Die Kriegswitwe

Leonhard Frank veröffentlichte 1917 in Zürich mehrere Novellen unter dem Titel „Der Mensch ist gut“. In Deutschland wurde das Buch sofort verboten. Es sind dies die fünf Novellen Der Vater, Die Kriegswitwe, Die Mutter, Das Liebespaar, Die Kriegskrüppel.
Leonhard Frank, Der Mensch ist gut
Max Rascher, Verlag, Zürich, 1918, Copyright 1918 by Max Rascher, Verlag, Zürich
Geschrieben 1916 bis Frühling 1917
http://www.gutenberg.org/files/35176/35176-h/35176-h.htm

Die Kriegswitwe
Ihr Mann war Versicherungsagent gewesen, war gefallen, gestorben. Kopfschuß.
„Die Kugel hätte ihn auch in die Brust treffen können, ins Herz, in die Lunge. Die Kugel hätte ebensogut . . . den Magen meines Mannes zerfetzen oder die Wirbelsäule zersplittern können. Der eine stirbt so, der andere so. Das ist ganz gleich. Tot ist tot . . . Oder ein Bajonettstich in seinen Unterleib, daß mein Mann seine Gedärme, die er nie gesehen hatte, noch ein paar Minuten lang hätte betrachten können.“
Unwillkürlich legte die Frau schützend die Hand auf ihren hohen Unterleib: das Kind des toten Vaters bewegte sich.
„Versicherungsagent . . . Er hätte ebensogut irgend ein Handwerker, Kaufmann, Arbeiter, Beamter, Gelehrter sein können, ganz gleich was, die Kugel hätte ihn doch getroffen . . . Sauste auf meinen Mann zu und machte keinen Bogen um ihn herum, machte natürlich keinen Bogen um den armen Versicherungsagenten herum. Die Kugel wählt ja nicht aus. Trifft jeden . . . Ich, eine Versicherungsagentenwitwe, könnte ebensogut eine Beamten- oder Arbeiterwitwe sein. Zwischen mir und allen anderen gibts keinen Unterschied. Ich bin eine Kriegswitwe. Wie alle. Eine Kriegswitwe . . . Und wenn meinen Mann eine Granate so zerfetzt und in die Luft gesprengt hätte, daß nicht ein Teilchen seines Körpers mehr zu finden gewesen wäre? Ganz gleichgiltig! Tot ist tot . . . Mein Schicksal ist das Schicksal von Millionen Frauen. Einen Unterschied gibts gar nicht zwischen mir und allen anderen Frauen . . ., zwischen mir und der Nachbarin, die an der Ecke wohnt und seit drei Wochen auch keinen Mann mehr hat, zwischen mir und den . . . Ja wieviel Frauen sinds denn? Zwei Millionen vielleicht, die in ihrem Zimmer sitzen und, wie ich, an ihren toten Mann denken? Zum Fenster hinaussehen und an ihren toten Mann denken, Staub wischen, Kinder warten, Strümpfe stricken, kochen, auf die Arbeit gehen und an ihren toten Mann denken, an ihren toten Mann denken, toten Mann denken. Sich abends ins Bett legen und an ihren toten Mann denken. Zwei Millionen vielleicht? Zwischen all denen und mir gibt es keinen Unterschied. Unsere Männer sind tot . . . Der Nachbarin ihr Mann ist in einem Lazarett gestorben. Meiner durch Kopfschuß. War sofort tot. Ganz gleichgiltig . . . Kopfschuß! In die Stirn? Vielleicht bei der Nasenwurzel hinein? Oder durchs Auge hinein? Durch sein Auge? Ja aber, was geschah mit seinem Auge? Mit seinem lieben Auge. Mit dem Auge meines lieben Mannes . . . Ist ja ganz gleichgiltig; es ist ganz gleichgiltig, ob das Auge, die Brust, die Lunge, das Gehirn, der Unterleib zerfetzt wird. Tot ist tot . . . Millionen Kriegswitwen sitzen wie ich da und stellen sich vor, wie der Mann eigentlich gestorben sein mag. Es ist aber ganz gleich, wie er den Tod fand. Fand? Sucht man denn den Tod? . . . Und ob er jetzt Schlosser oder Student, Fabrikarbeiter oder Bauer, Gelehrter oder Beamter gewesen wäre, ganz gleich. Das ist ganz gleich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir. Gott sei Dank.“
‚Wieso denn Gott sei Dank?‘
Sie stand schwerfällig auf; die Hand blieb auf die Tischkante gestützt. „Das lindert.“ ‚. . . Was lindert?‘ „. . . Doch, das lindert. Es ist doch ein Unterschied, daß es nicht mir allein, sondern Millionen Frauen so geht. Ein bedeutender Unterschied. Der Unterschied ist sehr groß. Und es lindert. Ich würde es einfach nicht ertragen, wenn es mir allein so ginge. Sich das nur vorzustellen! Könnte ich es denn ertragen? Ich ganz allein! Das wäre unmöglich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir.“
Schon eine Weile hatte sie gedankenversunken in den Spiegel gesehen; jetzt erst bemerkte sie die Miene befriedigter Rachgier in ihrem Gesicht. Und sah ganz plötzlich Millionen Frauengesichter, schmerzbehangen.
„Das läßt einen das Unglück leichter ertragen, ertragen . . . Es geht eben allen so wie mir. Wir müssens ertragen, wir Frauen.“
„Und wenn du einen Menschen leiden siehst, so verdopple sich dein eigener Schmerz“, heißts, glaube ich, in der Bibel. Ganz im Gegenteil. Das lindert. Entweder lügt die Bibel oder wir Kriegswitwen lügen. Alles ist auch nicht wahr, was in der Bibel steht. Wir Kriegswitwen lügen nicht. Wer behauptet, daß wir Kriegswitwen lügen! Wir haben unsere Männer dem Vaterlande geopfert. Auf dem Altare des Vaterlandes geopfert. „Al . . . tar des Vater . . . landes“, schmeckte sie mit der Zunge, sah fernhin, versuchte, sich den Altar des Vaterlandes vorzustellen. Das gelang ihr nicht.
Immer wieder sah sie den Altar, vor dem sie als Mädchen das erste Abendmahl genommen hatte, sah Kerzen und das Christusbild. „Aber Altar des Vaterlandes? Gibts denn das überhaupt?“
Da machte ihr Wesen einen blitzschnellen Sprung zurück zu dem Glauben: „Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert . . ., wie alle andern Kriegswitwen auch.“
„Der Altar steht allerdings nicht in einer Kirche, sondern ist ein mit Elektrizität geladener Stacheldrahtzaun, in dem dein Mann hängen geblieben ist“, versuchte der Schmerz zu flüstern, „also müßte man eigentlich sagen: geopfert im Stacheldrahte des Vaterlandes.“
Es gelang ihr, den noch ganz undurchlittenen Schmerz um den toten Mann wegzuhalten mit den Worten: „Er starb den Heldentod fürs Vaterland.“
Stolz glitt mit diesem Worte in ihr armes Herz hinein.
„Die Befriedigung, daß es Millionen Frauen so geht, und die Worte: ‚Geopfert auf dem Altare des Vaterlandes, Er starb für eine heilige Sache, Er starb für den Sieg unserer Waffen‘, sind Betäubungsmittel gegen den Schmerz um deinen geliebten Mann; aber nicht immer kannst du Betäubungsmittel nehmen; einmal wirken sie nicht mehr“, flüsterte der Schmerz, der empfunden sein wollte und so fest in Worte eingepackt war, daß seine Stimme von der Kriegswitwe nicht gehört wurde.
Die Abzementierung des Gefühls, des Schmerzes war undurchdringlich; so undurchdringlich war die einzementierte Wortplatte — von den noch im dunkelsten Geiste alter Jahrhunderte Stehenden einzementiert in das empfängliche, gedankenlos-gläubige Gehirn des Volkes —, daß der noch undurchlittene Schmerz nicht eine Sekunde lang in ihr Herz vordringen konnte.
Der Gesichtsausdruck der Witwe wurde, da Gefühl und Schmerz nicht fließen konnten, von Tag zu Tag steinerner. Die Tränen wurden nicht vom Herzen geschickt; sie liefen von oben weg.
Und der immer steifer werdende Haß gegen den Feind machte sie im Traume zur Mörderin.
Ein verspäteter Brief des toten Mannes kam an. Der Schmerz setzte sich in den Brief hinein, wollte mit jedem Worte, das die Frau las, ihr ins Herz springen.
Das war abzementiert.
Er erzählte vom Schützengraben, vom Feuer des Feindes, vom Essen. „Ich rauche jetzt viel, das tut gut“, schrieb der tote Mann. „Und wann werde ich dich wiedersehen? Sende mir eine wollene Unterjacke; es ist kalt geworden. Und bleib mir treu.“
Die einzementierte Platte rückte; Schmerz schoß heiß auf. Ganz kurz. Dann saß die Platte wieder fest. Das eine Sekunde lang ungeheuer verändert gewesene Witwengesicht wurde wieder steinern.
In ihrem Kopfe war verwirrender Nebel zurückgeblieben, von dem sich vage der Gedanke loslöste: „Zwei solche wollene Unterleibchen müssen doch noch da sein, Trikotleibchen. Da könnte er immer das eine waschen, wenn er das andere anhat . . . Müssen doch noch da sein.“
Der Schrank öffnete sich. Das Unterleibchen wurde bei den zwei Ärmelenden gefaßt, untersucht. „Nur den Knopf, muß ich annähen.“
Der Schmerz hatte sich im Unterleibchen versteckt; sein Sprung ins Witwenherz wurde vom Nebel in ihrem Gehirn verhindert.
