Mein Großvater zieht mit seinem Pferd in den Krieg

Über meinen Großvater Friedrich weiß ich so gut wie nichts. Ich habe ihn auch nicht mehr kennen gelernt. Geboren ist er 1879, gestorben 1937. Ein kurzes Leben lang in Masuren. Geheiratet hat er im Jahre 1902 die Charlotte Nymzyk. Sie wurde Mutter von dreizehn Kindern, von denen sieben die Geburt überlebten. Es gibt nur zwei Fotos von ihm und die spärlichen Lebensdaten aus dem Familienstammbuch. Sonst keine Briefe, kein Andenken. Keiner lebt mehr, der etwas über ihn erzählen könnte. Er war ein guter Mensch, sagt meine Tante Betty, die sich mit ihren 95 Jahren nicht weiter an ihren Vater erinnern kann.
Zwei Fotos sind ein bisschen wenig, um etwas über den eigenen Großvater zu schreiben.

Man muß anfangen, und man weiß natürlich, womit man anfängt, das weiß man schon, und mehr eigentlich nicht, nur der erste Satz, der ist noch zweifelhaft. Also den ersten Satz:

Mein Großvater hat nie erfahren, wer sein Vater war.

Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Aber deine Großmutter wusste das doch wohl? Und da sage ich: Das weiß ich doch nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.

In Masuren gab es in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Erntezeit viele Fremdarbeiter, Männer und Frauen.

Nun gut, das ist der erste Satz. Nun müßte man aber dazusetzen, daß Männer und Frauen als Schnitter und Binderin nur gemeinsam auf dem Gesindemarkt angemietet wurden. Meistens arbeiteten sie nur einen Sommer zusammen und schliefen gemeinsam in Heuschobern mit anderen Schnitterpaaren, die alle nicht miteinander verheiratet waren. Die Erntearbeit machte müde, aber auch nicht so müde. Die Spätfolgen nächtlicher Tätigkeiten machten sich erst nach neun Monaten bemerkbar. Und solch eine Folge ist auch mein Großvater gewesen.

sta-kopieMein Großvater ist, wie gesagt, 1879 am 30. März nachmittags um fünf in Bartkenhof geboren, Gemeinde Bartken, Kreis Oletzko. Unehelich geboren, soviel steht jedenfalls in der Geburtsurkunde. Vielleicht war sein Vater der Knecht Friedrich Kibat, der auf dem Standesamt in Gonsken drei Kreuze machte, als er die Geburt eines Sohnes der unverheirateten Magd Louise B. anzeigte. Vielleicht war es aber auch der Instmann Johann Scheyda, bei dem diese Magd wohnte.

Der kleine Friedrich wächst also in Bartkenhof auf. Das Dorf hat um 1900 nur 65 Einwohner. Das ist die Grundlage für eine überschaubare Erlebniswelt. Ein paar Hühner und Gänse, eine Kuh, ein Pferd – damit kann er sich beschäftigen. Eine Schule ist weit entfernt. Aber unmerklich, aber auch rasant verändert sich das Leben in Masuren.

Um 1900 hat Ostpreußen etwa zwei Millionen Einwohner, rund drei Viertel der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft. Durch moderne Agrar-Techniken gibt es immer reichere Ernten, Ostpreußen wird die „Kornkammer Deutschlands“. Das ursprüngliche Landschaftsbild verändert sich. Um die Ernteerträge schnell ins Reich zu bringen, werden Chausseen quer durch Ostpreußen angelegt: von Johannisburg über Arys nach Lötzen, von Lötzen nach Angerburg und nach Rastenburg.

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Gleichzeitig werden neue Bahnlinien gebaut, teilweise nur eingleisig, aber das Eisenbahnnetz wird nahezu in alle Dörfer verlegt. Wer jetzt mehr Geld verdienen will als ein Knecht beim Bauern, geht zur Bahn. Arbeit gibt es dort genug. Allerdings ist es Schwerstarbeit beim Gleisbau mit der Aussicht, später, wenn alles fertig ist, fest angestellt zu werden auf einem Bahnhof oder als Lokführer.

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Und nun kommt mein Großvater wieder ins Spiel. Inzwischen ist er ein junger Mann, immer noch wohnt er bei seiner Mutter. Er meldet sich bei der Eisenbahnverwaltung und bittet um Anstellung. Sein Pferd wird auch benötigt, um die schweren Bahnschwellen und Gleisteile zu transportieren. Von nun an reitet er jeden Morgen zur Baustelle und bringt mit seinem Pferd die Eisenbahn in Masuren auf Trab.

