Im letzten Beitrag ging es darum, wie die deutsche Frau die heimkehrenden Krieger zu Hause zu empfangen habe. Mit Blumen, Girlanden und Gesang sollte das Kriegsmärchen zu Ende gehen – so stellte man sich das 1916 vor. Die Wirklichkeit sah zwei Jahre später ganz anders aus. Als am 9. November 1918 der Große Krieg zu Ende ging, waren die deutschen Soldaten zwar kriegsmüde, aber keineswegs friedlich gestimmt. Es bildeten sich im gesamten Reich Soldaten- und Arbeiterräte, der Kaiser musste abdanken. In deutschen Landen herrschte der Ausnahmezustand.
Die heimkehrenden Krieger wurden zwar allüberall mit Girlanden und Blasmusik empfangen, aber die Frauen fanden sich plötzlich in einer merkwürdigen Rolle wieder. Da warnt der Arbeiter- und Soldatenrat in Osnabrück in einem öffentlichen Aufruf die weibliche Bevölkerung mit folgendem Satz: Eine große sittliche Gefahr droht uns durch die aus der Front heimkehrenden Soldaten. Die müden Helden sind für die Frauen eine sittliche Gefahr? Weiter Krieg zu Hause oder wo?
Das Tagebuch eines 17jährigen Schülers aus Osnabrück gibt darüber Aufschluss. Franz Dost hat von August 1918 bis Januar 1919 seine persönlichen Eindrücke aufgeschrieben und auch Fotos und Zeitungsausschnitte eingeklebt. Zu einem späteren Zeitpunkt soll an dieser Stelle das gesamte Tagebuch veröffentlicht werden. Uns interessiert hier zunächst, wie der Schüler Franz Dost das Kriegsende, die revolutionäre Stimmung und die heimkehrenden Truppen erlebt hat. Und natürlich, warum die weibliche Bevölkerung in sittlicher Gefahr war. Hören wir, was im November 1918 in Osnabrück los war.
Tagebuch Franz Dost
Donnerstag, 7.11.18
In den Straßen war großer Betrieb. Es hatte sich mündlich das Gerücht verbreitet: Es würden Mariner aus Kiel oder Bremen erwartet, die auch in Osnabrück die Militärgewalt stürzen sollten. Daher hatten sich am Bahnhof sowie am Neumarkt große Menschenmengen angesammelt. Nachdem ich eine Nachhülfestunde gegeben hatte, ging ich in die Stadt. Wir waren gespannt, wie die Sache wohl gehen würde. Nach unserm Willen hätte es ruhig recht lebhaft werden können. Das wär mal etwas gewesen! Aber es wurde wieder nichts.
Freitag, 8.11.18
Am heutigen Tage wurde es schon brenzliger. Herr Fussel unterhielt sich eine ganze Stunde mit uns über die gegenwärtigen Verhältnisse. Zuletzt ermahnte er uns zur Ruhe und Ordnung; vor allem möchten wir die Straßen meiden und keine Ansammlungen bilden.
Am Neumarkt machten wir eine interessante Beobachtung. Ein Soldat verteilte an vorübergehende Soldaten rote Bänder. Dieses machte er ganz öffentlich, ohne dabei belästigt zu werden. So schien es denn wahr zu werden: Revolution in Osnabrück.
Als um 6 Uhr die Schule aus war, ereigneten sich bemerkenswerte Szenen auf den Straßen. Die Kokarden wurden von den Mützen gerissen, den Offizieren die Säbel abgenommen. Verschiedene Helden (!??) gingen stolz einher, vier bis fünf erbeutete Säbel umgeschnallt. Sämtliche Soldaten der hiesigen Garnison waren zum Arbeiter- und Soldatenrat übergetreten. Auch die Behörden einigten sich mit den Revolutionären. So ging es in aller Ruhe und Ordnung vor sich.
Am Abend fand auf dem Neumarkt eine Kundgebung statt. Für den folgenden Tag wurde Arbeitruhe befohlen. Am Morgen fand eine Versammlung für Soldaten, am Nachmittag für Arbeiter und Bürger statt. Damit fand die Begegnung ihr Ende.
