch nicht herein ins Gymnasium!“ Der ganze Schülerchor stimmte zu.
Der junge Lehrer dachte daran, wie soeben der Rektor darüber gesprochen hatte, es werde schwierig sein, daß sich die Schüler der verschiedenen Anstalten gut miteinander vertragen. Er hatte recht gehabt. „Vielleicht läßt es sich so einrichten, daß auf unser Stockwerk keine Volksschulklasse kommt,“ entgegnete er, „ich werde noch mit dem Herrn Rektor darüber sprechen.“
Die Arbeit begann nun wieder, aber dem jungen Lehrer gingen allerlei Gedanken durch den Kopf und eine halbe Stunde vor Schulschluß hielt er es nicht mehr aus. „Macht eure Bücher zu,“ rief er, „ich will das schon verantworten vor dem Herrn Rektor. Wir müssen uns doch erst miteinander aussprechen. Wir gehören zusammen, haben das letzte friedliche Schuljahr miteinander verbracht und wollen auch diese Kriegszeit zusammen erleben.
Das ist aber nicht ein Krieg, der uns so fern steht wie die andern Kriege, die wir ganz kühl in der Geschichtsstunde durchnehmen; das ist ein Krieg, der uns allen zu Herzen geht und in unsere Häuser, in unser Leben eindringt; hat er ja doch bis in unser Schulhaus herein seine Wirkung gezeigt. So dürfen wir uns auch die Zeit gönnen, miteinander davon zu reden. Einer ist unter uns, der hat schon seinen Vater verloren. Helmut Hartmann, nicht wahr, dein Vater ist als Offizier in der Schlacht bei Luneville gefallen? Du tust mir herzlich leid; aber einen schöneren, ehrenvolleren Tod als den im siegreichen Kampf gibt es nicht. Ich fordere euch, ihr Kameraden von Helmut Hartmann, auf, daß ihr alle aufsteht, um eurem Mitschüler die Teilnahme und seinem Vater die Ehre zu erweisen!“
Da erhoben sich alle und standen lautlos still; Helmut aber war tief bewegt von der Ehrung.
„Nun sage uns doch, Helmut, habt ihr Näheres gehört über den Tod deines Vaters?“
„Ja,“ antwortete dieser, nahm sich fest zusammen und stand stramm, wie er’s wohl von klein auf bei den Offiziersburschen gesehen hatte, die seinem Vater etwas zu melden hatten.
„Ja, wir haben gehört, daß mein Vater im Gefecht von einem Schrapnell getroffen und am linken Arm verwundet wurde. Ein Soldat, der hinter ihm stand, sah, wie er blutete, mein Vater achtete in der Hitze des Gefechtes nicht darauf und drang mit seiner Truppe weiter auf den Feind ein. Da traf ihn wieder ein Geschoß, diesmal an den Kopf. Er stürzte, war aber nicht tot. Soldaten hoben ihn auf und trugen ihn beiseite hinter ein Gebüsch, daß ihn der Feind nicht sähe, und legten ihm einen Notverband an.
