Brief eines Sanitäters aus Lille, 1916

Der Sanitäter, der hier an seine Tante schreibt, heißt Georg Dreßler. Er schreibt seinen Brief Anfang Oktober 1916 aus Lille in Frankreich. Am Ende dieses Jahres werden bei Verdun 700 000 Soldaten ihr Leben verloren haben, ohne dass die Front sich einen Zentimeter bewegt hat. Die Schlacht an der Somme endet im November 1916 mit über einer Million toter oder verwundeter Soldaten. Der Steckrübenwinter wird ab November 1916 auch die deutsche Bevölkerung zu Hause hart treffen. Wie soll man da die neuen „Schlager“ verstehen, die jetzt zum Tanz aufgespielt werden: „Die kleinen Mädchen, die müßt ihr fragen“, „Machen wir’s den Schwalben nach“, „Mädel gibt es wunderfeine“ und „Ohne Weiber geht die Chose nicht“.

Georg Dreßler ist in Lille stationiert. Hier werden andere Lieder gesungen:„O Deutschland hoch in Ehren!“ oder „Haltet aus im Sturmgebraus!“ Im Brief an seine Tante schildert er schonungslos seinen grausamen Dienst als Sanitäter. Über sein persönliches Empfinden und Leiden hinaus berichtet er seiner Tante über zwei dramatische Ereignisse, die sich im Januar und Juli dort abgespielt haben: die Munitionslager-Explosion in Lille und die Schlacht bei Fromelles.

 

Die Schlacht bei Fromelles

Die Schlacht bei Fromelles fand am 19. Juli 1916 statt. Die Alliierten hatten hier eine vermeintliche Schwachstelle der Deutschen ausgemacht. Ein kleiner Entlastungsangriff sollte die Versorgungslage für Waffen und Lebensmittel bessern. Die alliierten Truppen brauchten nämlich dringend Nachschub im Kampf gegen die Deutschen. Doch geriet diese Aktion zu einem riesigen Desaster.

Wie schon an der Somme wurden auch hier Neuseeländer, Südafrikaner, Inder und Australier eingesetzt. Nach dreitägigem schwerem Artilleriefeuer griffen die Briten und Australier am Abend des 19. Juli 1916 die Stellungen der Deutschen an. Die bayrischen Truppen konnten in ihrem gut gesicherten Gräben und Bunkern den Angriff stoppen. Am Ende des Gemetzels waren etwa 1500 Briten und 1500 Deutsche tot oder verwundet. Doch am schwersten hatte es die Australier getroffen: 5533 Soldaten waren vermisst, getötet oder verletzt. Bis heute gilt dieser Tag als einer der „schlimmsten in Australiens gesamter Geschichte“.

http://www.visitbattlefields.co.uk/tours/bff/fromelles-the-forgotten-battlefield/Included

 

Die Explosion in Lille

Am 11. Januar 1916 um 3 Uhr 30 nachts wurde Lille von einer heftigen Explosion erschüttert. Die Bastion „18 Ponts“ war in die Luft gegangen. Sie war Teil der Befestigungsanlage der Stadt und bestand aus überwölbten Bunkern, die als Pulvermagazin dienten. Die Deutschen hatten in der Bastion Munition und Sprengstoff eingelagert. Die Explosion war über 150 Kilometer entfernt in Ostende, Brüssel und Breda zu hören gewesen. Über die Ursachen der Explosion ist nichts Genaues bekannt.