Während sie den Knopf annähte, packte sie in Gedanken das Unterleibchen schon ein, trugs zur Post: es rollte an die Front, wurde vom toten Mann ausgepackt, angezogen.
Da verschwand der Nebel. Und ihr ganzes Wesen flüchtete hinein in das Wort: „Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert, für eine heilige Sache . . ., wie alle andern Frauen auch, wie viele Frauen, wie zwei Millionen Frauen. . . . Es geht mir nicht allein so.“
Sie trug das Leibchen in den Schrank zurück. Da hing eine alte Hose. Bei den Knien war die Hose etwas heller und herausgedrückt, als seien die Kniee des Mannes noch in der Hose.
Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen das herausgedrückte Hosenknie, in dem der Schmerz saß, lauernd, sprungbereit.
Und flüchtete, den Blick auf die schaukelnde Hose gerichtet, in die kleine Befriedigung hinein: „Die hätte er doch nicht mehr lange tragen können.“
Automatisch ging sie fort, um Einkäufe zu machen für den Haushalt. „Lange hätte er die nicht mehr tragen können . . . Wenn er zu den Leuten geht, um sie zu überreden, sich versichern zu lassen, und ist nicht gut angezogen, wer läßt sich da von ihm in die Versicherung aufnehmen . . ., wenn er schlecht angezogen ist. Die Leute sind ja gleich so mißtrauisch.“
Sie hatte ein schwarzes Kleid an. Ihr Gesicht war leblos, weiß, das Auge leblos: nicht starr, nicht ruhig, nicht glänzend; es sah tot aus. Die Witwe sah tot aus. Wie ein Gipsabguß. Mechanisch bewegte sich ihr Körper vorwärts, in den Kolonialwarenladen hinein.
„Aber wenn er abends heim kam, und es waren ihm ein paar Abschlüsse gelungen. Wie schön! Die Prozente! . . . Da sind ein paar ganz Hartnäckige. Gott, wie oft war er schon bei denen! Die sind sehr reich; die Versicherung wäre sehr hoch; und wenn ihm der Abschluß gelingt . . . Die Prozente! Wenn er vielleicht jetzt noch einmal hinginge, wer weiß? . . . Er soll doch noch einmal hingehen.“
Der alte, nach Petroleum riechende Kolonialwarenhändler bediente die Kriegswitwe mit besonderer und bedeutsamer Zartheit.
Und ihr stieg schmerzhaft schnell die unabänderliche Tatsache wieder ins Bewußtsein, daß ihr Mann zu den paar Hartnäckigen, die so reich waren, gar nicht mehr gehen konnte, weil er ja nicht mehr lebte.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich; und der Kolonialwarenhändler, von ihrer Miene zum stärkeren Bezeugen seines Mitleids aufgefordert, zeigte deutlicher, daß er wohl wisse, was es für eine Frau bedeute, den Mann verloren zu haben. Seine gespannte Bereitwilligkeit, wie er ihre Bestellungen entgegennahm, tat ihr wohl. Mit einem leisen Druck legte er die gefüllte Düte vor sie hin, sah ihr, Oberkörper vorgebeugt, ins Auge.
Und die Hausfrau in ihr versuchte, das Zartgefühl des Kolonialwarenhändlers zu benützen: ob sie den Kaffee noch einmal zum alten Preis bekommen könne.
Da hob er die Schultern: das täte ihm leid.
Sofort verschloß sich ihr Gesicht. Und wie ein Grammophon ‚Die Wacht am Rhein‘, spielte ihr wundes Gehirn automatisch: ‚Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert, für die Verteidigung des Vaterlandes, des heimatlichen Herdes hingegeben; er ist auf dem Felde der Ehre gefallen, damit dieser schmutzige Krämer weiter sorglos seine Kaffee verkaufen kann, und mir gibt er ihn nicht zum alten Preis.‘
Der Kolonialwarenhändler hob das Klappbrett des Ladentisches, schlüpfte vor, öffnete höflich die Tür: „Die enormen Einkaufspreise jetzt. Nicht zu sagen.“ Es täte ihm ja wirklich sehr leid, aber da sei nichts zu machen.
Tief beleidigt und scharfen Haß in den Augen, verließ sie den Laden.
Ein Schaufensterspiegel zeigte ihr, daß sie gebeugter ging, als es ihr momentaner Seelenzustand verlangt hätte. Bewußt brachte sie den Gesichtsausdruck in Übereinstimmung mit ihrer Körperhaltung und ging gebeugt und langsam weiter,
vorüber an einem spielenden Kinde, das, seinen mit Ahnung gefüllten Blick zu ihr emporgerichtet, im Halbkreise auswich und ihr nachsah.
Daß sie eine Kriegswitwe war, konnte jeder sehen. Auch die Leute im Trambahnwagen fühlten das sofort, schlossen jedoch die Augen. Denn da war nichts zu machen. Krieg ist Krieg. Und dabei fallen Männer. Alles Mitleid nützt nichts. Mitleid ist hier Schwäche. Außerdem gehts vielen so. Die Kriegswitwe stierte wie ein Mensch, der in seinem Blute liegt. Und alle gehen vorüber. Sie steckten die Gesichter in die noch feuchten Zeitungen, lasen die neueste Siegesnachricht: wieviel Feinde gefangen, wieviel gefallen waren, freuten sich und nahmen sich konzentriert vor: ‚Mich solls nicht packen . . . Aber denen werden wirs zeigen!‘
„Siebentausend!“ las laut ein gutmütig aussehender alter Mann und sah die Kriegswitwe an. „Siebentausend Gefangene! Ungeheuer blutige Verluste! Berge von feindlichen Leichen!“
Gesichter glänzten. Freudenworte sprangen durch den Wagen. Hände flatterten. Befriedigter Haß saß auf den Bänken.
Die bisher tot und blau gewesenen Augen der Agentenwitwe waren schwarz geworden vor befriedigter Rachgier. „Was steht da? Berge von feindlichen Leichen? Berge?“
Da trat, gleich einem Fremden, der unerwartet und unerwünscht in eine geschlossene Gesellschaft eindringt, von der Plattform aus der Kellner in den Türrahmen: „Über was freut ihr euch denn so? Über was? . . . Weil jetzt wieder einige tausend Euresgleichen auf dem Felde der . . . Ehre liegen? Blutig und zerfetzt! Noch atmend oder schon tot! . . . Vielleicht ist auch Ihr Sohn unter den zerstampften Opfern. Und liegt seit der gestrigen Schlacht ohne Hilfe schwer verwundet zwischen Toten und glotzt zu seinem Beine hin, das zwei Meter von ihm entfernt liegt. Glauben Sie denn, daß Ihr Sohn den wahren Grund gekannt hat, der ihn veranlaßte, zum Mörder zu werden, bevor er selbst ermordet wurde?“ fragte er, mühsam seine Erregung bändigend, den gutmütig aussehenden alten Mann,
in dessen Gesicht die Siegesfreude fassungslosem Staunen wich.
Der Zwanzigjährige, der seit dem Tage, da der Kellner in seiner Heimatstadt die Herzen für die Liebe aufgerissen hatte, mit durch das Land und durch die Städte fuhr und, scheinbar ganz unbeteiligt, auf der Plattform stand, machte plötzlich einen schnellen Schritt in den Wagen hinein, auf den Offizier zu, der abweisende Glasaugen bekam: „Steht auf gegen den Krieg. Protestiert! Alle! Alle!“
„Sie sind ruhig jetzt! Hier wird nicht so gesprochen“, sagte der Schaffner.
„Bleibt nicht sitzen in eurer Freude darüber, daß Ochsen und Kälber humaner als Menschen, humaner als eure Männer und Söhne geschlachtet werden.“
Sekundenlang stand das Schreckgespenst der Wahrheit im Wagen.
„Wenn man’s richtig überlegt, sind das natürlich auch Menschen . . . die Feinde“, sagte jemand und wunderte sich, daß er diese Worte gesprochen hatte.
Da wurden alle erlöst vom gutmütigen alten Manne, der sich schon wieder beruhigt hatte: „Ja, Menschen! Warum haben sie uns dann überfallen? . . . Hätten wir uns nicht verteidigen sollen?“
Das Leben kehrte zurück: Köpfe nickten. Augen blickten glänzend und hart. Die Agentenwitwe richtete sich straff auf.
Der Kellner blickte hilflos wie ein Toter.
Der gutmütige Alte stieß mit dem Zeigefinger auf seine Zeitung und rief, hassend und frohlockend: „Unsere Verluste sind ja ganz gering. Hier steht’s ja.“
„Immer heißt es: ‚Unsere Verluste sind gering‘. Wie steht’s dann damit, daß wir bis jetzt schon mehr als zwei Millionen Tote haben? Und wie viele sind, so wie ich, für das ganze Leben ruiniert?“ fragte ein invalider Soldat, in einem Tonfalle, der aus einer anderen Haßquelle kam, und starrte unbekümmert dem Offizier ins Gesicht.
„Berge von feindlichen Leichen!“ wiederholte der Alte und faltete die Zeitung zusammen.
Der Schmerz um den toten Mann war von einem Leichenhaufen zugedeckt. Erregt vom befriedigten Hasse, schritt die Agentenwitwe aus dem Wagen hinaus, die Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, daß die Lippen verschwunden waren und ihr mit Rachgier gefülltes Gesicht voller erschien.
Die Zeit ging hin. Mit Hilfe des Glaubens, daß ihr Mann für eine heilige Sache, für den endlichen Sieg gestorben sei, auf dem Felde der Ehre, und mit der lindernden Tatsache, daß es Millionen Frauen so ging wie ihr, hielt sie den Schmerz auch noch während der nächsten Wochen von sich weg.