Sonnabend, 9.11.18
Ende des deutschen Kaiserreichs!
Kaiser Wilhelm II. dankt ab auf Forderung der sozialdemokratischen Regierung. Die Kinder auf der Straße sangen:
Oh Tannenbaum und Tannenbaum,
der Kaiser hat in Sack gehaun.
jetzt kauft er sich ‚nen Henkelmann
und fängt bei Krupp in Essen an.
Sonntag, 10.11.18
Nach Kaffee mit Never zum Volksunterhaltungsabend: Deutschland über alles (???). Dann erfuhren wir die schweren Waffenstillstandsbedingungen.
Montag, 11.11.18
Annahme der Bedingungen!
Nach der Lage der Dinge war uns wohl nichts anderes übrig geblieben.
Dienstag, 12.11.18
Wir behandelten gerade in der Stunde von 11-12 den ersten Ähnlichkeitssatz, da wird die Tür aufgerissen. Buch tritt ein. Draußen auf dem Flur werden Karl und Holze sichtbar. Buch: Herr Oberlehrer möchte einmal kommen. Dann wendet er sich an uns mit den Worten: Ihr sollt jetzt zu kriegerischer Tätigkeit herangezogen werden! Hei! Das zündete! Von den Plätzen und raus mit Schnellzuggeschwindigkeit. Auf dem Hofe stellten wir uns auf und hört von Holze, daß wir Decken verladen sollten. Das war freilich ein gewaltiger Dämpfer für die „kriegerische“ Tätigkeit. Etwas anders hatten wir sie uns doch vorgestellt.
Auf dem Schloßhof stand ein Automobil mit drei Anhängern, voll beladen mit Wolldecken. Wir fuhren nun zur Mädchen-Bürgerschule und brachten die Decken in die Turnhalle. Nachmittags um ½ 3 mußten wir wieder auf dem Schloßhof antreten. Nach einiger Wartezeit ratterten auch schon die Automobile heran. Aufgestiegen. Weiter dann zur Bürgerschule. Im Augenblick waren die Decken abgeladen, aber o weh! Als Holze kam, machte er ein dummes Gesicht. Die Decken waren gar nicht für die Bürgerschule bestimmt. Also wieder hinauf damit.
Wir hatten die Schule auszuräumen. D.h. Bänke, Schränke, Pulte, Tafeln u.a. auf den Boden zu schleppen. Das währte bis ½ 6. Da hatten wir auch genug davon.
Montag, 18.11.18
Räumung des Seminars! Stopfen von Strohsäcken in der dortigen Turnhalle. Nachmittag: Auf Stroh gewartet. Das schien aber heute nicht mehr einzutreffen. Zur Bürgerschule und Decken geholt. Dort waren schon Soldaten eingetroffen. Auf dem Hofe standen einige Feldküchen. Sie hatten gerade Kaffee bereit. Endlich kam das Stroh. Jeder hatte 2 Säcke zu stopfen, dann konnte er gehen.
Mittwoch, 20.11.18
Buß- und Bettag
Freitag, 22.11.1918
In diesen Tagen begann man, die Stadt zum Empfang der Truppen auszuschmücken. Fahnen wehen von den Dächern. Girlanden werden über die Straßen gezogen. Allmählich kamen immer mehr Autos an, in größeren Kolonnen.
Sonntag, 24.11.1918
Ein Militärzug nach dem anderen fährt vorbei.
Sonntag, 8.12.1918
Immer mehr Truppen kommen an. Osnabrück wird zu einem Heerlager. Das 8te Korps hat fortan seinen Sitz in Osnabrück. Unterdessen kam es in Berlin verschiedentlich zu Unruhen. Die traurige Lage unseres Vaterlandes, das Wühlen und Hetzen der Spartakusgruppe (Liebknecht) scheint durch blutigen Bürgerkrieg den Höhepunkt zu erreichen. Wahrlich ein trauriges Weihnachten 1918.