Dann mußten sie wieder ins Gefecht, das sich noch eine Stunde weiter hinzog, und es wurde Nacht, bis der Feind zurückgedrängt und geschlagen war. Man konnte die vielen Verwundeten in der stockfinstern Regennacht nicht mehr heimholen; aber die zwei Soldaten, die meinen Vater geborgen hatten, gewannen noch zwei aus ihrer Truppe, daß sie doch noch miteinander auszogen, ihren Offizier zu suchen, obwohl es fast unmöglich schien in dem fremden Gelände und in der finsteren Nacht. Aber sie fanden ihn, und er lebte noch und dankte ihnen, daß sie zu ihm gekommen waren. Sie gaben ihm Wein, legten ihn auf einen Mantel und trugen ihn sorgsam bis in das Dorf, in dem ein Feldlazarett aufschlagen war. Dort wurde er verbunden, dort hat er auch noch erfahren, daß die Schlacht gewonnen war, und hat uns Grüße schreiben lassen. – Am Tag darnach ist er gestorben. Vor seinem Tod hat er gesagt: ‚Laßt mich auf dem Schlachtfeld begraben.‘ Seine Soldaten haben ein Grab geschaufelt und Ehrensalven darüber abgegeben. Aus zwei Latten haben sie, ehe sie weiter ziehen mußten, ein Kreuz gemacht und haben das Grab mit Feldblumen bestreut.“
Der tapfere Offizierssohn hatte mit klarer Stimme vom Tode seines Vaters berichtet. Sein Lehrer war ergriffen. „So liegt er auf dem Schlachtfeld begraben,“ sagte er, „das ist das ehrenvollste Soldatengrab. Habt ihr gelesen, was man nach dem Tode des Prinzen Ernst Ludwig von Meiningen in seinem Feldnotizbuch aufgezeichnet fand? ‚Wenn ich auf dem Feld der Ehre für Deutschlands Größe fallen sollte, so begrabt mich nicht in meiner Fürstengruft, sondern scharrt mich in das Grab meiner tapferen Kameraden ein. Grüßt mir meinen Kaiser.‘ – Seht, so schreibt ein Fürst. So mag sich auch jeder Sohn, jede Frau, jede Mutter trösten, wenn ihr gefallener Held nicht auf dem heimischen Friedhof ruht.
Nun aber möchte ich euch auch etwas zu bedenken geben. Wer hat denn diesem tapferen Offizier, von dessen Tod wir gerade gehört haben, den letzten Liebesdienst erwiesen? Wer hat ihn aus dem Gefecht getragen? Wer hat ihn nach stundenlangen Kämpfen, selbst todmüde und durchnäßt noch nachts gesucht, gestärkt, getragen und den Sterbenden auf ein Ruhebett gebracht? Das waren gemeine Soldaten. Kinder, das waren vielleicht alle einmal Volksschüler. In der Schlacht, im fürchterlichsten Ernst des Lebens, da erkennt man, wie nichtig diese Klassenunterschiede sind. Und nun möchte ich euch fragen: wollt ihr nicht das in dieser Kriegszeit beweisen, daß wir Deutsche alle Brüder sind, alle zusammen gehören, reich und arm, vornehm und gering, Lateinschüler und Volksschüler! Unser Kaiser hat gesagt: ‚Nun kenne ich keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.‘ Wollt ihr sagen: ‚Wir kennen keinen Klassenunterschied mehr, nur deutsche Kameraden?‘“
„Ja, bei Gott, das wollen wir.“ Helmut, der Offizierssohn, hatte das gerufen, und das „ja“ ging durch die ganze Klasse.
Am Abend dieses ersten Schultags suchte Professor Jahn den Volksschullehrer auf, dessen Klassenzimmer dem seinigen gegenüber lag. Er sprach mit diesem Lehrer, der schon ein älterer, erfahrener Mann und Oberlehrer der Volkschule war. Die beiden Herren verstanden sich gut. Am nächsten Morgen, vor der Pause, redete der Oberlehrer seine Volksschüler an: „Haltet Frieden mit den Lateinschülern, die alberne Feindschaft verbitte ich mir. Wenn draußen Krieg ist, muß im Land Frieden sein, auch unter den Buben. Verstanden?“
Einer gab Antwort: „Die wollen gar nichts von uns, die sind hochmütig.“ – „Ja manche, aber nicht alle; und ihr seid neidisch – auch nur manche, nicht alle. Da tut mir die Wahl weh, was schlimmer ist. Aber den Hochmütigen vergeht der Hochmut im Krieg und den Neidischen der Neid; weil sie alle zusammen eine große Aufgabe haben und nur einen Wunsch: daß wir siegen. Siegen können wir nur, wenn wir alle einig sind. Und siegen müssen wir doch oder nicht?“ – „Ja, ja!“ das kam allen aus dem Herzen.