Gläubiger schickten Rechnungen, dann Mahnungen, dann Drohbriefe, in denen noch der Satz stand: die Zeiten seien schlecht, jetzt brauche jeder sein Geld; dann kurze Mitteilungen, in denen die Pfändung unverschleiert angekündigt wurde.
Das hatte die Kriegswitwe, deren Mann doch auf dem Felde der Ehre gefallen war, nicht für möglich gehalten. Diese Rücksichtslosigkeit und Ungerechtigkeit übertraf alles, was ihr bisher widerfahren war, übertraf, wenn sie genau überlegte, sogar die Ungerechtigkeit, daß ihr Mann, gerade ihr Mann, der arme Versicherungsagent, der doch, weiß der liebe Gott, schon vor dem Kriege in Not und Krieg gestanden war, in den Krieg hatte ziehen und fallen müssen.
Monatelang trug sie noch das Gefühl und das gepeinigte Gesicht eines unschuldig verfolgten Menschen herum, bis sie, täglich und durch verschiedenerlei Erlebnisse immer wieder daraufgestoßen, einsehen mußte, daß das Leben keine Rücksicht auf ihr Schicksal nahm, das ja schließlich das Schicksal von Millionen Kriegswitwen war, sondern offenbar kraß weiterschritt, ganz unverändert, was die Geld- und Selbstsucht anlangte.
Dieser bitteren Erkenntnis setzte sie anfangs soviel Härte und dunkle Wut entgegen, wie in einem Menschenkörper Platz hat.
Aber das Leben war noch härter und mürbte täglich und mit mörderischer Monotonie weiter, bis die Witwe dieser aussichtslosen Wut müde wurde.
Der noch undurchlittene Schmerz hatte Zeit, konnte warten, bis die Schutzwehren — der Altar des Vaterlandes, das Feld der Ehre und die lindernde Tatsache, daß es zwei Millionen Frauen so erging — ins Nichts zurückstürzten und das Herz der Kriegswitwe bloßgelegt war für den Sprung des Schmerzes, hinein ins Witwenherz.
Und was dem Tage nicht ganz gelang, vollbrachten die Träume. Dem Tage, da ein Bekannter es sich wohl sein ließ bei der Bemerkung: „Liebe Frau, die Zeit lindert jedes Leid“, folgte die Traumnacht, in der der Schmerz erstaunlich deutlich erklärte: „Aber den noch undurchlittenen Schmerz kann die Zeit nicht lindern. Kann Liebe vergehen, bevor sie da war und empfunden worden ist? . . . Erst muß der wahnsinnig singende, mörderische Schmerz empfunden worden sein, ehe die Zeit ihn lindern kann.“
In derselben Nacht träumte die Witwe: der Mann kommt zu spät nach Hause. Sie liegt schon lange im Bett. Sie ist böse, schimpft: „Wo bleibst du denn!“ „Je, je, ich kann mich doch auch einmal ein bißchen unterhalten.“ „So! Und ich?“
Er zieht sich aus (jede seiner Bewegungen ist ihr genau bekannt), legt sich neben sie ins Ehebett. Sie beobachtet alles durch die Wimpern, hört seinen Erleichterungsseufzer und wartet auf des Mannes verlangende Hand, hüstelt, um ihm die Annäherung zu erleichtern, bewegt den Körper, lockt, bis der Mann zu ihr schlüpft.
Alles könnte schön sein, wenn sie nicht plötzlich merkte, daß nicht ihr Mann, sondern ein Fremder sie umfangen will.
„Es erfährts ja niemand“, sagt der Fremde. Und sie denkt: das ist wahr, es erfährts ja niemand. Ist bereit. Und alles wäre in Ordnung, wenn nicht im Rebenzimmer ein Mensch herumginge, der jeden Moment ins Schlafzimmer kommen konnte. Dieser Mensch ist der Schmerz um den toten Mann, hat eine feldgraue Uniform an, das Gewehr quer über dem Rücken.
Jetzt steht er unterm Türrahmen, ist aber nicht mehr der Schmerz in Uniform, sondern der Fremde, während bei ihr im Bett der Schmerz liegt, der zugleich ihr Mann ist.
Sie will ihren Mann zu sich nehmen und kann nicht, weil der im Türrahmen stehende Fremde nicht wegsieht. Und wie der Fremde endlich geht, die Tür hinter sich zuschlägt und die Treppe hinunterpoltert, kann der Mann seine Uniform nicht ausziehen. Und immer ist das Gewehr zwischen ihm und der Frau.
„Das Gewehr könnte losgehen“, sagt sie, „nimm das Gewehr weg.“ Sie will ihm helfen.
Und erwacht. Ruft nach ihrem Manne, horcht. Und tastet das Ehebett ab. „So eine Gemeinheit! Jetzt ist er noch nicht heimgekommen.“ Sie schimpft: „Dieser Lump!“
Der Mann lacht: „Schon seit zwei Stunden liege ich neben dir, und, du hast es nicht bemerkt.“
Sie ist froh, lacht auch. Er zieht sich aus, kommt zu ihr. Und wieder liegt das Gewehr, in dessen Rohrlauf ein Blumenstrauß steckt, hindernd zwischen ihnen. „Nimms doch weg . . . Warte, ich drehe das Licht an.“
Die Hand am Schalter, erwacht sie diesmal wirklich, dreht das Licht an, sucht neben sich im leeren Bett. „Der gemeine Kerl ist noch nicht da.“
Jetzt erst ergreift eine dunkle Faust das Herz. Und wie sie dem Schmerze entfliehen will aus den Worten: „Er ist den Heldentod gestorben“, preßt die Faust das Herz zusammen.
„Wie allen andern Frauen auch, geht es mir“, will sie flüstern. Und ihre Lippen formen diese Buchstaben nicht. Die Begriffe ‚Altar des Vaterlandes, Heldentod, Feld der Ehre‘ zerflattern, sinken ins Nichts zurück vor der entsetzlichen Wirklichkeit, daß der Mann niemals mehr zu ihr kommen kann.
Und wie ein Mensch, der ein auf seiner Handfläche liegendes Brettchen unter die Bohrmaschine hält, schmerzlos das monotone Wühlen des Bohrers fühlt, empfand sie, starren Auges, noch schmerzlos, das rapide, unabänderlich näherkommende Bohren, bis plötzlich der Schmerz das letzte Hindernis durchstoßen hatte und, wie der Bohrer in die Handflüche, hineinsauste ins Herz der noch schlaftrunkenen Kriegswitwe.
Sekündlich und mit der ganzen Kraft ihres Wesens versuchte sie, die Begriffe ‚Heilige Sache, Altar, Feld der Ehre, Heldentod‘ als Betäubungsmittel dem Schmerze wieder entgegenzustemmen.
Es gelang ihr nicht mehr, diese Begriffe wie bisher mit Glauben an sie, mit falscher Empfindung, mit irgend einer Bedeutung zu füllen. Da löste sich auch der Haß gegen den Feind in nichts auf.
Und der Schmerz um den toten Mann war, in den Zeitraum weniger Sekunden zusammengepreßt, ganz plötzlich so unmenschlich furchtbar, daß die Witwe, wollte sie nicht im Augenblick Besinnung und Verstand einbüßen, mit einem gewaltigen innerlichen Sprung von ihrem Leben der Lüge, Gedankenlosigkeit und Selbstsucht heraus — ins höhere Menschentum hineinspringen mußte. Sie hatte das tief entsetzliche Gefühl, die Kraft ihres Wesens reiche nicht aus zum Sprunge, umklammerte, aufrecht im Bette sitzend, mit beiden Händen den Hals, den Wahnsinnsschrei abzuwürgen, der gurgelnd hervorquirlte. Flog aus dem Bett in den Rock hinein. Und raste, halb angekleidet, durch die Straßen. Suchte sich eines Menschen zu entsinnen, der, vom gleichen Seelenschlag zertrümmert, ihren vom Wahnsinn schon bedrohten Zustand begreifen könnte. Und fand keinen in ihrer Welt. Alle trösteten sich selbst und wollten sie trösten mit dem Altare des Vaterlandes, mit dem Felde der Ehre.
Plötzlich sprang aus diesen trostlosen Worten der Kellner heraus und in den Türrahmen der Straßenbahn: ‚Steht auf! Auf! Protestiert! Alle! . . . Glaubt ihr denn, daß eure Söhne, eure Männer den wahren Grund kannten, der sie veranlaßte, Menschen zu morden, bevor sie selbst ermordet wurden? . . . Bleibt nicht sitzen in eurer Freude darüber, daß Ochsen und Kälber humaner als Menschen, humaner als eure Söhne und Männer geschlachtet werden.‘
Dunkel stieg der Protest in ihr auf.
Gegen Abend traf sie im Laden des Kolonialwarenhändlers mit der an der Ecke wohnenden jungen Arbeiterwitwe zusammen, deren Mann im Lazarett verendet war.
Die war in den wenigen Monaten eine alte Frau geworden; ihre Augen, durch das Weinen blutrot und um die Hälfte verkleinert, glichen nicht mehr Menschenaugen, sondern furchtbaren Wunden, die sich tief in die Höhlen hineingefressen hatten. Ihr Mann war erschlagen. Ihre Welt war erschlagen. Sie war erschlagen. Lebte nicht mehr.
Ihrem tödlichen Schicksale unterstellt, lehnte sie zermürbt und verbraucht am Ladentisch.