Auch unser Seminar wird mit Truppen belegt (Telegraphenabteilung des 8. Armeek.). Der Schulhof ist angefüllt mit Autos, Lastwagen und so weiter. Wirklich ein komischer Unterricht! Während wir bei Granemann das Nibelungenlied besprechen, tönt von draußen das Brummen eines Autos herein. Auf dem Flur hört man schwere Soldatenstiefel klappern, lustige Lieder singen. Auch die einbezogenen Klassenkameraden kehren allmählich zurück.
9.12. Montag
Immer wieder ziehen Kolonnen durch die Stadt, mit Grün und Fahnen geschmückt.
Sonnabend, 21.12.18
Einzug der 92er!
War bekannt gemacht so zwischen 1 und 2 Uhr. Ich ging schon morgens in die Stadt, um noch einige Besorgungen zu machen. Plötzlich drangen die Töne einer Militärkapelle an mein Ohr. Da kamen sie auch schon anmarschiert: 15ner Pioniere und Fußartillerie. In endlosen Kolonnen durchzogen sie die Stadt. Am Neumarkt trat oft Verkehrsstockung ein. Der Durchzug wollte garnicht enden. Endlich ging ich nach Haus, um rechtzeitig wieder da zu sein. ½ 2 war ich dann schon wieder in der Stadt. Gegen 2 Uhr rückten die Truppen heran, mit Fahnen, Blumen herzlich begrüßt.
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An dieser Stelle hat der Schüler Franz Dost zwei Zeitungsausschnitte in sein Tagebuch geklebt und damit seine eher spärlichen Einträge ergänzt. Sie stammen aus der Osnabrücker Abendpost und dem Osnabrücker Tageblatt. Und hier kommen endlich wieder die Frauen ins Spiel: Empfang der Krieger, aber Frauen seid auf der Hut!
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Osnabrücker Abendpost, 24. Dezember 1918
Ein feierlicher Empfang wurde dem am Sonnabend heimkehrenden Infanterie-Regiment Nr. 92 bereitet. Schon seit 14 Tagen wetteiferten die Einwohner in der Ausschmückung der Stadt zum Empfange der heimischen Kriegsteilnehmer. Nachdem morgens schon verschiedene Truppengattungen die Stadt passiert hatten, traten zwischen 1 und 2 Uhr die 92er, durch das Johannistor einmarschierend, mit klingendem Spiel auf dem Neumarkt ein.
Hier begrüßte Oberbürgermeister Dr. Rißmüller die rückkehrenden Soldaten im Namen der Stadt. Die offizielle Einschätzung der Lage wird in seiner Ansprache deutlich: »Vor der Macht eines dunklen, rätselhaften Geschickes mußtet ihr nun die Waffen senken. Aber rein ist der Schild der Ehre, unbesiegt kehrt ihr zurück, stolz erhobenen Hauptes und mit Stolz begrüßen wir die Heimkehrenden. (…) Furchtbare Veränderungen sind in den letzten Wochen eingetreten. Am deutschen Rheinstrom lagern die Feinde, mit entsetzlicher Härte ruht des Feindes Faust auf deutschen Landen.“
Senator Vesper, der anschließend im Namen des Arbeiter- und Soldatenrats spricht, findet deutlichere Worte: „Ihr habt die Heimat beschützt und von ihr die Verwüstungen des Krieges ferngehalten. Ihr seid nicht überwunden, wenn ihr auch schließlich einer Übermacht von Feinden weichen mußtet. Euer Heldenmut ist unvergleichlich. Aber es war unsere Pflicht, nicht weitere nutzlose Opfer von euch zu verlangen. (…) Neues ist erstanden im Vaterlande, und das Volk hat sich selbst zum Herrn seines Geschickes gemacht. Die Ungerechtigkeiten des alten Regimes sind beseitigt, und wir haben den neuen Volksstaat Deutschland aufgerichtet.“
An die weibliche Bevölkerung von Osnabrück und Umgegend richtet sich eine Veröffentlichung des Arbeiter- und Soldatenrats, in der es heißt:
Eine große sittliche Gefahr droht uns durch die aus der Front heimkehrenden Soldaten. Die von der Heeresleitung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten getroffenen Maßnahmen können in Folge der überstürzten Demobilisierung des Heeres nicht in vollem Umfang zur Ausführung gelangen.