Um zehn Uhr, während der Pause, kam die ganze Klasse von Professor Jahn auf den Vorplatz, in dem sich schon die Volksschüler des gegenüber liegenden Zimmers aufhielten. Heute kam auch der Oberlehrer und Professor Jahn dazu. Die beiden Herrn traten am Ende des geräumigen Ganges zusammen und standen schon eine Weile plaudernd unter dem Fenster. Nun kamen sie zu den Knaben, die zwar friedlich, aber doch fremd einander gegenüberstanden. Der Oberlehrer redete sie an:
„Wahrscheinlich sind an der Post wieder neue Telegramme angeschlagen. Herr Professor Jahn und ich wollen jeden Tag um zehn Uhr zwei von euch abschicken, daß sie nachschauen und dann berichten.“ Darauf erfolgte ein großes Hallo, natürlich wären am liebsten alle davon gesprungen, Volksschüler und Lateinschüler, die einen so gut wie die andern.
„Herr Professor, schicken Sie mich,“ baten alle Gymnasiasten und umdrängten ihren Lehrer.
„Ihr kommt alle an die Reihe, habt keine Angst, der Krieg geht nicht so schnell zu Ende. Wir nehmen zuerst solche, die ihren Vater oder ihre Brüder im Feld stehen haben, die haben den Vorzug.“ Noch ehe er weiterreden konnte, rief ein kleines Bürschlein: „Ich, Herr Professor, ich, meine drei Brüder sind im Feld!“
Jetzt ließ sich ein Volksschüler vernehmen: „Von mir vier Brüder!“
Dagegen konnten die andern nicht aufkommen; der Lateinschüler und der Volksschüler sprangen also miteinander davon. – Die zwei Klassen waren in dem Gedränge durcheinander gekommen und jetzt sprachen sie zusammen über die Brüder und wo sie standen; über die Väter, und daß die Briefe so lange ausblieben. Da fand es sich, daß einer von der Volksschule und einer von dem Lateinschule ihre Brüder in dem gleichen Bataillon hatten, und daß sie in den Vogesen gekämpft hatten. Nun lagen sie beide schwer verwundet in dem gleichen Feldlazarett; der eine hatte sechs Wunden, der andere hatte ein Bein verloren. Daraufhin kamen alle überein, daß diese beiden morgen miteinander nach den Telegrammen laufen dürften. Die zwei Klassen verstanden sich immer besser. Einmal als die beiden Abgesandten die Nachricht von dem Fall der Festung Antwerpen brachten, gab Professor Jahn ein kleines Fest. Er lud aus beiden Klassen die Schüler zu sich, deren Angehörige in Belgien fochten. Es waren ihrer acht, die sich nicht wenig darüber freuten. Sie wurden bewirtet von der freundlichen Mutter des Professors und erzählten aus den Feldpostbriefen ihrer Angehörigen.
Und wieder gab es für einen Teil der Schüler ein kleines Fest, als ein Telegramm von neuen Heldentaten der tapferen „Emden“ berichtete; diesmal waren solche geladen, die Verwandte bei der Marine hatten. Einer derselben, ein Volksschüler war es, war selbst schon in Kiel gewesen, hatte die großen deutschen Kriegsschiffe gesehen und wußte es schon ganz gewiß, daß es einmal wie sein Kieler Vetter, zur Marine gehen werde. Auf ein Unterseeboot wollte er und dann so kühne Unternehmungen mitmachen wie die Mannschaft von U 9, von deren Heldenmut alle Zeitungen voll waren.
Aber einmal hielten die beiden Lehrer eine Trauerfeier. Eine große Verlustliste war herausgekommen, aus der mehrere Schüler den Tod ihrer Angehörigen erfahren hatten. Unter diesen war auch der Volksschüler, der vier Brüder im Feld gehabt hatte; drei waren in einer Woche gefallen.