Und als der Kolonialwarenhändler den Tagesbericht vorlas: „Unsere todesmutigen Helden verteidigten mit bewunderungswürdiger Tapferkeit . . . jeden Handbreit Boden“, bat sie mit dünner Stimme, er möge ihr doch die drei Düten zusammen in eine Düte geben, so sei’s leichter zu tragen.
„Handbreit Boden! Handbreit!“ schrie die Agentenwitwe und erblickte, von Wut und Abscheu in die Vision hochgerissen, ein nur handgroßes Stück Erde, auf dem sich eine ungeheure Pyramide von hunderttausend zerfetzten Siegern und Besiegten erhob.
Der alte Kolonialwarenhändler erschrak, als seinem beifallslüsternen Patriotenblick ein von Mordwut verzerrtes, wildes Frauenantlitz entgegengestellt wurde. Instinktiv flüchtete er in das Wort hinein: „Sie sterben den Heldentod, auf dem Felde der Ehre.“
„Ja, Feld der Ehre! Ihr habt meinen Mann erschlagen. Mein Mann ist tot. Tot!“
„Aber Frau! Und die Heimaterde? Die muß doch schließlich verteidigt werden. Unsere heiligsten Güter stehen auf dem Spiele.“
Die Gedankenfetzen: ‚Güter, heilig . . . Güterschuppen steht auf dem Spiele, Heimat . . . Börsenspiel mit Heimaterde‘, passierten das Witwengehirn. Sie schleuderte die gefüllte Düte zurück. „A was! Heiligste Güter! Mein Mann war mein heiligstes Gut. Er lebte, hatte Augen, verstehen Sie — Augen! Hatte Arme, die er um mich herumlegen konnte, und hatte . . . hatte, hatte, hatte — war mein Mann. Ja, glotzen Sie mich nur an, ist mir gleichgiltig. Was sind denn eigentlich die heiligsten Güter? Wo denn? Ich hab sie nicht. Ich habe keine. Heiligste Güter! Heilig! Nichts als Lüge und Schwindel. Schwindel! Ah . . . ihr Hunde!“
„Aber Frau! Sie machen sich ja unglücklich, werden eingesperrt. Sie werden eingesperrt, das prophezeie ich Ihnen, wenn Sie so über . . . unsere heiligsten Güter sprechen.“
„Ich, eingesperrt?“
Unvermittelt fühlte der Kaufmann die Macht der Kriegswitwe, legte einen geradeliegenden Notizblock gerade.
Alter Schmerz hatte der anderen Kriegswitwe die Brauen hochgezogen, daß die Stirn nur noch aus drei dicken Querfalten bestand. Aus ihren Wunden liefen zwei Tränen heraus, glitten schnell in die Wangenlöcher, in den offenen Mund hinein. Ob sie noch etwas Malzkaffee dazu bekommen könne. Ihre langsame Hand schob das Geldstück hin.
„Wieviel Kaffeemalz? Ah so, es gibt keinen mehr.“
„Einsperren? Das wollen wir sehen, ob die mich auch noch einsperren.“
„Liebe Frau, hier dürfen Sie nicht so reden, hier bei mir . . . Sie müssen sich trösten, müssen sich trösten. Da hilft alles nichts. Vielen geht es so wie Ihnen. Ja, es geht Millionen so.“
„Dann halt adieu, wenn Sie keinen Malzkaffee haben“, sagte die andere Kriegswitwe. Das Tränenwasser lief in den gewohnten Bahnen herunter, schaukelte am Kinn. Die mit den drei kleinen Düten gefüllte große Düte in die konkave Brust hineingepreßt, ging sie langsam hinaus.
„Was gehen mich die andern an. Und wenn es zehn Millionen so geht. Das gibt mir meinen Mann nicht zurück.“ Der Schmerz hockte und hüpfte in ihrem zuckenden Gesicht. „Mein Mann ist fort, tot, weg, kommt nie mehr, nie mehr. Verstehen Sie: nie mehr!“
„Ist ja wahr, aber warum sagen Sie denn mir das alles? Habe ich den Krieg gemacht? Warum sagen Sie mir das alles?“
„Warum?“ fragte sie in ungeheuerem Erstaunen. „Warum kommen Sie mir mit Ihrem Felde der Ehre, mit Ihrem Heldentod, mit Ihren heiligsten Gütern daher? Sie . . . stehen da und verkaufen Ihr Zeug.“
„Wir werden siegen“, sagte der Mann einfach. „Dann ist der Krieg aus.“
Als hatte er ihr eine weißglühende Eisenstange wie eine Längsachse in den Körper gestoßen, bei der Schädeldecke hinein und beim Unterleib heraus, drehte sie sich einmal blitzschnell um sich selbst, herumgeschleudert vom höllischen Schmerze, der ihr Herz gesprengt hatte mit der Vorstellung: der Krieg ist aus, alle Menschen freuen sich grenzenlos . . ., und mein Mann ist tot, kommt nicht zurück. Kommt nie mehr! „Und was wird dann mit mir? He? Sie! He, was wird dann mit mir? He! He!“
„Sagen Sie mal, bin ich denn schuld daran? Sie tun ja gerade, als ob ich . . . Was kann ich dafür.“
Von einem Blitze der Intuition grellweiß erleuchtet, erkannte sie: „Ja, du bist schuld, du, du . . . ihr Hunde! Ihr alle seid schuld daran. Alle!“
Da konnte der Kaufmann nur die Schultern heben, wie er tat, wenn er eine Ware nicht billiger abgeben wollte.
Und als sie schon hinausgerast war auf die verkehrsreiche Straße, sprach er noch: „Sie werden todsicher eingesperrt. Sie sperrt man ja glatt ein.“ Sah die Banknote liegen. „Und ihr Geld vergißt sie auch noch. Die scheint endgiltig närrisch zu sein . . . Was wünschen Sie?“
Die Kundin wünschte Petroleum, stellte die Kanne auf den Ladentisch.
„Na, jetzt das ist mir aber eine“, begann er und erzählte der neuen Kundin die ganze Sache. „. . . Was sagen Sie dazu?“
„Recht hat sie“, erklärte die Frau mürrisch. „Was haben denn wir davon, wenn die Land erobern. Wir haben nichts davon.“
„Ist Ihr Mann auch im Krieg?“
„Schon tot ist er, wenn Sie’s wissen wollen.“
„Er starb für unsere gerechte Sache, Frau, müssen Sie sich sagen.“
„Ja, Sache“, sagte die Frau, dumpf wie ein Hund, der verhalten knurrt. Dann sagte sie noch, was sie jedem sagte: „Sie haben seinen Kopf nicht gefunden. Nur das Andere. Die Erkennungsmarke war weg; deshalb wollten sie mir erst keine Unterstützung geben.“
„Aber jetzt bekommen Sie doch, wie?“
„Meine zwei Söhne sind auch schon verreckt. Im Westen.“
„Jetzt bekommen Sie doch?“
„Ich pfeif darauf. Verdiene mir selbst mein Geld. Will nichts haben von diesen . . .“
Der vorsichtige Kolonialwarenhändler schnitt das Gespräch ab; denn neue Kunden waren eingetreten. „Nun, was sollst du holen?“
Das Kind streckte sich, legte das in Papier eingewickelte Geld auf den Ladentisch.
„Da vorne auf dem Platz ist eine Menschenansammlung. Jemand spricht gegen den Krieg“, erzählte ein grauer Alter, der Zigarren verlangte. „Und plötzlich kommt eine Frau gesprungen. Ganz außer sich. Die schreit und schimpft nicht schlecht . . . Was will der Schutzmann machen: — es ist eine Kriegswitwe.“
„So, schreit sie? Die wird natürlich eingelocht . . ., wenn sie solche Sachen daherredet.“
„Nun, so ohne weiteres kann man eine, die ihren Mann im Kriege verloren hat, auch nicht einsperren . . . Wenn sie doch ihren Mann verloren hat. Das ist keine Kleinigkeit.“
„Aber das Vaterland ist doch schließlich auch keine Kleinigkeit. Und . . . unsere Kultur, was?“
Während der Alte seine Zigarre anzündete: „Schon recht, gewiß . . . Vaterland . . . gewiß . . ., aber wenn eine ihren Mann . . .“
„Na ja, da haben Sie auch wieder recht.“
„. . . verloren hat, kann sie schon rabiat werden. Das ist zu verstehen . . . Es ist ein Riesenmenschenauflauf. Dreitausend Menschen, schätze ich. Können auch viertausend sein. Die Frauen schreien . . . Gerade als ob sie am Kreuz hingen, als ob jede an einem Kreuz hinge. Der Redner kann nicht mehr weitersprechen . . . Ich bin weggegangen. Will nichts zu tun haben mit so was. Bin ein alter Mann.“ Übrigens habe er sich schon lange gewundert, daß bis jetzt nicht mehr Kriegswitwen . . .
„Ja, es ist schon am besten, man kümmert sich nicht darum.“
Auch manche von den Männern, die um die schreiende Agentenwitwe, um den verstummten Kellner herumstanden, dachten das. Die Frauen dachten das nicht; es waren viele Kriegswitwen darunter und Mütter, die ihre Söhne verloren hatten.
Der Schutzmann sagte: „Schreien Sie jetzt nicht mehr.“
Die Agentenwitwe schrie: „Ich schreie!“
Ein Bürger dachte: man kann’s ihr nicht verdenken. Und ging nach Hause.
Die Trambahnwagen konnten nicht weiterfahren. Droschkenkutscher standen auf den Böcken, Fahrgäste streckten die Oberkörper, schief wie gotische Gestalten, aus den Wagenfenstern heraus. Die Menge vergrößerte sich rapid. Auch die Seitengassen, die zum Platze führten, waren schon schwarz von Menschen.
