Das Liebespaar

Leonhard Frank veröffentlichte 1917 in Zürich mehrere Novellen unter dem Titel „Der Mensch ist gut“. In Deutschland wurde das Buch sofort verboten. Es sind dies die fünf Novellen Der Vater, Die Kriegswitwe, Die Mutter, Das Liebespaar, Die Kriegskrüppel.
Leonhard Frank, Der Mensch ist gut
Max Rascher, Verlag, Zürich, 1918, Copyright 1918 by Max Rascher, Verlag, Zürich
Geschrieben 1916 bis Frühling 1917
http://www.gutenberg.org/files/35176/35176-h/35176-h.htm

Das Liebespaar
Früh um fünf Uhr läutete die Wohnungsglocke langgezogen in den Traum des Rechtsanwaltes hinein.
Der Schlaftrunkene tappte durch den dunklen Wohnungsflur zur verschlossenen Tür. „Wer ist da?“
„Die Polizei.“
Sofort fiel ihm ein, daß er am Tage vorher in einer Gesellschaft gesagt hatte: „Der Hotelkellner, der die revolutionären Friedensdemonstrationen verursacht und dabei den Leuten erklärt, daß militärische Eroberungen menschenunwürdig und militärische Siege nicht maßgebend sind für den inneren Wert einer Nation, leistet für die Zukunft des Volkes mehr als unser berühmtester Heerführer.“
Und jetzt lassen mich die Scharfrichter der Menschlichkeit verhaften, dachte der Rechtsanwalt und öffnete. „Wen suchen Sie?“
„Der bin ich selbst.“
„Sie möchten ins Leichenschauhaus kommen, Herr Doktor. Dort ist ein Selbstmörder eingeliefert worden, bei dem nur Ihre Visitenkarte gefunden wurde. Sonst nichts.“
„Sonst nichts? . . . Ich meine, sonst liegt nichts vor?“
„Sie möchten feststellen, wer der Selbstmörder ist.“
Noch Morgenstille in Berlin. Dämmerung in den Asphaltstraßen.
Eine leicht bewegte, in Viererreihen streng geordnete Menschenmenge steht an der Markthalle entlang. Grau, spukhaft und ungeheuer bedrückt.
„Auf was warten die Leute?“ fragte der Anwalt einen alten Arbeiter, der zerrissene, mit Bindfaden geflickte Lackschuhe anhatte.
„Es gibt städtische Fische . . . Um ein Uhr mittags beginnt der Verkauf.“
„Und da stehen die Leute jetzt schon hier? Früh um fünf Uhr?“
Wie die Worte klingen in der Stille, dachte er.
„Wir stehen schon seit gestern abend um zehn Uhr hier . . . Die Rückwärtigen, die erst gegen Mitternacht gekommen sind, kriegen wahrscheinlich nichts . . . Vielleicht aber doch; wahrscheinlich aber nicht.“
Der Anwalt ging mit dem Schutzmann weiter. ‚Man hat diesem wunderbaren, geistig entsetzlich ruinierten Volk die Pflicht, für den Staat zu leben und zu sterben, eingegeben, und an diesem Brocken würgen die siebzig Millionen — daheim und an den Fronten — so lange, bis sie erstickt sein werden im Dienste eines Staates, dessen Geist — vorsichtig gesprochen — schwer mitschuldig ist am Kriege. Millionen sind schon an dieser falschen Pflicht erstickt. Wann wird dieses Volk ebenso stoisch für die Freiheit dulden?‘
„Hier ist das Leichenschauhaus.“
„Danke. Ich schreibe den Bericht heute noch an das Polizeipräsidium.“ ‚Wenn täglich Tausende an der Front krepieren, weshalb da nicht täglich Hunderte in der Stadt für die hohe Idee? Für die Freiheit? Für die Verbrüderung? . . . Wo ist der Idealismus dieses Volkes geblieben?‘
Der lag im Leichenschauhause, in Gestalt von momentan zwanzig Selbstmördern, die, ohne zu revoltieren, protestlos die Kulturgemeinschaft verlassen hatten.
Ein mit den letzten Errungenschaften der Hygiene ausgestatteter Raum: große Glasscheiben, große Ventilatoren, große Eisblöcke, die langsam schmolzen und die Leichen frisch erhielten. Kein Gestank. Peinlichste Ordnung,
etwas gestört, dadurch, daß fünf Selbstmörder, für welche Pritschen nicht übrig geblieben waren, auf dem reingewaschenen, weißen Steinplattenboden lagen.
‚Jetzt, beim Morgengrauen, wird an den Fronten die phantastisch wilde Mörderei armer Menschen schon wieder begonnen haben‘, dachte der Anwalt und betrachtete die zwei Erhängten, die, schief und steif, in der Ecke hockten, nebeneinander: ein Ehepaar, dem der Krieg zum Stricke geworden war. Aus den weitaufgerissenen Mündern heraus strotzten die zwei Zungen: dick, steif, lang, blau.
‚Und wieviele Mütter, Bräute und Väter Europas liegen in dieser Sekunde wachend in den Betten, mit starr offenen, sehenden Augen? . . . Es gibt städtische Fische‘, dachte der Anwalt. ‚So beginnt der Tag.‘
Beim Fenster lag ein Haufen blutiger Dreck, Gedärme, Knochen: ein alter Mann, der vom vierten Stocke aus hinunter auf das Pflaster gesprungen war, nachdem sein Sohn den Heldentod gefunden hatte.
Auf dem niedrigen, breiten Fenstersims, in das die Dampfheizung eingebaut war, lag langgestreckt eine sehr elegante, leichtgeschminkte alte Dame, die Gift genommen hatte und mit ihren toten Augen einen toten Jüngling anstarrte, dessen Lippen leises Erstaunen offen hielten.
‚Und wie haben der alte Mann und die alte Dame und der Knabe gelitten, bevor sie den letzten Schritt taten? Und wie die Millionen Soldaten, bevor sie ins Nichts stürzten?‘
Die übrigen sechzehn Kriegsselbstmörder lagen langgestreckt oder krampfkrumm, blutig oder giftbleich auf den abwaschbaren, weißlackierten Pritschen, über denen die drei großen Horizontalventilatoren kreisten. Auch in die Fenster waren sausende Ventilatoren eingebaut, die das Wort ‚Krieg‘ Tag und Nacht in die Länge zogen.
Der Leichenwärter führte den Anwalt zu dem vierzigjährigen Manne, der, von links gezählt, auf der fünften Pritsche lag und ein ungeheuer klagendes, zart hellblaues Gesicht hatte.