Der Oberlehrer sprach von den herben Verlusten und schilderte die schweren Kämpfe. Da war große Teilnahme in allen Herzen. Professor Jahn sagte am Schluß der kleinen Trauerfeier: Besser als ich’s vermöchte spricht ein Gedicht aus, was uns bei dieser langen Reihe von Todesanzeigen bewegt. Ein Freund von mir, ein junger Pfarrer, hat es gemacht. Ihm ist der Tod so vieler Tapferen tief zu Herzen gegangen. Ich möchte es euch vorlesen und will es jedem von euch, der in Trauer gekommen ist, abschreiben und mit heimgehen. – Er las das Lied vor:
Die Toten. Herr Gott, nun schließ den Himmel auf, Es kommen die Toten, die Toten zuhauf, Aus schwerem Kampf, aus blut’gem Krieg, Reich‘ ihnen den Lorbeer und ewigen Sieg! Wir können sie nicht mehr schmücken, Nicht mehr die Hände drücken Den vielen, vielen Scharen, Die unsre Brüder waren. Herr Gott, nun trockne selber du Die Tränen im Aug‘, gib Fried‘ und Ruh‘ Dem wunden Herzen, dem stillen Haus, Führ alles Dunkle zum Licht hinaus. Dieweil wir Eltern und Frauen In zuckender Wehmut schauen Die vielen, vielen Scharen, Die unsre Brüder waren. Herr Gott, nun segne dem deutschen Land Seinen gefallenen Heldenstand Giballen freudigen Opfergeist, Der auch im Frieden sich stark erweist, Weil doch ihr herrliches Leben Für uns zum Opfer gegeben Die vielen, vielen Scharen, Die unsre Brüder waren. Georg Merkel.Zwei Wochen später an einem Montag früh, als die Schüler von Professor Jahn in ihre Klasse kamen, stand da ein fremder Lehrer. Professor Jahn war einberufen worden. Und wieder nach kurzer Frist hörten die Schüler, daß ihr geliebter Professor auf dem Schlachtfeld von Ypern gefallen und begraben sei.
Am Tag darnach sprach der Oberlehrer in der Pause die Klasse der Lateinschüler an und sagte: „Die Eltern von Professor Jahn haben mir erzählt, daß er kurz vor seinem Tode in sein Notizbuch schrieb: ‚Grüßt mir meine Buben!‘ Ihr habt einen edlen Lehrer gehabt, bleibt ihm treu; denn wie es in seinem Lieblingsgedicht steht, auch er hat ‚sein herrliches Leben für uns zum Opfer gegeben!‘“
Allerlei Kriegsbilder nach Briefen und Zeitungen.
Der Turmbau zu Babel.
Zwei Offiziere der Kavallerie ritten zusammen und besprachen sich über das Völkergemisch, das gegen uns in den Krieg zieht, über die Neger, die Inder, Turkos und Japaner, die mit Franzosen, Belgiern, Engländern und Russen vermischt uns angreifen, und einer sprach den Zweifel aus, ob wir auch wirklich über all‘ diese Herren Herr würden. Der andere sagte:
„Gerade das Völkergemisch gibt mir die Zuversicht, daß wir siegen werden, denn das ist schon in der Bibel beim Turmbau von Babel zu finden. Im nächsten Quartiere werde ich mir eine Bibel verschaffen und vorlesen, was da steht.“
Sie waren noch keine 50 Meter weitergeritten, so sah der Offizier auf der Straße, von einem Huf in den Schmutz getreten, ein Buch. Er ließ es sich von einem Radfahrer geben: es war eine Bibel. Nun konnte er seinem Kameraden sofort die Stelle über den Turmbau zu Babel, 1. Mose 11, vorlesen. So kam der eine der Offiziere zu einer Kriegsbibel, der andere zu der beruhigenden Überzeugung, daß das Sprachgewirre den Feinden zum Schaden gereichen werde.
Erbprinz Luitpold.
Im Monat August durchbrauste ganz Deutschland die frohe Kunde von dem glänzenden Sieg, den der bayrische Kronprinz Rupprecht mit seiner tapferen Armee in Lothringen errungen hatte. Von nah und fern jubelte man dem Sieger zu und wünschte ihm aus dankbarem Herzen alles Gute. Aber mitten in diese Glückwünsche traf den Kronprinzen die Botschaft eines schweren Unglücks. Sein ältester Sohn, der Erbprinz Luitpold, erkrankte an einer Halsentzündung und starb fern vom Vater, in Berchtesgaden. Tief erschüttert war der Kronprinz von der Trauerkunde; aber er gab sich nicht dem Schmerz hin, sondern sprach die tapfern Worte: „Jetzt ist nicht Zeit zu trauern, es gilt zu handeln.“
Die Teilnahme am Tod des jungen Prinzen war ganz allgemein. Man kannte in München Prinz Luitpold wohl. Er besuchte das Gymnasium und wollte dort keinen Vorzug vor anderen Schülern haben. Wenn ihn ein Lehrer mit „Königliche Hoheit“ oder ein Schüler mit „Sie“ anredete, so verbat er sich dies und verkehrte ganz kameradschaftlich mit den Klassengenossen.