Der Schutzmann faßte die Kriegswitwe am Arme: „Gehen Sie jetzt heim.“
„Loslassen! Loslassen!“
„Heim? Habe ich denn ein Heim?“ Ihr Lachen war Tiergebrüll, riß Hohngelächter aus tausend Frauenmündern heraus. Sie hatte sich mit einem kurzen Ruck losgemacht von der Schutzmannsfaust.
Ein Frauengesicht, höhnisch und gefährlich, schoß dem Schutzmann vor die Augen: „Gehen Sie einmal nach Hause in ein Heim, in dem niemand mehr ist.“
„Auseinander jetzt!“ rief der Schutzmann. „Macht euch nicht unglücklich.“
Das war für alle Kriegswitwen zum Lachen.
„Bin schon unglücklich. Mehr kann ichs nicht werden“, schrie die Agentenwitwe, immer mit dem gleichen schmerzdurchtobten Tiergebrüll.
Dieselbe Gefühlswelle bewegte gleichzeitig alle Witwenleiber. Und alle Münder schrien dem Schutzmann und einander zu: „Wir sind schon unglücklich. Unglücklich!“
Die Macht der Frauen war sehr groß.
Der Schutzmann sah plötzlich wie ein hilfloses Kind aus.
Da krachte ein Schuß. Knapp neben dem Zwanzigjährigen.
Menschenohren horchten, daß es nachtstill wurde. Dann stieg der tausendfache, wilde und ganz wortlose Schrei. Das klang in der Ferne wie Kirchengesang.
Johlen. Gebrülle. Die Menge war ein einziger, langsam bewegter Riesenkörper geworden. Der Schuß hatte die Gemüter von Zwang und Ordnung entbunden und in anarchische Freiheit hineingestellt.
Der Schutzmann drückte sich, seitwärts gedreht, durch die drohend enge Menschengasse durch und verschwand.
Jetzt erst bemerkten der Zwanzigjährige und die Nächststehenden, daß nicht ein Schuß gefallen, sondern ein Automobilschlauch geplatzt war.
Die Agentenwitwe machte mit den Händen ganz kleine, gebundene Bewegungen, die mit den Zuckungen ihres Gesichtes korrespondierten, und bemühte sich, den andern zu erklären, wie qualvoll es sei, wenn ihr ein alter Anzug, ein Trikotleibchen, eine gebrauchte Hose des toten Mannes vor die Augen komme. „Ich sehe den Stuhl an, auf dem sonst mein Mann gesessen war, sehe den Stuhl an . . . Und wenn ich unsern Sekretär ansehe, vor dem oft mein Mann gestanden war, ist das gar kein Sekretär mehr . . .“
Alle sahen in der Zimmerecke den lackierten Muschel-Sekretär stehen, der die unabänderlich sich gleich bleibende Einsamkeit war und jede aufkeimende Hoffnung erschlug. Qualvolle Hilflosigkeit strich lautlos über die Menschengesichter und erzeugte bei allen den toten Blick.
Da griff der Kellner auf den Grund der Sehnsucht und rief: „Wir wollen Frieden machen!“
Sofort öffneten sich die Menschengesichter; eine Wolke heißen Gefühles ballte sich zusammen und platzte: das Wort ‚Friede‘ donnerte hoch, umdonnerte minutenlang den Kellner, der auf einem leeren Lastwagen stand und sich unter tiefer Qual den Entschluß abrang, in die plötzlich entstehende, offene, fruchtbare Stille die kalte Wahrheit hineinzustoßen:
„Aber wir können nur dann helfen, Frieden zu machen, wenn wir wissen und zugeben, daß auch wir den Krieg mitverschuldet haben.“
„Was sagt der? Was?“ Die Agentenwitwe war vor Empörung und Staunen gelähmt.
„Nur wer denkt und die Menschen liebt, kann ihnen den Frieden bringen . . . Wir denken nicht und lieben nur uns selbst.“
Die Gesichter veränderten, verschlossen sich; eine leere Fläche entstand zwischen der Menge und dem Kellner.
Der sagte: „Schon vor dem Kriege war die Liebe tot in uns. Wir waren gedankenlose, meinungslose Maschinen. Deshalb hat jeder Einzelne von uns den Krieg mitverschuldet.“
„Krieg mitverschuldet? Wir haben den Krieg nicht gewollt. Das Volk nicht! . . . Wir nicht!“ Eine Welle des Zornes bewegte die Menge.
„Laßt euch das sagen. Das müßt ihr euch sagen lassen. Wir müssen erst umkehren zur Wahrheit: wir hatten das Gute — die Liebe — vergessen; wir hatten uns gar nicht überlegt, was gut ist; wir haben überhaupt nichts überlegt, überhaupt nicht gedacht und Zeit unseres Lebens das Böse wachsen lassen, bis es uns zur Gewohnheit geworden war, und wir mit entsetzlicher Selbstverständlichkeit glaubten, daß das Böse — Egoismus, Gewalt, Macht, Erfolg, Geld und Autorität — das Erstrebenswerteste im menschlichen Dasein sei. Und dieses zur Selbstverständlichkeit gewordene, kalte, mörderische Prinzip jeden Europäers, den Mitmenschen übervorteilen zu wollen, mußte die Menschen dazu führen, daß sie am Ende einander erschlagen . . . Dann wird von Ehre, Heldenmut, Heldentod, von einem Felde der Ehre gesprochen.“
Da flog, die Zustimmungsrufe auseinanderschneidend, die Agentenwitwe durch die vor ihren geballten Händen entstehende Menschengasse durch, bis zum Wagen. Ihr Schmerz hatte sich gegen den ersten gedreht, der anderer Meinung war als sie. „Krieg mitverschuldet? Wir? Mein Mann? Mein Mann wollte nur leben“, schrie sie fassungslos. Kletterte hinauf. Wurde heruntergezogen. Kletterte wieder halb hinauf. Erleben, das keinen Widerstand mehr fand, durchströmte und befreite sie.
Noch bevor sie vom Wagen wieder losgerissen werden konnte, beugte sich der Kellner herab und berührte mit seiner Hand sanft ihren zerrauften Scheitel.
„Red du nicht so weiter“, drohte ein Arbeiter.
Johlende, halbwüchsige Burschen, zum Kriege noch nicht tauglich, klebten auf den Mauervorsprüngen.
„Wir alle haben rücksichtslos nach nichts anderem gestrebt, als so viel Erfolg wie nur möglich zu haben, unbekümmert, daß wir dadurch das Bild unserer Seele zerstörten, unbekümmert, ob dadurch ein Mitmensch ins Leid und in das Elend sank. Wie ich, habt auch ihr die erfolgreichsten Gewalttätigen, die am meisten Macht, Besitz und Autorität auf sich vereinigen, gedankenlos als Autoritäten anerkannt und bewundert . . . Wir alle waren stolz, wenn unsere schlecht beratenen Kinder patriotische Kampf- und Mordlieder sangen. Und als die mächtigen Autoritäten die Truppen marschieren ließen, jubelten wir und waren begeistert. Wir jubelten, als die ersten Siegesnachrichten einliefen. Wir jubelten. Und kümmerten uns nicht darum, daß beim Erstürmen einer Festung fünfzigtausend Menschen zerrissen werden. Zerrissen werden mußten, damit durch diesen ungeheuer verbrecherischen Gewaltakt die Erfolgreichsten noch mehr Macht, die Besitzenden noch mehr Besitz bekommen können. Wir kümmerten uns nicht darum, weil wir selbst nichts anderes als das Verlangen nach Erfolg, Besitz und Macht in uns trugen. Und dieses Verlangen logen wir um in Patriotismus. Wir müssen den Frieden bringen. Wir haben den Krieg mitverschuldet. Wir sind Mörder. Wir müssen uns entsündigen.“
Gefährliches Murren wuchs an, verdichtete sich zu einzelnen Zornrufen, die sich schnell aneinanderreihten, bis zuletzt ein einziger langer Schrei, so dick wie der Platz, zum Himmel stieg.
Den Tumult durchstach die sich überschlagende Stimme der Agentenwitwe: ihr Mann sei kein Mörder gewesen. „Kein Mörder! Mein Mann nicht! Kein Mörder!“ Ihr Wort ‚Mörder‘ tanzte messerscharf und hoch über das zusammengeballte Brüllen der Menge hin. Sie taste, streckte ihre Hände, halb flehend und halb würggespreizt, zum Kellner hoch.
Der trug in den Gesichtszügen die Kühnheit eines Menschen, welcher infolge übergroßen persönlichen Leides persönliche Gefahr nicht mehr fürchtet und persönliches Leid nicht mehr kennt.
Ein junger Mensch, fanatisiert und bleich, klärte erregt die Nächststehenden auf: das sei ein Mensch, der’s gut meine.
„Ja, gut meine! Krieg mitverschuldet! Mein Mann Krieg mitverschuldet!“
„Ruhe jetzt! . . . Ruhe!“ Das Wort wurde von dieser Gruppe weitergegeben, lief in Diagonalen kreuz und quer. Und erzeugte schnell erwartungsvolle Stille für den Sprecher.
„Wir haben erst dann das Recht, nach dem Frieden zu rufen, wenn wir nicht mehr, wie bisher, gedankenlos und meinungslos falsche Pflichten erfüllen. Und wir können erst dann den Frieden auf Erden verwirklichen, wenn wir aufhören, die großen Nichtigkeiten in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, wenn wir keine entseelten, gewohnheitsmäßig funktionierenden Besitzanhäufungs-Automaten mehr sind, sondern Wesen mit dem göttlichen Wissen, daß jeder Mensch unser Bruder ist, daß alle Menschen dieser Erde Träger der ewigen Seele sind, und daß das Wort: ‚In dem Augenblicke, da du dir vornimmst, einem Menschen zu schaden, hast du schon dir selbst geschadet‘, unumstößliches, göttliches Gesetz ist.