Der Anwalt erkannte in der Leiche sofort den Philosophen, dessen Einleitungsband einer ‚Gegensatzphilosophie‘ erst kürzlich erschienen war.
Schrecken und Zorn wechselten in schneller Folge in den Augen des Anwaltes, beim Erblicken dieses hellblauen Gesichtes, das erstarrt war in der Klage darüber, daß ein dreist-materialistisches, ungeistiges Zeitalter nicht erlaubt hatte, das Lebenswerk aufzubauen und zu vollenden.
„Weshalb hat er sich denn umgebracht? Weshalb denn?“
„Weiß nicht. Aber gewöhnlich liegt die Einberufung zum Militärdienst auf dem Tische; oder die Nachricht, daß der Mann gefallen ist, der Sohn . . . Bei dem Mädchen dort wars der Bräutigam.“ Er deutete auf das Mädchen, das, von links gezählt, auf der sechsten Pritsche neben dem Philosophen lag und wie er ein zart hellblaues Gesicht hatte.
Beide hatten sich mit Gas vergiftet.
„Weshalb griff er denn dem Schicksal vor? Er hätte sich doch sagen können: nicht alle fallen an der Front.“
„So habe ich bis vor zwei Jahren auch gedacht; seither habe ich mit vielen Angehörigen gesprochen . . . Es ist bei vielen nicht die Furcht vor dem Tode; es ist die Furcht vor der Kaserne. Es gibt Leute, die den Kasernenhof . . . und so weiter, nicht ertragen.“ Der Leichenwärter setzte sich, stützte den Ellenbogen auf eine Bahre, auf der eine Wasserleiche lag: ein schlammiges, grünes Etwas ohne Nase und Augen. Der Bauch war hoch aufgetrieben. Wasser tropfte immer noch gleichmäßig von der reinen, weißen Bahre hinunter auf den reinen, weißen Boden. Die Leiche war drei Wochen lang geschwommen.
‚Ist das Leichenschauhaus auch ein Feld der Ehre, auf dem Menschen liegen, die gestorben sind für des Reiches Größe und Weltmachtstellung?‘ „. . . Wer ist dieser Ertrunkene?“
„Das weiß man nicht. Zurzeit werden siebzehn Leute in Berlin vermißt. Einer von diesen ist er . . . Man kommt gar nicht mehr zu sich.“ Der Leichenwärter war stark abgemagert, sah übermüdet und schwindsüchtig aus und trug ein offenes Hemd mit Schillerkragen.
„Viel zu tun?“ . . . ‚Weshalb frage ich ihn das?‘
„Es geht ununterbrochen. Ununterbrochen! Jeden Tag werden durchschnittlich acht bis zehn Selbstmörder eingeliefert . . . Vor dem Kriege einer, höchstens zwei im Tage.“
„Jeden Tag acht? Allein in Berlin?“ Dabei werden längst nicht alle Selbstmörder ins Leichenschauhaus gebracht, weiß ich aus Erfahrung, dachte der Anwalt. „Elektrisches Licht ist auch hier?“ ‚. . . Weshalb frage ich das?‘
Ein paar Sekunden blieb es still im Schauhause. Die Morgendämmerung lag noch über den Leichen, schmolz sie zusammen zu einer dunklen Masse.
„Ja, auch elektrisches Licht . . . Und rollbare Pritschen. Elektrische Weckapparate. Dynamoventilatoren. Überhaupt das Allerneueste auf diesem Gebiete . . . Dieses Luftsaugröhrensystem ist ganz neu.“ Er stand müde auf, drehte am Schalter; drei Bogenlampen zischten, spritzten grellweißes Licht:
die zwanzig Leichen schienen lebendig geworden zu sein. Stille und wilde Gesichter. Manche sahen aus, als wollten sie etwas sagen.
„Auch ein Sauerstoffapparat für die mit Gas Vergifteten ist da. Und ein kleines Wartezimmer für die Angehörigen. Nebenan wohne ich.“
„Wohnen Sie? . . . Alles tadellos.“ ‚. . . Was geschieht mit diesem Volke? Warum ruiniert man dieses Volk? Dieses geduldige, fleißige, tüchtige, temperamentlose, gründliche Volk, das protestlos alle Qualen des Daseins trägt und protestlos stirbt, an der Front und in der Stadt. Dieses Duldervolk, dem mit Hilfe des denkbar raffiniertesten Systems das Denken und damit schon von vornherein jeder Einzelprotest unmöglich gemacht worden ist . . . Wenn es endlich einmal protestiert, wird sein Protest geduldig, fleißig, temperamentlos und ungeheuer gründlich, ungeheuer blutig sein . . . falls seine Herren in dem von Gott gesetzten Augenblick nicht freiwillig gehen.‘
Ohne gefragt worden zu sein, sagte der Wärter: „Ich führe eine Statistik der Todesarten Berliner Selbstmörder. Momentan habe ich drei Erhängte, fünf Wasserleichen, zwei Giftleichen, sieben Gasleichen, drei, die sich aus dem Fenster gestürzt haben, und nur einen, der sich erschossen hat; einen Soldaten, der auf Urlaub war. Dort liegt er . . . Die Pritschen reichen nicht mehr aus. Am häufigsten sind die Gasleichen.“
„Weiß man, weshalb sich der Soldat erschossen hat?“
„Wird seine Frau nicht so vorgefunden haben, wie sich das gehört. Oder er wollte nicht mehr hinaus. Viele wollen nicht mehr hinaus . . . Der Mann bringt sich wegen seiner Frau um. Und die Frauen bringen sich um, weil die Männer gefallen sind. So löscht kreuzweise Eines das Andere aus.“ Er deutete auf das Mädchen, das neben dem Philosophen lag: „Das ist eine Ladnerin; bei ihr wars der Bräutigam.“
„Das haben Sie mir schon gesagt.“ ‚. . . Und jetzt liegt der Philosoph neben der Ladnerin. Der Knabe neben der alten Dame. Die Wasserleiche neben der Giftleiche. Und am häufigsten sind die Gasleichen. Und an der Front liegen Millionen Leichen. Und in Berlin lebt, siegt und verdient man weiter. Die Elektrischen fahren. Und in den Theatern wird gespielt. Und darauf ist man stolz. Denn das ist ein Zeichen von Kultur.‘ „Haben Sie von der revolutionären Friedensdemonstration gehört?“
Der Leichenwärter gab keine Antwort; er wischte wieder das Wasser auf, das von der Leiche heruntergetropft war auf den weißen Steinplattenboden.