Als er zum Sommeraufenthalt in Berchtesgaden weilte, fehlte es dort—wie überall – in der Kriegszeit an Erntearbeitern; und es erging an die Jugend die Bitte, zu helfen und die Männer auf dem Feld zu ersetzen. Prinz Luitpold war sogleich bereit, dem Ruf zu folgen und half tapfer mit bei der schweren Feldarbeit. Die Erinnerung daran ist in dem folgenden Gedicht festgehalten:
Auch ein junger Königsprosse, Dem der Sinn nach „Dienen“ stand, Steigt von seiner Väter Schlosse, Bietet freudig seine Hand. Zu der ungewohnten Mühe Auf dem Feld im Sonnenbrand, Gleich den Andern spät und frühe, Tapfer in der Reih‘ er stand. Schweigend schau’n die Berge nieder, Dunkel liegt der Königssee, Nirgends tönen frohe Lieder, Auf der Welt rings lastet Weh. Zarter, lieber Königsknabe, Banges Ahnen faßt mich an, Daß du dort zu deinem Grabe Selbst den Spatenstich getan! Denn indes dein Heldenvater Sieg auf Sieg der Welt verschafft, Hat dich kleinen Erntehelfer Schnitter Tod hinweggerafft. Mag des Helden Herz erschauern, Da von fern dies Wort er spricht: „Jetzt ist nicht Zeit zu trauern, Handeln heischt allein die Pflicht!“ Doch indes er weiter lenken Muß das Schicksal der Armee, Sehnend wird er heimwärts denken, Manche Nacht in tiefen Weh: Deine Mutter mußt ich geben Längst der Erde schon zurück, Doch sie ließ von ihrem Leben Mir in dir ein köstlich Stück. Nun auch dieses hingeschwunden, Auf, mein Schwert! Fest faß‘ ich dich! Ringsum bluten tausend wunden – Eine weiß ich, die traf mich. Johanna KlemmKein Standesunterschied.
Eine Berliner Zeitung hat eine große Menge Liebesgaben gesammelt und sie dann durch ihren Vertreter an eines unserer Regimenter bringen lassen, das dicht am Feind stand. Als er einem jeden gegeben hatte, was er sich ausgebeten hatte, trat ein Soldat an ihn heran, der eben zwei Eimer voll Wasser herbeigeschleppt hatte. „Haben Sie vielleicht noch ein Hemd übrig?“ fragte er bescheiden, „ich habe seit vier Wochen keines bekommen können.“ – „Ja, hier haben Sie ein Hemd,“ entgegnete der Verteiler, sah sich dabei den Soldaten genauer an und erkannte in dem Mann, der ihn um ein Hemd bat, einen Universitätsprofessor.
Bei St. Quentin wurden an einem Tag eine ganze Menge Verwundete in ein Lazarett gebracht, das von deutschen Schwestern versorgt wurde. Es gab viel Krankenbetten zu richten, Strohkissen zu füllen, Matratzen zu tragen und dergl. Ein Verwundeter bemerkt zwei Soldaten in einer ihm unbekannten Uniform; sie fielen ihm durch die liebenswürdige Art auf, mit der sie den Schwestern halfen, überall anpackten und für die Verwundeten Karten schrieben. „Was sind das für Kameraden?“ fragte er.
„Das sind unseres Kaisers Söhne, die uns heute besucht haben, Prinz Adalbert und Prinz August.“
Der Hornist.