Nur der Mensch, der sich zu seiner Seele bekennt, die ihm verbietet, dem Bruder zu schaden, ist reich, steht ununterbrochen im glühenden Fluß der Gefühle. Wir sind ganz verarmt . . . Das gewohnheitsmäßige Übervorteilen des Mitmenschen, das Verlangen nach Besitz und die gewohnheitsmäßige Anhäufung von Besitz, weswegen die Europäer heute einander erschlagen müssen, haben uns ganz erniedrigt, gemein und arm gemacht . . . Die Kathedrale der Seele ist zusammengebrochen im Europäer. Deshalb wird er Offizier, Staatsbeamter, Börseaner, deshalb ist er habgierig, brutal, elegant, schuftig, gebildet, deshalb stiehlt er, raubt und wuchert, wird reich, bleibt arm, mordet, duelliert sich, macht Kriege und Geschäfte, läßt Erfolglosere für sich arbeiten, so schwer für sich arbeiten, daß der großen Mehrzahl des Volkes nicht eine Minute Zeit zur Selbstbesinnung bleibt, so daß auch diese Armen nicht mehr an die Liebe im Menschen glauben können, und ihr ganzes entgöttlichtes Streben darauf richten müssen, ebenfalls in die Klasse der Besitzenden aufzurücken.
Wir alle — Reiche und Arme — sind brutal wie Mörder, schamlos und gierig wie harte Wucherer, wir alle sind Offiziere und Börseaner, auch wenn wir erfolglose Sklaven geblieben sind . . . Glückliche, unendlich reiche Kinder könnten wir sein auf unserer unendlich reichen Erde, und sind erfolggierige Geldmenschen, bedauernswerte, erlebnisarme Schurken, die zu staatlich sanktionierten Mördern wurden. Der Krieg ist durch den Krieg nur sichtbarer geworden.“
Die Menge, berührt vom Worte des Kellners, war schwankend geworden; nie empfundene Gefühle standen auf, gerieten in Schwingung, erklangen und verdichteten sich zu vereinzelten Zustimmungsrufen.
Da schrie die Agentenwitwe einen Satz, der die Nächststehenden in den Mittelpunkt des Gefühles traf und, mit Zusätzen versehen und von Mund zu Mund weitergegeben, die Menge durchlief, so daß den Kellner plötzlich die tausendfach gebrüllten Schreifetzen umtosten: „Ganze Volk! Leid gestürzt! . . . Millionen Tote! . . . Hunger! Kriegsgewinne! Hallunken!“
Im tiefsten Grunde des Brüllens klang ein ferner Jubel mit.
Mit der ganzen Kraft seines Wesens versuchte der Kellner, die Menge erst auf der Irrtumsspirale zurückzuführen bis zum Ausgangspunkt, wo die Wahrheit steht, während die Agentenwitwe ohne Besinnen mit den Irrtümern vorwärtsstürmen wollte und die ganze Menge geschlossen hinter sich hatte.
Noch einmal gelang es ihm, die anarchisch bewegte Menge aufzuhalten und still werden zu lassen, da er sagte: „Unsere Autoritäten konnten uns marschieren lassen, jeden Einzelnen von uns als Menschenmetzger anstellen und ganz Europa in ein Menschenschlachthaus verwandeln, weil unsere Lebensauffassung entsetzlich genau ihrer Lebensauffassung entspricht. Weil wir, in notwendiger Folge unserer Gedankenlosigkeit, Meinungslosigkeit, unseres Verlangens nach Geachtetwerden, nach Besitz, Stellung und Macht, bisher immer nur die Luft geatmet, die Worte gesprochen, die Gedanken gedacht und nach den Gefühlen gehandelt haben, die uns von der Autorität geliefert worden sind . . . Von der Autorität, die mit dem gleichen Munde, mit dem sie den Befehl zum Feuern auf Menschen gibt, uns von Zivilisation spricht. Bedeutet das nicht, von allem Anfang an in der Lüge ertrunken sein, von Zivilisation zu sprechen, solange noch durch jede Straße Europas Menschen gehen, die an der Seite Messer hängen haben, dafür bestimmt, in Menschenleiber hineingebohrt zu werden? Zivilisation!
Zehn Millionen Menschen sind jetzt verendet. Warum? Für was sind diese zehn Millionen Menschen gestorben? Hat ein einziger von euch darüber nachgedacht, weshalb die Europäer ihre Jugend, ihre Jünglinge abschlachten? Warum dieser Krieg ausgebrochen ist? Ausbrechen mußte!“ Er wartete. Lange,
bis ein abgearbeiteter Mann die für ihn selbst verbraucht und nicht mehr überzeugend klingende Antwort gab: „Unser Volk ist angegriffen worden und mußte sich verteidigen.“
Getroffen von diesem oft vernommenen Satze, rief der Kellner: „Und ich sage euch, so lautet — und mit mindstens demselben Recht wie bei unserem Volke — die Antwort von jedem Volke, von jedem Einzelnen jeden Volkes; von den neunzigjährigen Greisinnen, die nur noch lallen können, bis zum Premierminister jeden Volkes lautet die Antwort: ‚Wir sind angegriffen worden und mußten uns verteidigen.‘ . . . Wie kommt das? Wo ist die Wahrheit?
Die Wahrheit ist, daß ein meinungsloses, kritikloses Volk gar nicht wissen kann, ob es angegriffen wurde oder angegriffen hat, und daß nichts leichter war, als es glauben zu machen, es sei angegriffen worden. Die furchtbare Wahrheit ist, daß die falschen Ideale, deren vollkommener Sieg den Tod der Ideale — der Menschlichkeit, der Liebe — bedeuten würde, daß diese Lügenideale — Macht, Gewalt, Erfolg, Autoritätsglaube, Heldentum, Weltherrschaft, Vaterlandsverteidigung — im Gehirne jeden Europäers ein solch mächtiges Eigenleben führten, daß jeder zum Schießen bereit war.
Ich sage euch: die Kultur eines Volkes ist unabhängig von der Besitzanhäufung. Die Größe eines Volkes liegt nicht in seinen Interessensphären, nicht bei seinen Rohstoffquellen, nicht auf seinen Absatzgebieten. Größe, Kultur, Glück und Zukunft eines Volkes liegen niemals auf dem Wasser. Aber der geistige Tod eines Volkes liegt in seinen Geldschränken. Der Geist Europas, die Menschlichkeit und die Liebe sind im Gelde erstarrt. Und das bedingt mit entsetzlicher Sicherheit das Elend, die Zukunftslosigkeit, den Untergang des europäischen Menschen.“
Auch die Agentenwitwe war erstarrt. Auch die Menge war erstarrt und quälend still.
Die robuste Kriegswitwe, von deren Mann der Kopf und die Erkennungsmarke nicht hatten gefunden werden können, stellte ihre Petroleumkanne auf den Wagen, zu Füßen des Kellners. Alle Fenster, rund um den Platz, waren schwarz von Menschen.
Der Kellner, tief leidend unter dem Gesetze, daß die Liebe hart sein muß, weil sie das Herz der Wahrheit ist, redete eindringlich hinunter zum düsteren Gesicht: „Wir haben zugesehen, wie Kampfparteien gebildet wurden; wir haben Kanonen, Schiffe, gewaltige Menschenmordmaschinen erfunden, gebaut. Bezahlt. Bewundert! Trotzdem wir hatten wissen können, daß die von uns bezahlten, bewunderten Massenmordmaschinen eines Tages sich gegen die Menschheit und auch gegen die Brust unserer Männer, Söhne, Väter richten würden. Das war unausbleiblich . . . Dann wird gesagt und geglaubt, von den meinungslosen, gedankenlosen, von den immer noch gedankenlosen Volksmassen geglaubt: wir sind angegriffen worden und müssen das Vaterland verteidigen, unsere Kultur schützen. Es wird von Heldentum und von einem Felde der Ehre gesprochen . . . War alle Ehre nicht schon tot, noch bevor der Krieg begonnen hatte? Ist es eine Ehre, ist es Heldentum, um Besitz und Macht und für falsche Ideale Menschen zu erschlagen? Wenn das Ehre ist, dann wollen wir ehrlos sein, um wieder ehrenvoll leben zu können. Wenn das Heldentum ist, dann wollen wir Feiglinge sein, damit der Mut in dieser Welt nicht aussterbe . . . Man spricht von Zivilisation. Ist das Zivilisation, daß ganz Europa schon vor dem Kriege ein einziger großer Fabriksaal war, in dem nicht Menschen lebten, sondern Maschinen automatisch sich bewegten? Maschinen aus Fleisch und Blut, die nicht mehr denken, keine Meinung haben, keine Erinnerung mehr daran haben, daß sie einmal Menschen waren, sondern wie die Maschinen aus Stahl, die sie bedienen, betrieben werden? Betrieben werden von der Notdurft, von dem Verlangen nach Achtung der Mitmaschinen, vom Verlangen nach Besitz, betrieben von Gewohnheit, Egoismus und Lüge. Lüge, in der die europäische Menschheit ertrunken ist, so daß es keinen Europäer mehr gibt, der eine eigene Meinung hätte, keinen, der das Feuer der Wahrheit in den Augen trüge . . . Wenn das Vernunft ist, dann wollen wir unvernünftig sein, dann wollen wir wahnsinnig sein, damit die Weltvernunft sich in uns am Leben erhalten kann. Wenn das nützlich ist, dann wollen wir unnütze Menschen sein. Wenn das Resultat der Organisation und Ordnung ist, daß die Menschheit verelendet, blutet und sich abwürgt, dann wollen wir diese mörderische Ordnung sprengen mit Unordnung, damit der Sinn des Lebens sich wieder manifestieren kann. Wenn Organisation, Ordnung, Gewalt, Macht, Gewohnheit, Meinungslosigkeit, Lüge, Besitz und Egoismus . . . Zivilisation ergibt, dann wollen wir Wilde sein, wollen wir die Liebe im Herzen tragen und das Gesetz: jeder liebe jeden, so wird jeder von allen geliebt . . . Das wollt ihr nicht? Habt den Mut, Menschen zu erschlagen und nicht den Mut, Menschen zu lieben? Weil ihr lieben würdet, aber die anderen euch nicht lieben, sondern ausnützen und erdrücken würden? Wollt nicht Märtyrer sein? Da Märtyrer ausgenützt, erdrückt, eingesperrt und hingerichtet werden . . ., weil sie lieben? Es fliege die Frage donnernd über den Erdball: was ist menschenwürdiger und ehrenvoller, Menschen, die uns nichts angetan haben, im Kriege zu erschlagen und selbst zu sterben, oder dafür zu leiden und zu sterben, daß der Liebe die Regierung der Erde übergeben werde?“
Der Blick der schweigenden Menge fragte dumpf zurück. Zwei Equipagenpferde, zwischen Menschen eingekeilt, bewegten sich. Die Agentenwitwe fühlte körperlich, wie, von ihrer Seele überglänzt, die Finsternis in ihr zur blendend weißen Fläche wurde. Ihr Gesicht war plötzlich tränennaß.