Plötzlich zerbrach ein letzter Widerstand, eine letzte Vorsicht im Anwalt: er entschloß sich, sofort den Hotelkellner aufzusuchen.
Unwillkürlich drehte er beim Abschiednehmen das Licht aus. Die Leichen schwammen wieder zu einer dunklen Masse zusammen.
Die Rechnung des Leichenwärters war einfach: ‚Da sich in Berlin, das drei Millionen Einwohner hat, in den letzten drei Jahren achttausendfünfhundert Menschen wegen des Krieges umgebracht haben, werden sich in ganz Deutschland, das siebzig Millionen Einwohner hat, wohl hundertneunzigtausend Menschen wegen des Krieges das Leben genommen haben . . . Und wieviele sind aus Gram über den Heldentod ihrer Angehörigen allmählich eingegangen? Und wieviele sind wahnsinnig geworden? Und wieviele Protestler sitzen im Zuchthause? Wieviel Schwache, Widerstandsunfähige sind krank geworden und eingegangen, bei denen der Befund des Arztes nur hätte lauten können: eigentlich sind sie verhungert?‘
Der Wärter war ein vorsichtiger Mann; er stand in seinem Privatzimmer vor dem Tisch und wog seine Tagesbrotration pedantisch genau ab; er wollte nicht verhungern; er wollte den Krieg überleben; er war interessiert, zu erfahren, welches positive Resultat das Leid und der Tod so vieler Menschen nun eigentlich haben werde.
‚Das sind die Hinterlandkriegstoten: bis jetzt, vorsichtig gerechnet, hundertneunzigtausend Kriegsselbstmörder in Deutschland. Macht mindestens eine Million Selbstmörder in allen kriegführenden Nationen zusammen. Kommen hinzu die zehn Millionen Heldentote. Total: elf Millionen Tote . . . Kommen hinzu die zehn Millionen lebens- und arbeitsunfähig gewordenen Krüppel. Und fünfhundert . . . nein achthundert, nein tausend verpulverte Milliarden, für die den Zins zu erschuften, den arbeitenden Massen überlassen werden wird . . . Wenn ich nun noch das leider nicht zahlenmäßig errechenbare Seelenleid der Hinterbliebenen als unbekannte Pauschalgröße hinzunehme, habe ich ein Recht, auf das positive Resultat, das dieser ungeheure Gesamteinsatz zeitigen wird, neugierig zu sein.‘
Er betrachtete, mit diesem Gedanken beschäftigt, das von einer mächtigen elektrischen Glocke überdachte Klappensystem, das — wie das Klappensystem in einer Telephonzentrale mit den Teilnehmern — durch elektrische Drahtleitung mit den Toten verbunden war. Gift- und Gasleichen und solche, bei denen die Todesursache nicht bekannt war, lagen drei Tage unter Kontakt mit dem Weckapparat. Ein Erwachungsseufzer, die winzigste Fingerbewegung löste den Kontakt aus.
Eine Weile saß der Wärter ganz reglos am Tische; er hörte nur das Rauschen der Ventilatoren in der Leichenhalle, glitt immer tiefer in einen Gefühlstrichter hinunter und kam wieder zu dem alles zusammenfassenden Schlusse: ‚Wenn man sich überlegt, daß alle, daß auch die kompliziertesten, phantastischesten Scheußlichkeiten, die sich ein Menschengehirn auszudenken vermag, in diesem Kriege begangen worden sind, daß man sich keine Grausamkeit, keine Ungerechtigkeit, keine Niedertracht ausdenken kann, die nicht begangen worden wäre, und daß, außer diesem Vorstellbaren zahllose Schandtaten geschehen sind, die man sich gar nicht ausdenken kann, ist Jeder, der im Angesichte dieser Bluttatsache nicht als Protestler im Zuchthause sitzt, nicht irrsinnig wird oder sich das Leben nicht nimmt, ein robustes, gemeines, erbärmliches Individuum. Ein anständiger Mensch, ein Mensch erträgt das Leben nicht, in dem solches möglich ist und auch noch als Heldentum gefeiert wird . . . Unter den hundertneunzigtausend Kriegsselbstmördern waren — und in den Irrenhäusern und Zuchthäusern sind — die anständigsten, edelsten Menschen unseres Volkes.‘
Da riß das markerschütternde Läuten der Totenglocke den Wärter aus der Tiefe des Gefühlstrichters heraus. Im selben Moment sah er, daß eine Klappe gefallen war, sah die Zahl 6. „Einer aufgewacht!“ Stürzte hinüber in die Leichenhalle.
Und wurde, trotz seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung: ‚tot ist tot; und lebendig ist lebendig‘, von einem gewaltigen Schrecken in den Türrahmen festgenagelt:
denn zwei Wiedererwachte, der Philosoph und die Ladnerin, die erst vor einer Stunde kurz hintereinander eingeliefert worden waren, saßen aufrecht auf den Pritschen.
Schneller, als die Frage: ‚Sind die Gasleichen vielleicht infolge der ganz besonders frischen Ventilatoren- und Eisluft wieder zu sich gekommen?‘ in seinem Kopfe entstand, sprang er zum Sauerstoffapparat, mit den roten Schläuchen zu den zwei Wiedererwachten, schob ihnen die Mundstücke zwischen die Lippen. „Tief einatmen!“ Und rannte zum Apparat zurück, drehte die Kurbel.
Die mächtige Totenglocke läutete weiter.
Ein Lächeln, so winzig und fein, als habe er es aus der endlosen Ferne des Todes mit herüber ins Leben gebracht, saß zwischen den halbgeschlossenen Augenlidern des Philosophen.
Die weißgesichtige Ladnerin hatte das klare Gefühl, daß sie wieder bei Bewußtsein war, noch nicht erlangt.
„Tief . . . gleichmäßig und tief . . . einatmen und ausatmen . . . und einatmen“, bat der kurbelnde Wärter.
Die summenden Horizontalventilatoren bestimmten das Atemtempo. Die achtzehn nicht wiedererwachten Leichen umgaben — wie an den Fronten die Heldentoten ihre noch mordenden Kameraden — bleich und blau, steif und krumm, blutig, totenstill und ungeheuer interesselos die zwei Atmenden.