Eine feine List gelang einem württembergischen Hornisten. Sein Regiment stand im Gefecht mit französischer Infanterie und geriet in bedrängte Lage durch die Überzahl der Feinde. Der Hornist erkannte die Gefahr. Rasch entschlossen blies er das französische Rückzugssignal. Die Franzosen ließen sich täuschen, folgten dem Signal und machten Kehrt. Der Hornist wurde mit dem eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Der Lokomotivführer.
Ein österreichischer Lokomotivführer hatte einen Eisenbahnzug mit Schießvorrat zu befördern. Die russische Artillerie hatte Nachricht davon bekommen und beschoß den Zug. Obwohl sie weit entfernt war, schlugen doch die Kugeln in unmittelbarer Nähe des Zuges ein und seine wertvolle Ladung war äußerst gefährdet. Da kam dem Lokomotivführer ein guter Gedanke. Als wieder ein Geschoß in nächster Nähe platzte, öffnete er rasch den Dampfhahn, so daß der Dampf mit Gewalt entwich und der ganze Zug in einer weißen Wolke verschwand. Die Russen in der Ferne mußten meinen, ihre Geschosse hätten die Lokomotive in die Luft gesprengt. Sie stellten ihr Feuer ein und der Zug war gerettet.
Das Extrablatt.
In einer deutschen Mädchenschule ist der Beschluß gefaßt worden, keine Fremdwörter mehr zu gebrauchen. Wer es doch tat, muß fünf Pfennig in die Rotkreuzkasse einlegen. In kurzer Zeit hat eine Klasse 13 Mark gesammelt. Aber der Herausgeber des Tagblattes erhält von den Mädchen dieser Klasse einen Brief des Inhalts: „Es kostet uns unser ganzes Taschengeld, wenn Sie täglich ein Extrablatt ausgeben; denn wir müssen immer fünf Pfennig zahlen, wenn wir Extrablatt sagen.“ Der Herausgeber des Blattes hatte Mitleid mit der Klasse und schon vom nächsten Tag an erschien bei ihm ein Sonderblatt.
Die allgemein verständliche Sprache.
Eine Truppe Deutscher kam nach schweren Gefechten in ein eben eingenommenes französisches Dorf. Seit 24 Stunden hatten sie nichts zu essen gehabt und den stärksten Hunger mit rohen Kartoffeln gestillt, die sie sich gelegentlich aus dem Acker gruben. Nun wollten sie sich’s wohl sein lassen im Dorf. Viel gibt’s da nicht zu essen, aber ein Huhn wäre doch wohl aufzutreiben. Wie kann man sich nur verständigen mit den französischen Bauern! Doch man weiß sich zu helfen. Ein Soldat geht in die Küche, wo die Bäuerin, zitternd vor der deutschen Einquartierung, wartet, was nun geschehen werde. Der Soldat nimmt einen Kochtopf, füllt ihn mit Wasser, hält ihn der Bäuerin unter die Nase, deutet in den Kochtopf und ruft Kikeriki! Da nickt sie verständnisvoll und bald kocht ein Huhn im Topf.
Die Gefangenen.
Ein preußischer Wachtmeister hatte gefangene Russen zu bewachen. Aber seine Übermüdung ist zu groß. Er fällt um und schläft. Entsetzt fährt er morgens aus dem Schlaf – ob die Gefangenen nicht entwichen sind? Er schaut nach, traut seinen Augen kaum: es sind 120 mehr als es am Abend waren. Die haben sich aus Gefangenenlager herangeschlichen und lassen sich gefangen nehmen. Sie wissen, bei den Deutschen geht es ihnen gut.
Der Generaloberst v. Hindenburg.
Ein Mann von gewaltiger Größe und Stärke, mit einem Angesicht voll Güte und Wohlwollen ist unser Generaloberst v. Hindenburg, der Retter Ostpreußens, der Russenschreck, wie ihn die Soldaten nennen, seitdem er bei Tannenberg und an den masurischen Seen die russische Armee geschlagen und in die Sümpfe gedrängt hat.