Der Kellner warf die Hand an den Hals, die andere in den Nacken; seine Augen wurden groß und sahen:
„Zehn Millionen Leichen! Zehn Millionen Menschen sind jetzt verendet. Das fließende Blut dieser zehn Millionen Ermordeten — vierzig Millionen Liter dampfendes Menschenblut — könnte einen ganzen Tag lang die riesenhafte Wassermenge des Niagarafalles ersetzen und durch seine Sturzkraft den elektrischen Strom für eine ganze Weltstadt liefern . . . Sämtliches Rollmaterial der Eisenbahnen von ganz Preußen würde nicht ausreichen, allein die losgetrennten Köpfe dieser zehn Millionen Ermordeten auf einmal zu transportieren. Zivilisation! . . . Stellt euch den phantastisch langen Eisenbahnzug vor: es steht der erste Wagen schon in München, im Berliner Hauptbahnhof noch der letzte, und alle sind gefüllt mit blutigen Menschenköpfen. Zivilisation! . . . Man lege die zehn Millionen armen ermordeten Mörder Kopf an Kopf, Fußsohlen an Fußsohlen! Das gibt eine sechzehntausend Kilometer lange, lückenlose Leichenlinie, ein sechzehntausend Kilometer — nicht Meter — Kilometer langes Grab, das ganz Deutschland umspannt. Sechzehntausend Kilometer Leichen! Zivilisation!“
Ein wildes Schluchzen, das wie das Bellen eines Hundes klang. Aufgelöste Gesichter drehten sich einander zu. Weit offene Augen. Wortloses Fragen. Die Agentenwitwe sah Farben kreisen. Und taumelte dem Nächststehenden an die Brust.
Das Gesicht der Menge leuchtete wieder weiß auf.
„Ich sage euch: von diesem Zeitalter der Nützlichkeit, Ordnung, Organisation und Vernunft, von diesem Zeitalter des Egoismus, des Geldes, der Macht, Gewalt, Lüge und Autorität wird nichts übrig bleiben als ein Grauen davor und für die noch späteren Geschlechter ein Gelächter.“
Da spannte er weit die Arme aus, daß hinter ihm der von der Abendsonne rosig beleuchtete Kirchturm zum riesenhaften Kreuzespfahl wurde:
„Wir wollen uns jetzt endlich besinnen. Wollen denken. Uns daran erinnern, daß der Mensch gut und unser Bruder ist. Wir wollen endlich herausreißen aus unseren Herzen: die Gewohnheit, die Lüge, die Gewinnsucht, die Bewunderung der Gewalt, Autorität und Macht, damit nicht auch der Same der noch ungeborenen Geschlechter den Keim in sich trage zu neuem Morde.“
Plötzlich klang Kraft und großes Flehen in seiner Stimme:
„Jeden Tag werden zehntausend Menschen getötet, die so gerne, ach so gerne noch hätten leben wollen. Und doch sitzt der Schuster wie sonst in seiner Werkstatt, besohlt Stiefel, macht der Schreiner Möbel, steht der Fabrikarbeiter vor der Maschine, den ganzen Tag, der Kaufmann hinterm Ladentisch; es schreibt der Beamte Kanzleibogen voll und der Buchhalter rechnet, der Kellner bedient . . ., während jeden Tag zehntausend Menschen fallen und verenden, die vorher selbst Menschen töten mußten. Welch ein wahnwitziger, gedankenloser Egoismus! Wenn wir das Recht nicht verlieren wollen, uns noch Menschen zu heißen, dann müssen wir ohne Besinnen von den Hämmern, Hobeln, Schreibpulten und Maschinen weglaufen auf die Straße, den Nächstbesten am Arme packen, ihn packen, und unsere Stimme muß ihm das Herz durchgellen: ‚Es werden jeden Tag zehntausend Menschen erschlagen. Was sollen wir tun? Wie dürfen wir arbeiten, unserem Verdienste nachgehen, schlafen, essen, während jeden Tag zehntausend Menschen ermordet werden? Das darf nicht sein. Was sollen wir tun?‘ . . . Ich rufe euch zu, ich trage die Worte in euere Herzen hinein: wer heute, da täglich zehntausend Menschen grauenvoll verenden, seine Hand hebt zur Arbeit, ist ein Mörder. Denn er läßt Menschen töten und fragt nicht: was soll ich tun, daß sie nicht erschlagen werden.“
Da erbrach, ihre Petroleumkanne schwingend, die robuste Kriegswitwe ein wildes Gelächter.
Und die Sätze: „Man muß doch leben; was bleibt uns übrig; wir müssen doch verdienen, essen“, sprangen, von ihr zuerst geschrien, aus tausend Mündern heraus, dem verstummten Redner entgegen. Es schwoll der Tumult, vom Hasse in ein Ganzes zusammengeschmolzen, und stieß den Schrei ab und zum Himmel empor: „Was sollen wir denn tun! Was? Was sollen wir tun?“
Das war eine furchtbare Frage. Eine Frage, rund umstellt von grinsenden Ungeheuern, die eine Antwort nicht hereinlassen wollten.
‚Wenn ich ihnen sage: jede Arbeitsleistung fügt sich in das Getriebe ein, das die Fortsetzung des täglichen Massenmordes ermöglicht, deshalb wird der Schlosser, der heute eine Schraube dreht, praktisch zum Mörder, wie auch der Bäcker, der heute Brot backt, rufen sie: wir müssen doch verdienen, leben, essen und deshalb arbeiten.‘
‚Aber das dürft ihr nicht. Arbeiten dürft ihr nicht. Arbeiten ist heute Mord.‘
Das weiße Gesicht der Menge war eine Frage, die gleich einer Lichtreklame selbsttätig die blutrote Antwort „Revolution“ langsam, Buchstabe nach Buchstabe, an den dunklen Himmel schrieb.
Die tödlich bedrohte Liebe, die dem Untergange nahe Menschlichkeit, die den Kellner gewählt, ihn aus dem mörderischen Wahnsinn dieses Zeitalters herausgehoben und ihm das Wort auf die Lippen gegeben hatte, erleuchtete ihn, so daß die ewige Seele, für alle sichtbar, ihm in die weitgeöffneten Augen trat:
„Wir wollen nicht das Unmögliche versuchen: die Gewalt mit Gewalt auszurotten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dienste dieses Zeitalters des organisierten Mordes stehen. Das Zeitalter des Egoismus und des Geldes, der organisierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erreicht. Zwischen zwei Zeitalter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit steht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kommenden neuen Zeitalters, des Zeitalters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Mensch ist gut.‘ Das sei unser einziges Handeln in der Pause zwischen den Zeitaltern. Wir wollen mit solch überzeugender Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Mensch ist gut‘, daß auch der von uns Angesprochene das tief in ihm verschüttete Gefühl ‚der Mensch ist gut‘, unter hellen Schauern empfindet und uns bittet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Menschen öffnen im Angesichte der ungeheuerlichsten Menschheitsschändung.
Und wenn der Zehnmillionenmord, den jeder Einzelne von uns mitverschuldet hat, Martyrium von uns verlangt, wenn die Menschheitsfeinde Gewalt gegen uns anrollen lassen, so wollen wir uns sagen: ‚Wir haben erschlagen, gelitten, geblutet, gearbeitet für falsche, lügenhafte Ideale, sind schuldig, sind Mörder geworden; wir wollen uns entsündigen, wollen den gegen uns gehetzten Brüdern, dem Heere der Gewalt, uns als stilles, unüberwindlich starkes Heer des Geistes und der Verbrüderung entgegenstellen, bereit zum Leiden für das ewig unverrückbare Ideal der Menschheit: für die Liebe.‘ Und unsere Brüder werden, bezwungen von unserem Glauben an das Gute im Menschen, in ihren Augen plötzlich die Frage tragen, die zugleich die Antwort ist: der Mensch ist gut.