Der Philosoph war schon bei dem Gedanken angelangt: ‚Ich hatte die Einberufung bekommen, hatte mich konsequenterweise umgebracht, war . . . tot im Leichenschauhause gelegen. Das ist ein Vorteil. Jetzt werden sie mich wohl in Ruhe lassen. Werden doch wenigstens einen, der von den Toten auferstanden ist, in Frieden lassen. Werden doch nicht zum zweiten Male versuchen, einen konsequenten Geist in den Kasernenhof zu stellen, um ihn für den Menschenmord brauchbar zu drillen. Man hat doch auch Christus, nachdem er gestorben und wieder auferstanden war, nicht noch einmal gekreuzigt.‘ Das ferne, kleine Lächeln der Befriedigung steckte noch immer zwischen seinen halbgeschlossenen Augenlidern.
Während er folgsam atmete, saß er in Gedanken schon wieder am Schreibtisch bei seinem unvollendeten Lebenswerke, dessen Geist und Idee dem Kasernenhofgeist entgegengesetzt waren.
„Einatmen! Ausatmen! Tief atmen!“ Der Wärter schaltete den Strom für den elektrischen Betrieb des Sauerstoffapparates ein,
sprang hinüber in sein Privatzimmer, um einen leichten Tee für die Wiedererwachten zu kochen.
Die Totenglocke trommelte immer noch: rufend, alarmierend, ohrenbetäubend.
Elementarster Lebenswille stand auf in der entsetzten Ladnerin, als sie die dunkelvioletten Zungen der Erhängten, die aufgetriebene Wasserleiche, den Haufen blutigen Drecks, Gedärme und Knochen erblickte.
Vom Grauen wurde ihr Oberkörper auf die Pritsche zurückgedrückt; sie wandte hilfesuchend die Augen weg vom Tode, nach links, wo das Leben aufrecht auf der Pritsche saß, streckte ihre flehende Hand aus.
Und plötzlich lagen die vom Tode umgebenen zwei Lebenden Hand in Hand und senkten Jeder den Blick auf den Seelengrund des Andern: der Philosoph aus Freundlichkeit und deshalb, weil ihm zur Schärfung seiner Erkenntnisfähigkeit die Menschheitsschande nicht erst plakatiert zu werden brauchte, die Ladnerin, um auf dem Grauen nicht in den Wahnsinn hineinzugleiten.
Der Wiedererwachte legte den Schlauch weg; als Philosoph ohne Verdienst und Privatvermögen hatte er sich daran gewöhnen müssen, körperliche Schläge schnell zu überwinden. Er beobachtete aufmerksam seine wieder folgsam ein- und ausatmende Leidensgenossin: eines der geduldigen, ältlichen Mädchen, die, damit ihre glücklicheren Schwestern gepflegt, sorgenlos und mit äußerlichem Glanze umgeben im Leben stehen können, sich für einen Monatsgehalt von hundertzwanzig Mark in die Tretmaschine der ewig gleichen Täglichkeiten einspannen lassen müssen und sich ihre Brautausstattung — einmal drei Hemden, im nächsten Jahre die Bettstellen, dann die Matratzen, hin und wieder ein Stück von der Kücheneinrichtung — allmählich anschaffen und endlich, wenn die Haut grau, das Blut schon still geworden ist und die Sehnsucht nach dem Wunder schon im Sterben liegt, dem Bräutigam in eine nur etwas anders geartete Tretmaschine folgen.
Dieses kleine, armselige Lebensziel hatte der Krieg gefressen: der Bräutigam war zerstampft worden.
‚Auf dem Felde der Ehre. Für Deutschlands Weltmachtstellung. Für Kaiser und Reich und Erzgruben und Eisenbahnkonzessionen‘, dachte der Leichenwärter.
Und der Philosoph dachte: ‚Zwei sehen einander, werden miteinander bekannt. Und heiraten, ohne einander zu kennen. Dreißig Jahre später kennen sie einander auch noch nicht. Und wenn der eine stirbt, weiß der andere immer noch nicht, mit wem er eigentlich verheiratet gewesen war. Denn jeder gibt sich sein Leben lang die größte Mühe, nur ja nicht zu erfahren, wie und wer er selbst ist. Wie könnte er da die Fähigkeit besitzen, zu erkennen, wer ein Anderer ist? . . . Wenn aber zwei tot im Leichenschauhause zusammentreffen, miteinander wieder aufwachen, sozusagen als Geschwister von der ‚Allmutter Nichts‘ neu geboren werden —‘
Der Philosoph betrachtete die Dampfheizung, die Warmwassereinrichtung mit den vernickelten Hähnen und der großen, weißglasierten Schüssel darunter. ‚Diesen Komfort werden wir allerdings nicht haben in unserer Wohnung.‘
Der Wärter kam mit dem Tee zurück. „Sie atmen nicht?“
„Sagen Sie mir“, fragte der Philosoph dagegen, „für was ist denn eigentlich die Dampfheizung nötig in diesem Hause, wo doch für einen glatten Betrieb die erste Grundbedingung ist, daß alles . . . frisch bleibt?“
„Ganz leichter Tee. Und ohne Zucker muß er getrunken werden . . . Wenn ich in einem kalten Winter die Temperatur von wenigstens ein Grad über Null nicht beibehalten könnte, müßte ich ja die Wasserleichen von den Pritschen loseisen.“
„Also alles bedacht! Hier wenigstens ist für alles gesorgt, wie?“
„Ja, hier fehlt nichts . . . Die Organisation für die Toten ist bei uns einwandfrei. Und die Organisation für das Massensterben ist, wie wir jetzt zugeben müssen, bei uns ebenfalls einwandfrei.“
„Sie sind also auch gegen den Krieg?“ Der Philosoph betrachtete die achtzehn Selbstmörder, die blauzüngig, starrgesichtig und stumm gegen den Krieg protestierten.     „. . . Dieses Leichenschauhaus ist ja geradezu ein pazifistischer Schlupfwinkel.“ Er stieg von der Pritsche herunter.
Die Ladnerin hatte das Mundstück noch zwischen den Lippen, sah aus wie ein Kind, das in ein Spielzeug bläst.
‚Am allermeisten, mehr als die graue Not ihres Lebens und mehr als ihr Selbstmordversuch, rührt mich an ihr die Spitzen-Halskrause: dieses schüchterne, mißglückte Bestreben, schön zu erscheinen‘, dachte der Philosoph.

Die Truppen näherten sich im Laufschritt. Der vorauswippende Leutnant, mit geschultertem Degen, schien nur aus einer Brust zu bestehen.
„Ob sie schießen werden?“ Der Rechtsanwalt riß den Philosophen in ein Haus. „Hat noch einen Ausgang. Durch die andere Tür kommen wir auf den Platz und näher an das Denkmal heran.“
Eine gewaltige Menschenmenge. Auf dem Sockel des Denkmals stand der Kellner.