32285Schließlich wird er fest angestellt. In Willkassen, einem Dorf am Löwentinsee bei Lötzen, lernt er seine Frau kennen. Sie heiraten und die ersten Kinder kündigen sich an. Die kleine Familie wächst. Von jetzt an wird er in verschiedenen Dörfern seinen Dienst verrichten und mit einer sicheren Stellung im Bahnhofsgebäude wohnen. Auf dem Bahnsteig sorgt er für Ordnung, Sicherheit und Pünktlichkeit, stellt die Weichen um und hat noch nebenher Zeit für etwas Landwirtschaft und für seine Kinder. Mit denen spielt er Eisenbahn und verkauft ihnen Fahrkarten – die Eisenbahn als Spielzimmer.

Man zieht 1905 von Willkassen nach Birkenwalde, von dort nach Hanffen und landet schließlich in Baranowen, einer Bahnstation an der Strecke Sensburg – Nikolaiken, die 1911 eröffnet wurde. Hier lässt sich die Familie endgültig nieder. Nebenher betreibt Friedrich etwas Landwirtschaft. Ein paar Hühner und Gänse, eine Kuh und sein Pferdchen. Die Kinder, inzwischen fünf an der Zahl, wollen gefüttert werden. Dann gibt es Krieg. Mitten in der Ernte auf den Getreidefeldern.

Während im Westen des Deutschen Reichs die Menschen den nach Frankreich fahrenden Soldaten auf den Bahnhöfen zujubeln, dringen in Masuren russische Truppen ein, es kommt zu ersten Gefechten auf deutschem Boden. Noch handelt es sich nur um Nadelstiche, doch das reicht, die Bevölkerung in Panik zu versetzen.

Nach der siegreichen Schlacht bei Tannenberg im September kommt der Winter. Die Kämpfe gehen weiter. Die deutschen Gefechtsverluste an der Ostfront sind ab November bis zum Jahresende 1914 gewaltig. Das Reichsarchiv gibt rund 100 000 Mann an, darunter 36 000 Gefallene.

Mein Großvater ist längst Soldat. Mit seinem treuen Pferd landet er bei der Feldartillerie, die auch als fahrende Artillerie bezeichnet wird. Ich stelle mir vor, wie er auf seinem Pferd sitzt und die Geschütze von den braven Ackerpferdchen auf langen Märschen von Stellung zu Stellung gezogen werden. Vielleicht ist er aber auch für den sechsspännigen Beobachtungswagen eingeteilt, mit dem Geräte zum Aufbau einer Beobachtungsstelle transportiert werden.

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Im Februar 1915, als in Masuren bei frostiger Kälte in Schnee und Eis die sogenannte Winterschlacht geschlagen wird, bei Lyck und Lötzen die russischen Truppen vernichtet und 50 000 russische Soldaten gefangen genommen werden, wird Friedrich erneut Vater. Am 15. Februar wird sein Sohn Siegfried geboren, genau an dem Tag, an dem die Stadt Tilsit zurückerobert wird. Friedrich ist an der Front und verpasst die Geburt seines Jüngsten.

Vielleicht war aber eine Hebamme im Hause; denn schnell konnte man sie über das Streckentelefon anrufen oder anmorsen, so dass sie von Nikolaiken mit der kleinen Dampflok angebraust kam. Auf jeden Fall war bestimmt eine Nachbarsfrau dabei, um die bereits vorhandenen fünf Geschwister zu beaufsichtigen und zu beruhigen, wenn ihre Mutter allzu laut mit den Wehen kämpfte.

Derweil kämpft Friedrich am 15. Februar gegen russische Eindringlinge. Die deutschen Truppen erobern auch wieder Lyck zurück. Auch der Kaiser ist vor Ort.