Der Mensch ist gut. Er ist gut. Geht hin, jeder durch seine Straße, in die Häuser, läutet, klopft an. Und verkündet den Satz des neuen Zeitalters: ‚Der Mensch ist gut.‘ . . . Es stehen die Transmissionen! Es stehen die Maschinen! Die Arbeit ruhe! Die Zeit steht. Heutige Gesänge der Liebe durchfliegen die Städte, öffnen die Herzen, die Tore der Paläste, die Magazine. Und Menschenarme, die dem Morde dienten, umfangen jetzt den Bruder . . . Und wenn wir dann in diesem Geiste wieder zu arbeiten beginnen, wird unsere Arbeit nicht mehr Mord sein, sondern Geschenk für den Bruder, und seine Arbeit Geschenk für uns . . . Jetzt ruhe die Arbeit. Die Zeit steht. Die Pause zwischen zwei Zeitaltern ist da.“
Das Gesicht der Agentenwitwe war von wilder Hingabe zerklüftet; das Kind in ihrem Leibe bewegte sich.
Da geschah etwas Unerwartetes: ein bärtiger Herr sprang aus seiner eleganten Equipage heraus, stand auf dem Bock und brüllte: „Landesverräter! Vaterlandsverräter! Herunter mit dem Schuft, der den Sieg, der das Durchhalten unseres Volkes verhindern will!“ Wutspeichel spritzte aus seinem Munde heraus.
Das weiße Profil der Menge drehte sich dem Bärtigen zu.
Der warf die Fäuste vor und bewegte sie, in großem Bogen die Menge überdachend, wagrecht über die Köpfe weg, stieß sie himmelwärts und knallte sie auf seine Brust:
„Mein einziger Sohn ist gefallen. Auf dem Felde der Ehre! Ist tot. Und dieser bleiche Schuft wagt es, das Volk gegen das Vaterland aufzuhetzen. Tausendfachen Tod diesem bestochenen Hundsfott, der den Sieg verhindern will! Umsonst wäre mein Sohn gestorben. Umsonst wären alle Söhne und Väter gestorben. Millionen wären umsonst gefallen. Alles Blut würde umsonst geflossen sein, wäre der Sieg nicht unser.“ Er riß den Browning aus der Hintertasche.
So still war es auf einem Platze nie gewesen.
Der Kellner sagte: „Mein junger Sohn ist gefallen. Umsonst wäre sein und alles Todesblut geflossen, wenn in diesem dampfenden roten Meere auch diesmal das Prinzip des Egoismus, der Gewalt und der Macht nicht verlöschen würde, umsonst, wenn die Liebe auch nach diesem Kriege das Menschenherz nicht berühren könnte. Umsonst die den Himmel verdunkelnde Menschheitsschändung, wenn aus Lüge, Macht, Gewalt, wenn aus Mord . . . Sieg hervorgeht, der den neuen Krieg in sich tragen muß. Nicht Demütigung für ein Volk sei das Ende und der neue Anfang, sondern Demut aller Völker . . . Demut, die tiefen Glanz, Stille, Menschlichkeit und Lebensfreude in sich schließt.“
Der Bärtige war fassungslos. „Schuft! Und das Vaterland? Unser heiliges Vaterland? Unsere heiligsten Güter? Unser Vaterland!“
Dunkle, unbezähmbare Wut war urplötzlich in der robusten Kriegswitwe entstanden. Da stieg, von ihr entladen, ein vielstimmiger Protestschrei, der erst an seinem Ende in helles Gelächter und in den Hohnruf: „Heiligste Güter!“ zersplitterte.
Die Morgenröte einer kommenden Zeit traf das Gesicht des verblüfften Bärtigen; er legte den Browning neben sich auf den Bock.
Der Kellner sagte weich: „Das Vaterland ist eine Gasse, in der wir als Kinder am Abend gespielt haben, ist ein von der Petroleumlampe sanft beleuchtetes Tischrund, ist das Schaufenster des Kolonialwarenhändlers im Nachbarhause; das Vaterland ist im Garten der Nußbaum, auf dessen Früchte wir gewartet haben, ist ein Flußtal, die Biegung eines Flußtales; das Vaterland ist eine altersgraue Holzpforte an der Rückseite des Gartens, ist der Geruch von Äpfeln, die auf dem Ofen brieten, ist Kaffee- und Kuchengeruch im durchwärmten Elternhause, durch Wiesen ein schmaler Pfad, der zur Stadt zurück oder aus der Stadt hinausführt, ist ein Gang auf diesem Pfade, das Verklingen eines Kinderliedes, das Abendläuten an einem bestimmten Tage unserer Kindheit . . . Nicht der Staat — die Organisation der Lüge, Macht, Gewalt und Autorität — ist das Vaterland für den Menschen, sondern die Erinnerung an freundliche Minuten der Kinderzeit, die Erinnerung an die von Hoffnung noch verschönten Blicke ins zukünftige Leben.“
In diesem Momente, da er das Gesicht der Menge ansah, erkannte er entsetzlich klar, daß bei der großen Mehrzahl auch diese Erinnerungen vom ununterbrochenen Lebenskampfe, von den Leiden des Krieges, vom Hasse gegen seine Entfeßler aufgefressen worden waren, und fühlte, daß ein Wort der Liebe jetzt noch nicht vordringen konnte bis zu diesen verarmten, haßverkrampften Witwenherzen. Nur bei wenigen war der suchende Kinderblick wieder erwacht und zum Rückblick auf das vergangene Leben geworden.
Und als der Bärtige der Witwen nicht mehr vorhandene Gefühle für das Vaterland erneuern wollte mit dem Worte „national“, stieg aus des Kellners plötzlicher Hoffnungslosigkeit, die Liebe in die Herzen führen zu können, Zorn auf, der zur Menge hinunter den Satz trug: „International ist alles Große: die Kunst, der Gedanke, der Glaube, die Sinne, das Leben, der Tod.“
Und der Zwanzigjährige schrie zurück: „Es gibt National-Banken, National-Speisen, National-Registrierkassen, National-Hymnen.“
Vor Wut verlor der Bärtige die Sprache, konnte das Gegenargument, daß auch die Sprache national sei, nicht finden und griff automatisch zum Browning, um mit dem zu argumentieren.
Der robusten Witwe mit der Petroleumkanne waren der Bärtige und sein Gefährt zu elegant. Noch bevor er den Mund wieder öffnen und den Browning heben konnte, rief sie unwirsch: „Halt’s Maul, du!“ Und ihr Wort war von einer Armgebärde begleitet, die hundert Fäuste mit in die Höhe riß. Sie stürzte zum Bock, kletterte hinauf.
Sein Wutschrei: „Verräterisches Pöbelpack! Man wird euch einsperren. Alle einsperren!“ gab das Signal für alle zum Sturze auf den Bärtigen, so daß der Browningschuß, der dem Kellner gegolten hatte, schräghoch ging und den Kirchturm traf.
Ein Schrei dauerte minutenlang.
„Uns könnt ihr nicht einsperren. Zwei Millionen Kriegswitwen könnt ihr nicht einsperren.“
Der Petroleumstrahl schoß farblos durch die Luft.
Hochgebäumte Pferde. Die Equipage brannte hell und farbig. Wurde von den rasenden Pferden zerstörerisch schnell über den Platz und die Straße hinauf getragen, von der stürmenden Menge verfolgt.
Die robuste Kriegswitwe stand, ringend mit dem Bärtigen, flammenumloht auf dem Bocke.
Eine Anzahl Witwen und Mütter, im Blick noch das große Fragen, blieben zögernd zurück.
Die Agentenwitwe trug im schmerzdurchwirkten, aufgelösten Gesicht den unbegreiflich tiefen Glanz stiller Bereitschaft, als sie zum Kellner trat, der in der Dämmerung erschöpft an der Hausmauer lehnte und auf das in der Ferne verklingende, fanatische Triumphgebrüll der Kriegswitwen lauschte. Er glaubte, den anhaltenden, zündenden Schrei der robusten Witwe herauszuhören.
Teile von Gedanken, für die er vorhin Worte nicht gefunden hatte, kehrten wieder: ‚Die Gewalt, den Menschen gelehrt und aufgezwungen, untersteht dem furchtbaren Gesetze alles Bösen, muß weiter wirken . . . Wer in dieser Welt der Schmerzen das Leid nicht auf sich nehmen kann, bleibt böse.‘
Er blickte zur Agentenwitwe hin, die in ungeheurer Befreiung vor dem neuen Anfang stand, entrückt, wie vor einer Wiege, in der sie selbst lag. Horchte auf das ganz ferne Knallen mehrerer Schüsse. (Das stärker werdende ferne Gebrüll wurde wieder hörbar, schwach, wie das Summen einer Fliege.)
‚Revolution steht auf den Stirnen der Menschen; und was auf den Stirnen der Menschen steht, wird Ereignis.‘
Von schwarzen Blitzen durchzuckt, brach aus seinem Herzen lautlos donnernd die entscheidende Menschheitsfrage heraus: ‚Werden Wille und Sehnsucht die Gewalt sprengen, die Finsternis durchstoßen, den Geist befreien und sich von ihm führen lassen in das Land der Seele, wo die tiefste, die radikalste Revolution, die Revolution der Liebe zum Ereignis werden kann? Oder wird auch jetzt die Gewalt weiter bestehen und weiter siegen über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die der Menschheitszukunft in ewigem Flusse immer neu geboren werden vom tiefsten Sinne der Welt: von der Liebe?‘
Der Platz, vom Tumulte verlassen, sah verbraucht aus.
Dämmerung, Luft und Sein gebaren auf ihm eine stille Sekunde.