Die beiden verstanden keines seiner Worte. Hörten nur das fanatische Bravogebrüll von der anderen Seite herüberklingen.
Hoch auf dem Maste, knapp unter dem weißviolett leuchtenden Bogenlampen-Dreistern, hing der Zwanzigjährige. Mit wilder Körpergebärde.
„Den werden sie herunterknallen.“
In der Allee stand eine lange Reihe Fuhrwerke, die den Platz nicht überqueren konnten.
Plötzlich hing an Stelle des Zwanzigjährigen hoch am Lampenmaste ein flatternder, roter Fetzen.
Das tausendfache Jauchzen wurde von den im Laufschritt ankommenden Truppen auseinandergeschnitten. Die Menge — junge Burschen und hauptsächlich Frauen mit aufgelösten Gesichtern — wich durch das dreiteilige Tor und in die Parkanlage zurück.
Eine knabenhaft hohe Kommandostimme. Klatschen auf Gewehrkolben. Drohendes Gelächter. Fliehende, dunkle Rücken.
Eine Frau mit loderndem Antlitz trat vor: „Schießt! Schießt!“ Sie wurde verhaftet.
Der Kellner stand dicht beim Leutnant und sah ihm in die Augen.
Als der Philosophiedoktor und der Rechtsanwalt den Platz schon verlassen hatten und sich umwandten, sahen sie, wie ein Soldat am Lampenmaste emporkletterte und die Hand nach dem roten Fetzen ausstreckte.
„Es ist doch nicht unmöglich, daß die revolutionäre Geistigkeit das letzte, entscheidende Wort haben wird“, sagte der Anwalt.
Sie gingen eilig durch eine menschenleere Geschäftsstraße; nur in der Ferne rannte ein dunkler Frauentrupp davon.
„Leider ist die revolutionäre Geistigkeit, bis auf zwei oder fünf halbverhungerte Vertreter, die gleich Irrsinnigen in einem Blut- und Lügenmeere ohne Balken machtlos herumschwimmen, schon in den Massengräbern oder in den Zuchthäusern. Das muß zu ihrer Ehrenrettung den kommenden Generationen gesagt werden . . . Hier! Sehen Sie, hier!“
Das Schaufenster war eingeschlagen; der Lebensmittelladen leergeplündert. Frauen hatten die Gelegenheit, daß Polizei und Truppen auf dem Platze beschäftigt waren, schnell benutzt.
„Das ist nackter Hunger. Kein revolutionärer Geist“, sagte der Philosoph. Und hob einen geräucherten Fisch von der Straße auf. „. . . Wegen des Fisches und auch aus Kameradschaftlichkeit.“
Er schob ihn unter seinen schwarzen Havelock. „Dieses rapid ins Geldverdienen hineingeratene Volk hat, aus einem öden Materialismus heraus, vor dem Kriege ‚Hoch‘ geschrien, bei Kriegsausbruch nichts, als ‚Hoch‘ geschrien. Und jetzt schreit es nur deshalb nicht mehr ‚Hoch‘, weil der Magen schreit.“
„Wenn aber in jenem entscheidenden Moment die Führer nicht abgeschwenkt wären, in das Lager, das sie bis dahin bekämpft hatten? Dann würden wenigstens die . . . organisierten Massen schon lange in den Protest hineinmarschiert sein, ebenso geschlossen, wie sie in den Krieg marschiert sind.“
„Und ebenso ahnungslos, wie sie in den Krieg marschiert sind . . . Daran können Sie das menschenunwürdige und überaus gefährliche System einer Organisation erkennen, die ihre Mitglieder nur für den Klassenkampf um materielle Vorteile drillt, sie in allen Städten jährlich in dreihundertfünfundsechzig Parteiversammlungen nur zum Durchbringen von Resolutionen im politischen Parteiinteresse benutzt, anstatt sie . . . geistig zu befreien, sie zu denkenden Menschen eigener Entschlußfähigkeit für das Gute zu machen . . . Da braucht sich im entscheidenden Moment nur der Hauptführer als Dummkopf zu erweisen, braucht nur der Hauptführer zum Verräterchen zu werden, und die . . . organisierten, denkunfähigen Massen schwenken mit ab, folgen ihm in den Krieg, ebenso geschlossen, wie sie ihm in den Protest gefolgt wären . . . Die Geistigkeit ist verurteilt, untätig am Rande dieses Krieges zu verharren. Denn zwischen ihr und dem Volke besteht nicht der geringste bewußte Kontakt. Und selbst der Tod der Millionen konnte bei den Hinterbliebenen nicht den geringsten geistesverwandten Gefühlsprotest auslösen. Nur der Magen protestiert. Das ist Materialismus. Christus und Kant, Schiller und Goethe sind vor dem Kriege für eine Leberwurst, für drei Mark Wochenlohn mehr, für eine Wohnung mit Dampfheizung, für das Aufrücken in die ungeistige bürgerliche Lebenshaltung, oder für das Verharren in ihr hingegeben worden. Materialismus: angefangen beim entseelten, maschinierten Fabrikarbeiter, über den vor Bequemlichkeit stinkenden Kanapeebürger und über den Kapitalisten, den modernen Philosophen und Dichter weg, bis hinunter zum ersten Diener des Staates. Hier haben Sie die Ursache des Krieges . . . Dieser gewaltige Block von Egoismus, Gemeinheit und granitener Dummheit kann schwerlich von heute auf morgen gesprengt werden.“
„Und deshalb, meinen Sie, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als den Gashahn zu öffnen, wenn die Einberufung kommt?“
„Es gäbe noch etwas anderes: ich könnte (‚weg von meinem Werke, weg von meinem Werke‘) den Sprung in die blutnasse Gegenwart, den Sprung ins blutnasse Volk machen und, gleich den vielen dunklen Volksexistenzen, die vom Gifte der Organisation verschont geblieben sind und deshalb protestierend auf die Straße steigen konnten, zusammen mit den, vor Machtlosigkeit schon irrsinnig gewordenen, wenigen jungen Dichtern, die noch leben, unter beständiger Todesgefahr versuchen, das wegzureden, was seit Jahrzehnten in das Volk hineingeredet worden ist . . . Der dritte Weg, den der Stellungsbefehl dem Untertanen aufreißt, existiert für mich nicht. Da das tiefste Wort von Jesus Christus: ‚Jede Sünde kann euch vergeben werden, nur die Sünde wider den Geist nicht‘, sich mit meiner Weltanschauung scharf deckt, kann ich nicht in den Kasernenhof gehen, oder ins Kriegspresseamt, oder in irgend ein Ernährungsamt . . . Ich bin mit einer Ladnerin und mit meiner Philosophie verheiratet. Und kann zur Not in ein Christushoch, in ein Sokrateshoch, in ein Kanthoch einstimmen. In ein Hindenburghoch oder in ein Kaiserhoch kann ich nicht einstimmen; denn ich bin kein Sozialdemokrat.“
Das Sprechen hatte ihn angestrengt und erregt; ein Abglanz geistiger Heiterkeit war nie ganz aus seinem Gesichte verschwunden.