Dieser ungeheure Erfolg war das Ergebnis seiner Lebensarbeit, seiner längst erprobten Pläne. Schon seit Jahrzehnten vertrat Herr v. Hindenburg die Ansicht, daß, wenn einmal die Russen kämen, sie in die masurischen Seen gedrängt werden müßten. Andere Offiziere meinten im Gegenteil, die Russen dürften gar nicht in die Nähe der Seen kommen. Er gab aber nicht nach. Hindenburg war irgendwo in der Provinz Korpskommandant, als eines Tages im deutschen Reichstag die Idee auftauchte, es gehe nicht an, daß ein so großes Gebiet unfruchtbar bleibe: die masurischen Seen müßten ausgepumpt und aus ihnen fruchtbarer Boden geschaffen werden. Der alte General hatte keine Ruhe mehr; man wollte seine Seen, seine Sümpfe, die er alle persönlich kannte, anrühren! Er reiste sofort nach Berlin, erklärte, protestierte, agitierte! Er lief zu Abgeordneten, zu Parteiführern, zu Kommissionen und, als alles nichts nützte, zum Kaiser. Er hat auch den Kaiser solange nicht verlassen, als er ihm nicht versprach, daß man die Seen in Ruhe lassen werde.
Alljährlich zu den Manövern wurde Hindenburg zu den masurischen Seen geschickt. Dort, wie bei allen Manövern, trug der eine Teil der Armee ein weißes, der andere Teil ein rotes Band auf der Kappe. Die Roten waren die Russen, die Weißen wurden von Hindenburg befehligt; sie hatten Ostpreußen zu verteidigen. Wenn die Soldaten bei den Übungen erfuhren, daß sie gegen Hindenburg zu kämpfen hätten, wiederholte sich alljährlich der anläßlich der Übernahme der roten Bänder fast sprichwörtlich gewordene Ausruf: „Heuer gehen wir baden!“ Denn sie wußten, daß da alles vergeblich ist: ob sie von links, ob von rechts kommen, ob sie von vorn angreifen, oder von rückwärts jagen, ob sie mehr oder wenig sind, das Ende ist doch immer dasselbe: daß Hindenburg sie in die masurischen Seen einklemmt. Und jedes Jahr, wenn abgeblasen wurde, stand die rote Armee bis zum Hals im Wasser. Die Offiziere gingen nur noch in wasserdichten Uniformen zu den Hindenburg-Manövern.
Dann ging der alte General in Pension. Doch weiterhin verbrachte er die Sommermonate bei den masurischen Seen. Er entlehnte sich in Königsberg eine Kanone und ließ sie von früh bis spät aus einer Lache in die andere schleppen. Er wußte genau, welcher Sumpf von der Artillerie passiert werden kann und in welchem der Feind stecken bleibt.
Da brach der Krieg aus und was so lange nur Manöverübungen gewesen waren, jetzt wurde es ernst. Sobald der Kaiser hörte, daß die Russen in Ostpreußen eingebrochen seien, berief er Hindenburg und forderte ihn auf, jetzt seine Kunst zu zeigen. Unverzüglich reiste dieser vom westlichen Kriegsschauplatz nach Osten. Schon während der Fahrt erteilte er telegraphische Befehle und als er ankam, war alles vorbereitet. Auch die Russen waren da; die Russen, die nun unerbittlich samt Pferden und Geschützen in die masurischen Seen gejagt wurden.
Seitdem ist durch ganz Deutschland Hindenburgs Ruhm erklungen, wir sind ihm dankbar und sind stolz auf ihn. Er selbst aber ist wie alle wirklich großen Männer bescheiden geblieben. Er nimmt die Ehre nicht für sich allein an, er erkennt gern an, was andere leisten. Von seiner Armee rühmt er: „Sie hat einen herrlichen Geist; jeder vom obersten General bis zum untersten Mann ist voll sieghafter Zuversicht. Prachtvoll sind auch meine Flieger, sie haben schon heldenmütige Aufklärungsdienste geleistet. Auch unsere Verbündeten, die Österreicher, sind ausdauernd, tapfer und zäh.“
Wohl uns, daß wir solches hören dürfen! Es bestärkt uns in der stolzen Zuversicht: Wir werden siegen!