Wir können uns heute anhand von Fotos und Dokumenten einigermaßen vorstellen, wie die Menschen vor 100 Jahren lebten und wie die Welt ausgesehen hat. Aber nur sehr vage und verschwommen können wir nachempfinden, was im Sommer 1914 in den Menschen vorging – vom Mord in Sarajewo bis zum 1. August. Stefan Zweig beschreibt in seinen Erinnerungen „Die Welt von Gestern“ die letzten Tage vor Ausbruch des Krieges. Er war gerade bei seinem belgischen Freund Emil Verhaeren und wollte den Rest des Sommers dort in dessen Landhaus in Belgien verbringen.
Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergeßlich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muß ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken,… Mir schien es völlig absurd, daß, während Tausende und Zehntausende von Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit stehen sollte. »Unsinn!« sagte ich. »Hier an dieser Laterne könnt ihr mich aufhängen, wenn die Deutschen in Belgien einmarschieren!«Während Stefan Zweig fast ahnungslos nach Deutschland zurückfahren will, sind die deutschen Truppen bereits aufmarschiert und stehen bereit, um mit schweren Waffen in Belgien einzumarschieren. Am Grenzbahnhof Herbesthal begegnen sich deutsche Urlauber, die mit dem letzten Zug des Ostendeexpress aus Belgien zurückkehren, und deutsche Soldaten, die in Belgien einmarschieren wollen.
Wir standen in den Gängen, aufgeregt und voll Ungeduld, jeder sprach mit dem andern. Niemand vermochte ruhig sitzen zu bleiben oder zu lesen, an jeder Station stürzte man heraus, um neue Nachrichten zu holen, voll der geheimnisvollen Hoffnung, daß irgend eine entschlossene Hand das entfesselte Schicksal noch zurückreißen könnte. Noch immer glaubte man nicht an den Krieg und noch weniger an einen Einbruch in Belgien; man konnte es nicht glauben, weil man einen solchen Irrwitz nicht glauben wollte. Aber auf dem halben Wege nach Herbesthal, der ersten deutschen Station, blieb plötzlich der Zug auf freiem Felde stehen. Wir drängten in den Gängen zu den Fenstern. Was war geschehen? Und da sah ich im Dunklen einen Lastzug nach dem andern uns entgegenkommen, offene Waggons, mit Plachen bedeckt, unter denen ich undeutlich die drohenden Formen von Kanonen zu erkennen glaubte. Mir stockte das Herz. Das mußte der Vormarsch der deutschen Armee sein.Stefan Zweig ist nicht der einzige Deutsche, der sich von dieser sonderbaren Stimmung mitreißen lässt. Innerhalb weniger Tage und Stunden erlebt er, wie aus der Sommeridylle die Welt von Gestern wird. Ihn überfallen nacheinander im rasanten Tempo die widersprüchlichsten Eindrücke und Empfindungen: Aus einer erholsamen Reise wird Flucht, der Besuch eines Freundes endet in Feindschaft, ein kleiner Grenzbahnhof wird der erste Kriegsschauplatz. Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Angst, Panik, aber auch erhabene Gefühle vermischen sich in seinen Erinnerungen.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten Tage in meinem Leben nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast fünfzig Millionen empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller Eigensucht zu läutern.Am 5. August erklärte England „infolge des Durchmarsches deutscher Truppen durch das neutral erklärte Belgien an Deutschland den Krieg“ (Welt-Blatt, Extra-Ausgabe). Wenige Wochen später war die damalige Welt tatsächlich schon von Gestern. Es kam alles anders, als die Deutschen sich das vorgestellt hatten. Wenn heutige Geschichtsbücher von einem Marsch der deutschen Truppen durch Belgien sprechen, ist das nur die halbe Wahrheit. Es gab erbitterten Widerstand der Belgier. Lüttich wurde erst am 16. August, Brüssel am 20. August eingenommen. Deutschlands Kriegsleitung wurde nervös und zornig, wollte man doch nach einem genauen Plan in 42 Tagen in Paris einmarschieren. Dieser Plan wurde von Tag zu Tag aussichtsloser. Der Zorn darüber, die Hektik, ja fast die Panik übertrug sich auch auf die deutschen Truppen. Wo belgische Soldaten Widerstand leisteten, vermuteten die deutschen Offiziere und Soldaten Freischärler, Partisanen oder, wie sie genannt wurden, Franctireurs.
So kam es zu üblen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung. Am 23. August 1914 wurden in Dinant 674 Männer, Frauen und Kinder getötet, rund 60% der 1800 Häuser wurden zerstört. Insgesamt wurden zwischen August und Oktober 1914 in Belgien über 5000 Zivilisten durch Hinrichtungen oder Häuserbeschuss getötet. Ganze Ortschaften wurden barbarisch verwüstet. Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung, Plünderung, Mord und Vergewaltigung begleiteten den Marsch durch Belgien. Am 25. August brannten in Löwen über 1000 Häuser nieder und 248 Bürger starben, zahlreiche Kunstschätze gingen verloren, wertvolle Kulturgüter wurden gnadenlos zerstört. http://www.europa.clio-online.de/_Rainbow/documents/keiner%20f%C3%BChlt%20sich%202/kramer.pdf Solche Gräueltaten gab es also nicht erst im zweiten Weltkrieg. 2001 entschuldigte sich die Bundesrepublik Deutschland bei den Nachkommen der damaligen Opfer in Dinant.
Zu den Postkarten
Bei den deutschen Truppen, die durch Belgien marschieren, befindet sich der Landsturmmann Bischof aus Hamburg. Er ist in Brüssel stationiert, das am 20. August eingenommen wurde. Wie von einer Urlaubsreise schreibt er seiner Tochter eine Postkarte aus der schönen Stadt. Motiv: Entrée du Bois de la Cambre. Was er schreibt, gibt uns Rätsel auf. Von einem Koffer an der Chaussee ist die Rede. Ist der Text verschlüsselt? Seine Grammatik ist jedenfalls gewagt.
Brüssel, 9.12.14 Liebe Käthe, Deine Karte vom 3/12 erhalten und würde ich mich sehr freuen, wenn Du mich mal häufiger schreiben würdest. Bin hier schon seit über 3 Wochen auf Flugwache. Stand über 14 Tage direkt auf dem Platze, mein Koffer ist jetzt an der Chaussee am Eingang. Besten Gruß Dein Papa.Auch seine zweite Karte vom Februar 1915 klingt eher kryptisch.
Brüssel 10.2.15. Liebe Käthe. Karte erhalten, den Schmetterling habe ich in einem Briefe schon vor reichlich 14 Tagen geschrieben, die Karte wohl schon vor längerer Zeit. Freue mich daß Du so guten Appetit hast. Einen schönen Gruß für Dich, Mama, Großmutter Dein Papa