Und entstand wieder, als er, heftig atmend im vierten Stocke angelangt, seine Frau begrüßte.
Die scheintot gewesene Ladnerin hatte sich wenig verändert; die Spitzenkrause schmückte noch ihren kindlich-dünnen Hals. Und in ihren Augen stand der innere Blick, den Menschen haben, die halb dem Tode gehören.
Behutsam führte er seine schon schwangere Frau in den niedrigen, schiefdeckigen Raum, der Wohn-, Schlaf-, Arbeitszimmer und Küche in einem war.
Und sah plötzlich, daß auf dem weißgescheuerten Küchentisch, den er auch als Schreibtisch benutzte, wieder ein Stellungsbefehl lag.
Der ungeheure Schrecken, gepaart mit augenblicklichem Erkennen seiner Situation, riß ihn sofort auf die reine Fläche, wo alle Dinge und Gedanken im schärfsten Lichte stehen, so daß keinerlei Ausflucht, Vorspiegelung, Selbstbelügung mehr möglich ist.
Da fühlte er wieder das furchtbare innere Weinen, das nicht bis in sein geistesstarr werdendes Gesicht vordrang. Es glich dem kalten Antlitz Gottes, als er dachte:
‚Es gibt zwei Pole: das korrumpierte, krummgenagelte Weltgeschehen und das höchste, herrlichste Ziel für den Menschen: das ‚Reine Ich‘ und eine menschliche Gemeinschaft, für die er als Reines Ich handeln, leben und auch sein Leben hingeben kann. Diesem Ziele kann der Mensch nur so lange zustreben, solange er mit der Korruption, der Lüge, dem Zwange, dem Ungeiste unablässig kämpft. In dem Moment, da er eine Handlung begeht, die zu diesem Streben im Widerspruche steht, ist die Linie gebrochen. Der Mensch, der für eine, für seine Idee kämpft und stirbt, ist groß, denn er kämpft und stirbt auf dem Wege zu sich, stirbt im Kampfe um sein Reines Ich. Der Mensch, der sich zwingen läßt, zu handeln, zu kämpfen, zu sterben für eine Idee, die zu dem Streben nach seinem Ich im Widersprüche steht, ist der Ärmste der Armen; denn er verliert das Kostbarste, das einzige, das der Mensch in Wahrheit besitzen kann: verliert sein Ich, verliert sich, ist nicht mehr, wird von den andern, die selbst nicht sind, besessen.‘
In Gedanken las er das Wort ‚Stellungsbefehl‘.
‚. . . Wenn ich dieser Aufforderung, mich zu stellen — wem stellen? ich habe mich nur mir selbst, nur der reinen Idee zu stellen, und einer menschlichen Gemeinschaft nur dann, wenn sie das Streben der Menschen nach ihrem Ich als berechtigt anerkennt und fordert — wenn ich dieser Aufforderung folge, werde ich, zusammen mit einer Reihe von Menschen, vermutlich zuerst im Kasernenhof aufgestellt, in dem der Grundsatz herrscht: ‚Du hast keine eigene Meinung zu haben‘. Und der Grundsatz: ‚Macht und Gewalt stehen über Geist und Recht‘. Ein Unteroffizier, ein Vorgesetzter — nur das Reine Ich ist mein Vorgesetzter — ein Unteroffizier, ein Mensch, der sich, der sein Selbst aufgegeben hat, also nicht mehr ist, ein Etwas wird im Auftrage derer, die ihn besitzen, sagen: ‚Das dürft ihr nicht tun; und das müßt ihr tun.‘ Ich werde also gezwungen, irgend etwas zu tun, oder nicht zu tun. Gezwungen! Das heißt: ich werde schlecht behandelt, eingesperrt, oder erschossen, wenn ich mich diesem Zwange nicht füge. Mit andern Worten: ich werde erschossen, wenn ich weiter gehe auf dem Wege, der zur Wahrheit, zum Geiste, zu Gott, zum Reinen Ich führt . . . Ich werde erschossen, wenn ich mich bemühe, so zu sein, wie ich bin!‘
Der Philosoph rief seine Frau, die im Hintergrunde des Zimmers reglos am kalten Gasherd saß, vom Dunkel schon halb verschlungen.
„Weißt du, was Militarismus ist?“
Sie wollte antworten: ‚Wenn uns das Einzige, das Liebste, das wir haben, genommen, erschlagen wird.‘ Und sagte: „Du meinst die Schiffe, die Kanonen . . . die Rüstungen.“ Sie konnte nicht weinen.
„Nein, diese Sachen aus Stahl und Eisen, die dem Volke so viel Geld und Arbeitsschweiß kosten, sind ungefährlich, verglichen mit dem, was Militarismus ist. Gefährlich und tötlich ist der geistige Zwang, der negative Geist, der konservierende Kollektiv- und Staatsgeist, der sich gegen den Geist richtet . . . Ich werde dir an einem Vorfall erklären, was Militarismus ist.“
‚Er will mir nur deshalb erklären, was Militarismus ist, um mir begreiflich zu machen, daß ihm nichts anderes übrig bleibe, als sich umzubringen‘, fühlte die Frau und sah schon jetzt ihre armen Einwände zerflattern.
„Was ich dir jetzt erzähle, denke ich mir nicht zurecht. Alle Zeitungen haben das berichtet:
Ein deutscher Soldat, der ein Stück der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz zu bewachen hatte, sah, wie ein Mensch über die Grenze sprang. Die Pflicht dieses Soldaten war, hörst du, seine Pflicht war, gut zu zielen und sofort auf diesen Menschen zu schießen, diesem Menschen dadurch, daß er ihn verwundete oder erschoß, das Passieren der Grenze unmöglich zu machen. Das war seine . . . Pflicht. Aber sein Wesen, sein eigenes Ich stand dunkel auf gegen diese . . . Pflicht. Er wollte nicht schießen und . . . schoß. Sah, wie der Getroffene fiel, sich bäumte und verröchelte. Und wurde . . . wahnsinnig. Der Widerstand gegen das Morden muß also sehr stark gewesen sein; aber die Disziplin war noch etwas stärker . . . Hier hast du auf der einen Seite, repräsentiert durch diesen Soldaten, die guten Eigenschaften des Volkes, und auf der andern Seite, gleichfalls repräsentiert durch diesen Soldaten, den Militarismus.“
Die Frau bewegte die trocken gewordenen Lippen.