Frauen und Mädchen! Wir wenden uns direkt und öffentlich an euch. Vor der Seuche der Geschlechtskrankheiten seid auf eurer Hut! Groß ist die Gefahr der Ansteckung. Laßt euch nicht durch eine flüchtige Stunde sinnlichen Genusses um eure Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Lebensglück bringen. Seid mäßig und enthaltsam im Genuß berauschender Getränke, meidet sie lieber ganz.
Bietet nicht jedem Fremden eure Lippen zum Kuß. Wie leicht wird durch ihn die furchtbare Syphilis auf euch übertragen. Benutzt nie mit Fremden dasselbe Eß- und Trinkgeschirr. Vor allem auch: haltet die Aborte sauber. Fallt ihr aber dennoch der Krankheit zum Opfer, so geht bei den ersten Anzeichen zum Arzt oder zur Aerztin. Sie sind gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Vertraut euch niemals einem Kurpfuscher an. Auch die Krankenkassen werde ihren Mitgliedern jegliche Hilfe gern gewähren. Die Beratungsstelle der Landesversicherungsanstalt steht versicherungspflichtigen Personen hilfsbereit mit kostenloser, streng vertraulicher Untersuchung und Beratung zur Seite.
Keine Krankheit ist unheilbar! Hilfe und Besserung wird jedem Geschlechtskranken, der den Mut hat, sich dem Arzt anzuvertrauen, gewährt. Wer, obgleich geschlechtskrank, sich weiterhin Geschlechtsverkehr hingibt, begeht ein Verbrechen am ganzen Volke. Solches Verbrechen wird nach dem Strafgesetzbuch streng bestraft.
Osnabrücker Tageblatt, 6. Dezember, 1918
Der Krieg veränderte die Geschlechterbeziehungen. Das stellen die Historiker Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich in ihrem Buch „Deutschland im Ersten Weltkrieg“ fest. Vor allem in den Kapiteln über die „Heimatfront“ oder „Industrialisierung“ präsentieren sie neue Ergebnisse der Sozialgeschichte.
Als die Züge 1914 an die Front rollten, gingen Männer und Frauen davon aus, dass es ein kurzer Krieg werden würde. Je länger er dauerte, desto mehr gingen die Geschlechter eigene Wege. Während die Soldaten ihren Triebstau in Etappenbordellen abreagieren konnten, mussten Frauen in der Industrie ihren Mann stehen und bis zum Umfallen arbeiten, um den Hunger ihrer Familien zu lindern. Viele Frauen lernten, aktive Empfängnisverhütung zu betreiben. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander veränderte sich von Grund auf. Frauen praktizierten aktive Empfängnisverhütung, Männer fanden die große Freiheit.
Diese Konsequenz war alles andere als gewünscht. Die dramatischen Verlustzahlen vor Augen, versuchte die Obrigkeit, die Frauen zu mehr Geburten zu animieren. Dieses Motiv wurde allerdings von der höchst restriktiven Urlaubsregelung konterkariert, der die Frontsoldaten unterworfen waren. Anfangs wurden nach zwölf Monaten Dienstzeit gerade einmal zwei Wochen Urlaub gewährt.
Damit sich die Frauen während ihrer Abwesenheit nicht Ersatz in der Masse der mehr als zwei Millionen Kriegsgefangenen suchten, von denen viele in der Landwirtschaft eingesetzt waren, initiierten die Behörden Kampagnen für die eheliche Treue. Zusammen mit dem lebenden Beweisen des Gegenteils wurden die Vorwürfe von Promiskuität und Sittenverfall zu einem Thema, das die Nation bewegte.
Quellen
Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Stuttgart, 2013
Tagebuch Franz Dost, 1917 bis 1919 (Privatbesitz)
Zeitungsausschnitte Osnabrücker Tageblatt, November und Dezember 1918