Wie erklärt man Kindern den Krieg?

Nur noch die ältere Generation kann mit dem Namen Agnes Sapper etwas anfangen. Die Jüngeren unter uns googeln und finden bei Wikipedia:

Agnes Sapper (* 12. April 1852; † 19. März 1929) war neben Johanna Spyri und Ottilie Wildermuth eine der erfolgreichsten und meistgelesenen deutschsprachigen Jugendbuchautorinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Allein von ihrem bekanntesten Roman „Die Familie Pfäffling“, veröffentlicht 1907, wurden rund 900.000 Exemplare verkauft.

Als der Krieg im August 1914 beginnt, hat Agnes Sapper plötzlich ein neues Thema: KRIEG. Sie schreibt so schnell an ihrer Kriegsgeschichte, damit das neue Werk noch zu Weihnachten auf dem Gabentisch liegen kann. Man glaubt es kaum, aber sie schafft es. Der Krieg ist nur wenige Wochen alt, und die erfolgreiche Jugendbuchautorin schreibt ein „Kriegsbüchlein für unsere Kinder“.sapp_0006Wie kann man Kindern erklären, was Krieg bedeutet? Das zu beantworten, hat sich Agnes Sapper hier vorgenommen. Sie schafft es auf ihre Art und Weise. Wie viele in der damaligen aufgewühlten Zeit verharmlost und vereinfacht sie die Kriegsereignisse. Ob in den Tiroler Bergen, in einem Pfarrhaus in Ostpreußen oder in der Schule – die Erwachsenen erklären den Kindern die Welt, vor allem den Krieg, der da noch nicht Weltkrieg genannt wird. Aber kann man Kindern überhaupt erklären, was Krieg ist und warum er geführt werden muss?

„Sie macht das Nest zur Welt“, meinte James Krüss einmal über Agnes Sapper. Er unterstellt ihr eine Art Gluckenphilosophie und dass sie die Sehnsucht des deutschen Spießers nach der falschen Idylle erfülle. (James Krüss, Naivität und Kunstverstand. Gedanken zur Kinderliteratur, Weinheim, Beltz Verlag, 1992; darin „Die Familie Pfäffling oder Wenn die Moral die Kunst besiegt.“, S. 194-198)

Agnes Sappers Tugendkatalog heißt: Pflichtbewusstsein, Fleiß, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Anstand und gutes Benehmen. Und immer wieder: Gehorsam. Es ist durchaus programmatisch zu verstehen, wenn in ihrer Erzählung „Das erste Schuljahr“ am ersten Schultag erst einmal das Ja-Sagen geübt wird. Als im Jahre 2002 „Die Familie Pfäffling“ neu aufgelegt wurde, gab es nur wenige kritische Stimmen. Das Sonntagsblatt schreibt am 11.8.2002:

Freilich müssen sich ihre Bücher heute einiges an Kritik gefallen lassen. Tatsächlich könne man sich an einigem stoßen, gesteht Lektorin Kipker. Doch wer die Werke mit Muße lese und vor allem Verständnis für die Zeit habe, in der sie geschrieben wurden, werde auch heute noch Erstaunliches, manchmal Tröstliches zwischen den Zeilen finden.
 

Das „Kriegsbüchlein für unsere Kinder“ enthält tatsächlich Erstaunliches im Sinne von „Das kann doch wohl nicht wahr sein, wie Agnes Sapper sich den Krieg vorstellt“. Und der Versuch, Tröstliches zu spenden wird aus heutiger Sicht schnell als schreckliche Vereinfachung entlarvt, in der es auf der einen Seite die guten Deutschen gibt, denen die bösen, bösen Feinde gegenüberstehen.

Ein kleiner Textauszug soll das hier veranschaulichen. Der Gesamttext ist in der Menüleiste unter Kinderbücher zu finden oder unter  http://win2014.de/?page_id=493

Der kleine Franzos.
Als das deutsche Heer im August nach Frankreich einmarschierte, kam es gar schnell auf den großen Straßen, die nach Paris führen, vorwärts. Die Franzosen hatten sich das ganz anders gedacht. Sie wollten auf unsere Hauptstädte losgehen, wir sollten nicht wieder in ihr Land eindringen wie im Jahr 1870. Als sie nun doch wieder sehen mußten, wie unsere Soldaten unaufhaltsam vordrangen, da wurde die ganze französische Bevölkerung von furchtbarem Grimm gegen die Deutschen erfaßt. Männer und Frauen ließen ihre Wut sogar noch an unsern Verwundeten aus und nach der Schlacht, wenn unsere Soldaten friedlich durch ein Dorf zogen, schossen sie heimtückisch, hinter den Fenstern versteckt, aus ihren Häusern heraus.
Da machten unsere Offiziere bekannt, wenn unsere Soldaten friedlich in ein Dorf einzögen, dürfe keinem von ihnen etwas geschehen. Die Einwohner sollten sich hüten und wenn künftig nur auch ein Schuß fiele, so würde das ganze Dorf verbrannt.
Aber die Wut und der Haß waren zu groß; auch glaubten die Leute nicht, daß unsere Soldaten mitten im Krieg gegen die Männer, die keine Waffen trugen, und gegen die Frauen und Kinder freundlich sein würden. Man hatte ihnen so viel vorgelogen, daß sie meinten, die Deutschen seien grausame Barbaren. So kam es immer wieder vor, daß sie wie Meuchelmörder aus dem Hinterhalt auf die einziehenden Deutschen schossen; dann gaben die Offiziere den Befehl, das ganze Dorf in Brand zu schießen, und das geschah.
So kam es, daß eine ganze Anzahl von Dörfern niederbrannte. Viele der Bewohner flüchteten in die nächsten Orte und erzählten dort die Schauergeschichte von dem Brand; aber das erzählten sie nicht, daß sie selbst an diesem Unglück schuld waren. So wurden die Angst vor den Deutschen und der Haß gegen sie immer größer.
Ein großes Dorf, das durch einen Bach in zwei Teile geteilt war, wurde auf diese Weise auch in Brand geschossen; aber nur der Teil, aus dem geschossen worden war. Kirche, Schule und eine Reihe von Häusern rings herum waren verschont geblieben. Dort quartierten sich die Deutschen am Abend ein; aber sie ließen auch die französischen Familien ruhig in ihren Häusern.
 
 

 Links zum Thema „Kinderbücher im Ersten Weltkrieg“:

http://members.aon.at/zeitlupe/werbung/propaganda1.html
 
http://www.erster-weltkrieg.clio-online.de/_Rainbow/documents/keiner%20f%C3%BChlt%20sich%202/audoin-rouzeau.pdf

 

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