„Du meinst“, sagte der Philosoph, „der Soldat hätte ja nur so zu tun brauchen, als ziele er, hätte in die Luft schießen können. Das wäre dann sozusagen nur eine kleine Notlüge gewesen. Aber selbst dies lassen die Disziplin und das falsche Pflichtbewußtsein, die seit Generationen mit allen erdenklichen Mitteln in das Volk hineingepaukt worden sind, nicht zu . . . Außerdem trieb den Soldaten auch noch der Wunsch, von seinen Kameraden nicht für empfindlich und schwächlich gehalten zu werden. Dieses falsche Ehrgefühl, das sich allmählich beim ganzen Volke herausgebildet hat, ist das Allergefährlichste. Einem Menschen ohne Besinnen einen gutgezielten tötlichen Treffer in den Kopf hineinzujagen, ist eine Ehre; ihn nicht zu treffen, ist ein wenig ehrenrührig . . . Dieser arme, bedauernswerte Mann will nicht schießen, zielt schnell und genau, schießt, trifft gut und wird wahnsinnig. Das ist Militarismus.“
„Du mußt hingehen. Vielleicht kommst du nur in ein Bureau.“ Das hatten nur ihre Lippen gesprochen.
„Nein! . . . Höre, ein vielleicht noch klareres Beispiel dafür, was Militarismus ist: ein Soldat bekommt den Befehl, einen siebzigjährigen Bauern zu erschießen. Das war in Serbien. Der Soldat weiß nicht einmal, weshalb der Alte erschossen werden soll. Der Soldat bekam nur den Befehl, in dem stand, daß er den Alten in das zwei Stunden entfernt liegende Dorf zu führen und dort zu erschießen habe . . . Sein ganzes Wesen, das heißt, sein eigenes Wesen empört sich dagegen, diesen vollkommen wehrlosen alten Mann zu erschießen, dessen Verbrechen er nicht einmal kennt, und der auf dem Wege zwei Stunden lang seine Unschuld beteuert in einer Sprache, die der Soldat nicht versteht, und mit Tränen und Gebärden, die der Soldat ungeheuer versteht. Zwei Stunden lang kämpft der Soldat, während er neben dem Opfer über Feld geht, mit seinem Gewissen, hinter dem starr die Pflicht und die Disziplin stehen. Dieser Soldat hat für sich persönlich folgende Lösung gefunden: er schoß zuerst den Alten nieder, und dann erschoß er sich selbst . . . Jetzt meinst du vermutlich wieder: wenn sein Gewissen, der dunkle, wilde Drang nach Wahrheit, nach seinem eigenen Ich, nicht zuließ, den Alten zu erschießen, ohne auch sich selbst zu erschießen, hätte er doch wenigstens nur sich selbst erschießen und den Alten laufen lassen sollen . . . Aber das wäre ja gegen die Disziplin, wäre ja eine Pflichtverletzung und wäre ehrenrührig gewesen. Das eben ist Militarismus. Nicht die Kanonen, sondern der negative Geist des Zwanges ist der Militarismus, den der Grenzsoldat und dieser Soldat als gegen den Geist, gegen das Gewissen, gegen ihr eigenes Ich gerichtet empfunden haben, und den gleich ihnen noch viele empfinden. Diese erleiden ein tragisches Schicksal; denn sie erkennen dunkel das vor Gott und den Menschen sündhafte dieses Geistes, leiden unter diesem Geiste. Und können sich nicht vor ihm retten. Millionen andere — nicht nur die Soldaten, sondern das Volk in seiner großen Mehrzahl — haben, zwar nicht vor Gott, aber vor ihrem, allerdings nur scheinbar vorhandenen, eigenen Selbst — das Recht, im Dienste dieses Geistes zu kämpfen, Menschen zu ermorden und selbst zu sterben; denn sie morden in dem guten Glauben, nicht zu morden, sondern für ein Ideal zu kämpfen, für ein Vaterland, für den Staat, für eine Gemeinschaft, die wert ist, beschirmt und erhalten zu werden. Man hat sie von ihrer frühesten Kindheit an mit diesem Geiste getränkt und gefüttert, ihr eigenes Wesen, ihr Ich in diesem Geiste total ertränkt. Sie sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu machen. Denn sie konnten zu eigenem Denken, zu der Fähigkeit, sich moralisch zu entscheiden, konnten zu sich selbst, zu ihrem Ich nie kommen; sie sind nicht, sind nicht vorhanden, sind keine Menschen, sondern denkunfähige, seelenlose, unverantwortliche Automaten, die funktionieren . . . Verstehst du jetzt, daß es sehr schwer sein wird, den Militarismus umzubringen?“
Er bekam keine Antwort; die Frau war ganz plötzlich, von einer Sekunde zur andern, eingeschlafen.
Unter dem Philosophen versank die Welt. Sein Wesen wurde grau vor Einsamkeit.
Erst Minuten später betrachtete er wieder das Gesicht der Schlafenden, das den Ausdruck furchtbarster Trauer und Klage trug.
Sie sieht aus wie ein ungeborenes Wesen, das klagt, weil es nicht geboren werden kann, dachte der Philosoph. Und wußte plötzlich: ‚Sie ist eingeschlafen, weil sie erkannt hat, daß sie selbst eines dieser Wesen ist, die zu eigenem Denken, zu eigenem Leben, zu sich selbst nicht kommen durften.‘
Wilde Liebe und schmerzdurchtobtes Erbarmen drückte des Philosophen Kopf auf die Tischplatte. Vor seinem inneren Gesicht stand klar der Gedanke: ‚Für eine Gemeinschaft zu handeln, deren Geist die Mitglieder zwingt, nicht zu denken, kein eigenes Leben, kein eigenes Ich, kein warnendes Gewissen zu haben, sondern seelenlose, unverantwortliche Automaten zu sein, die, wenn sie nicht jede befohlene Schandtat willenlos ausführen, eingesperrt oder erschossen werden, für eine solche Gemeinschaft zu handeln, ist ein Verbrechen wider den Geist, das nicht vergeben werden kann. Es bleibt die sittliche Pflicht gegen Gott, gegen unser reines Ich, diese Gemeinschaft zu bekämpfen und damit für die Möglichkeit zu arbeiten, daß einmal eine Gemeinschaft entstehe, in welcher der Mensch . . . gut sein darf, in welcher der Mensch er selbst, ein Ich, ein für seine Handlungen moralisch verantwortliches Ich und als solches . . . gut, das bedeutet: für die Gemeinschaft sein kann.‘
„Vielleicht kommst du nur in ein Bureau.“
Der Philosoph hob den Kopf; die Frau hatte aus dem Schlafe gesprochen. Ihr Gesicht war tränennaß. Durch eine leise Berührung erwachte sie sofort.