 

Der Brief von Georg Dreßler an seine Tante

Geschrieben d. 6. X. 1916.Meine liebe Tante!Endlich komme ich einmal dazu Dir zu schreiben. Du wirst schon oft gedacht haben, daß ich Dir Deine Gastfreundschaft schlecht lohne und mein Versprechen nicht halte. Aber schau liebe Tante, als ich vom Urlaub zurückkam, fing eine Zeit schwerer Arbeit für uns an, am 19. Juli und 20. waren die schweren Kämpfe bei Fromelles in unserer nächsten Nähe. Du wirst vielleicht in der Zeitung gelesen haben davon. Seit dieser Zeit ist die Tätigkeit auf beiden Seiten immer sehr lebhaft und da ist man froh wenn man einmal einen halben Tag seine vollständige Ruhe hat, auch vom Schreiben.  Durch die lange Dauer des Krieges wird man so gleichgültig gegen alles, Körper und Geist wird abgestumpft und reagiert nicht mehr auf das was einem früher ungewohnt, neu und schrecklich vorkam. Das Schreien der oft schwer verstümmelten Verwundeten läßt einen kalt, man hat zu viel zu thun mit ihnen, ein Sanitäter darf nicht zimperlich sein, sonst würde er wahnsinnig werden bei all dem Elend, das der Krieg mit sich bringt. Durch die ständige Beherrschung und Niederzwingung des Mitgefühls wird man zuletzt wirklich immun dagegen. Heute habe ich Geschlechtskranke zu begleiten nach Tournai in Belgien, morgen Geisteskranke nach Valenciennes zu bringen und übermorgen, nun da ist wieder ein Lazarettzug zu verladen und Bahnhofwache zu stehen. Die einzige freundliche Abwechslung ist unser Garten, den wir uns angelegt haben, um unsere Suppen zu verbessern und frisches Gemüse und neue Kartoffeln zu bekommen. Es werden täglich ein paar andere abkommandiert zur Gartenarbeit, da ist man wenigstens für einige Stunden weg von den Tragbahren vom Eiter, Blut und Äthergeruch und von der dumpfen, stickigen Luft des Bahnhofs. Da wäre ich viel lieber in der Heimat geblieben. Dort gibt es wenigstens stille Wälder und friedliche Wohnstätten. Aber hier atmet alles Krieg und abstoßende Fremdheit.Am Bahnhof entlang dehnt sich ein ganzes Stadtviertel vollständig zerschossen und ausgebrannt. Die verkohlten Balken und eisernen Träger sind notdürftig etwas zur Seite geräumt, ebenso der Schutt, um die Straßen wieder frei zu bekommen. An den Stellen, wo Einsturzgefahr zu befürchten ist, stehen Schutzleute, damit niemand zu nahe hinkommt. Dann eine halbe Stunde weiter beim südbahnhof wo die größte Explosion aller Zeiten stattfand, am 11. Januar dieses Jahres. Sie zerstörte allein ein ganzes Viertel von Lille. Darunter eine große Schuh- und Lederfabrik. Die großen Ladehallen des Südbahnhofes kippten teilweise um, und die Kohlenlager und Geleise wurden verschüttet. Die Sanitätsmannschaften hatten viele Mühe, um die Umgekommenen und lebendig Begrabenen aus den Trümmern zu ziehen. Es war meistens franz. Zivilbevölkerung. Einige Hundert. Darunter nur 30 Mann deutsches Militär. Es war ein Glück, daß das Munitionsdepot so weit außen an der Stadtgrenze lag, sonst wäre halb Lille vom Erdboden weggefegt worden. Ich kam erst 8 Wochen später hierher von den Vogesen aus, aber noch damals lagen in halb Lille die Glasscherben der zerbrochenen Fensterscheiben auf der Straße. die der ungeheure Luftdruck, der über der Stadt raste, auf die Straße warf. Liebe Tante. Erst heute komme ich dazu den Brief zu vollenden. Ich hatte schon seit einigen Tagen Durchfall durch das viele Konservenzeug, das man hier essen muß und am 10. wurde die Sache schlimm. Ich hatte Blut im Stuhlgang und bekam Fieber. Also ging ich ins Lazarett. Ich hatte die Ruhr. Bin aber schon wieder auf dem Besserungsweg. Wird wohl noch 14 Tage dauern, bis ich wieder arbeiten kann. Gruß an Deine Söhne. Ihre Adressen habe ich verloren. Vielleicht bist Du so gut und teilst sie mir noch einmal mit. Auf Wiedersehen bald.Dein Neffe Georg Dreßler.