Er sprach eindringlich und sanft: „Nehmen wir einmal an, ich käme nur in ein Bureau. Und müßte nur ganz untergeordnete Arbeiten verrichten . . . Vielleicht nur Stellungsbefehle ausfüllen, mit den Namen derer, die daraufhin, meinungslos-pflichtbewußt oder vielleicht gegen ihren Willen, sich einfinden und, nach der Ausbildung, Menschen erschlagen oder selbst sterben würden für eine Gemeinschaft, deren Geist schwer mitschuldig ist an diesem Kriege.“
„Ich weiß nichts mehr.“ Die Frau hätte schwören können, daß sie diese vier Worte nicht gesagt habe.
„Es könnte aber auch sein, daß ich, eingefügt als meinungsloser Handlanger in die Maschinerie dieses höllischen Geistes, den Befehl schreiben müßte:
‚Sie haben den Mann, namens so und so, serbischer Staatsangehörigkeit, siebzig Jahre alt, nach . . . zu führen und ihn dort zu erschießen.‘
Was sollte ich dann tun?“
Nach minutenlanger Stille fragte er noch einmal: „Was sollte ich dann tun?“
Die Frau wußte und gab auch diesmal keine Antwort. Aus ihren Augen heraus fragte stumm das ganze Volk: ‚Was sollen wir denn tun?‘
In der Stube stand schon die Finsternis. Und in ihr die dunkle Gewalt, die den Körper töten kann.
Da fühlte plötzlich der Philosoph, wie im tiefsten Urgrund seiner Seele, im mystischen Punkt, die Flamme entstand, die rapid zur Feuersbrunst wurde und seine Bereitschaft, sich wieder protestlos ins Leichenschauhaus zu legen, sekündlich verbrannte.
In ihm stand ein ungeheurer Wille auf: die Bereitschaft eines tödlich verzweifelten reinen Geistes, sich der Notdurft der Gegenwart anheimzugeben.
Von dieser Stunde an begann der stürmische Pilgergang.
Die schwangere Frau hatte nur ein wollenes Brusttuch mitgenommen aus ihrer Wohnung, in die sie nicht mehr zurückkehrten. Der Stellungsbefehl lag auf dem Tische.
Aus der unvermittelt in ihm entstandenen wilden Hoffnung, daß das unmeßbare Leid dreier Kriegsjahre den Aufstieg des Menschenrechtes ermöglicht habe, wuchs dem Philosophen die Kraft zu dem Versuche, den vergewaltigten Menschen zu erklären, weshalb ihr Ausharren und ihre Arbeit Mord und gegen sie selbst gerichtet sei.
Seine Stimme hallte durch die Stadtviertel, in denen der Gestank der Armut und des Hungers stand.
Die ‚Unbekannten‘: dunkle Existenzen, aus dem nie versiegbaren Behälter der Volksseele plötzlich emporgestoßen in die ewige Freiheitsidee, stiegen auf die Straße. Volk, dem Zwange entrissen, ins Menschentum hochgerissen, stieg auf die Straße.
Und während die Führer des Volkes in blutüberströmter Bescheidenheit weiter über kleine Reformen resultatlos diskutierten, weiter unverdrossen neue besetzte Länder, neue Versenkungen und neue Kriegserklärungen buchten, neuen Zwangserlassen gegen das gemarterte Volk und neuen Dankadressen an die Sieger zustimmten, während so das Volk zu Millionen im Blute ersoff, versuchten in der überreif gewordenen Zeit der Philosoph und seine Anhänger, zusammen mit dem Kellner und dem Zwanzigjährigen, die gequälten, vergewaltigten Herzen für die Idee der Freiheit und der Liebe aufzureißen. Versuchte mit letzter Hingabe der Philosoph, dem Volke zu zeigen, auf welcher Seite im Lande der Feind, die Brutalität und die Dummheit waren.
Das Netz maßlosen Leides und dunklen Aufruhrs lag über der Stadt.
Erst bei der wuchtigen Massenerhebung gegen den Raubrittergeist einiger zehntausend mittelalterlicher Existenzen, gegen den Raubrittergeist, der den Krieg losgebunden hat, traf die Gewalt den Philosophen, als er in der Menschengasse, die von herangaloppierenden Schutzleuten in die Menge hineingeritten worden war, das Recht des Menschen proklamierte; vor dem Leutnant,
der den Befehl zum Feuern gab.
Die Frau ging langsam auf den Ermordeten zu: schritt langsam hinein in die zweite Gewehrsalve junger Soldaten, die, bleich und im Herzen schon empört, noch in der falschen Pflicht standen. Die vierzig- und fünfzigjährigen Landsturmmänner hatten sich geweigert, ins Volk und damit sich selbst ins Herz zu schießen.
Am andern Morgen lagen der Philosoph und die Ladnerin, als Repräsentanten des Volkes, wieder im Leichenschauhause, nebeneinander.
Die Idee, die nicht erschossen werden kann, brach in Millionen Herzen ein.
Der Wärter stand vor dem Paare. Und plötzlich rückte er die zwei Pritschen dicht zusammen. ‚Man liebt doch die Menschen. Liebt doch die Menschen . . . Die armen Menschen.‘
Das Leichenschauhaus war vergrößert, die Wand, die das Zimmer des Wärters und das Wartezimmer für die Angehörigen abgesondert hatte, war herausgebrochen, der weiße Steinplattenboden fortgesetzt und die Pritschen um sechzehn Stück vermehrt worden.
Der Bruch war, wie bei Typenmöbeln, die glatt aneinander gefügt werden können, nicht zu bemerken.
Ein vierter, neuer Horizontalventilator kreiste zusammen mit den drei alten über den zweiunddreißig Leichen.