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Er beobachtet die Kampfhandlungen. Der Heeresbericht vermeldet: „Seine Majestät der Kaiser war am 13. Februar in Lötzen eingetroffen, um zunächst jene Stellungen zu besichtigen, die seine Truppen in drei Monate langen Kämpfen erfolgreich verteidigt hatten. Am Nachmittag traf Seine Majestät dann auf der Höhe westlich des Dorfes Grabnik ein, an dessen Ostausgang die deutschen Geschütze donnerten. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte der Allerhöchste Kriegsherr die Kämpfe bis zur einbrechenden Dunkelheit. Leichter Regen rieselte vom Himmel. Die strenge Kälte der letzten Tage hatte sich in Tauwetter verwandelt, als der Feuerkampf allmählich einschlief.“

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Ein kriegsentscheidender Sieg gelingt den deutschen Truppen in der Winterschlacht in Masuren jedoch nicht. Schneestürme und der anhaltende Regen erschweren das weitere Vorrücken und vor allem den Transport der schweren Geschütze. Die Pferde bleiben im Morast stecken. Mein Großvater kämpft jetzt mehr um sein Pferd als für sein Vaterland. Die Winterschlacht in Masuren wird schließlich im Deutschen Reich als ein bedeutender Sieg überschwänglich gefeiert, ein wertloser Sieg mit tausenden Opfern.

Der Krieg geht weiter und weitet sich über ganz Europa aus. Mein Großvater hält brav zu seinem Pferdchen. Ab und zu bekommt er Urlaub und besucht seine Familie in Baranowen. Wenn er wieder an die Front muss, schickt er seiner Frau manchmal eine Postkarte, wie das fast alle Soldaten gemacht haben. Erhalten ist nur eine einzige Grußkarte mit einem Foto, auf dem er und seine Kameraden neben ihren Pferden zu sehen sind.

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Meine Liebe Frau!
Habe gestern deinen lieben Brief erhalten, meinen besten Dank für dein Schreiben, auch schönen Gruß an mein Liebling Siegfried und an die anderen lieblinge. Ich werde sehn ob Ihr mich finden werdet und noch ein bekannter Kamrad aus der Nähe. Ich werde noch andere Karten zuschicken zum andenken aufbewahren könnt mich alle Tage im Felde sehen auf ein frohes Wiedersehn bitte um Antwort

Der Bitte auf Antwort hat meine Großmutter bestimmt entsprochen. Das geschriebene Wort war damals aber in Masuren nicht jedermanns Sache. Vielleicht hat sie deshalb einen Fotografen bestellt, der die Familie für den Krieger an der Front fotografiert hat. Ein Bild sagt ja bekanntlich mehr als tausend Worte.

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Luise B. mit ihren Kindern Wilhelm, Luise, Marie, Erna, Charlotte und Siegfried (1917)

Wilhelm, Luise, Marie, Erna, Charlotte und Siegfried werden fein herausgeputzt und ordentlich aufgestellt. Meine Großmutter schaut für einen stillen Moment in die Kamera des Fotografen, dessen Schatten man noch vorne auf dem Bild sehen kann. Sie ist jetzt 34 Jahre alt, Mutter von fünf Kindern und drei weiteren Kindern, die kurz nach der Geburt gestorben sind.

Als der Krieg zu Ende geht, kehrt der Vater zurück nach Hause. Endlich wieder Familie. Es werden noch vier weitere Kinder geboren, zwei davon überleben. Friedrich wechselt seine Uniform. Aus dem Gefreiten bei der Feldartillerie wird ein Bahnhofsvorsteher in dem kleinen Dorf Baranowen. Und er schafft es sogar, sich 1925 ein eigenes Haus zu bauen. In dieser Zeit ist wohl das zweite erhaltene Foto meines Großvaters aufgenommen, dieses Mal sogar in einem Fotoatelier.

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Die drei jüngsten Nachkriegskinder Berta, Erich und Ernst sind mitgekommen, der Fotograf hat ihnen allerlei Spielzeug in die Hand gedrückt, damit sie einen Moment für die Ewigkeit stillhalten.

Das Glück dieser Familie dauert allerdings nur ein paar Jahre. Wilhelm, der Älteste, wird 1926 bei einem Geldtransport überfallen und erschossen. Ernst, der jüngste Sohn, wird 1932 ausgerechnet von einem Pferd zu Tode getrampelt, als er im vollen Galopp ohne Sattel über ein Stoppelfeld jagt und stürzt. Mein Großvater stirbt 1937 schwer krank. Er wird 58 Jahre alt, kein biblisches Alter. Meine Großmutter ist jetzt allein in ihrem Haus, die Söhne an der Front, die Töchter müssen für ihre eigenen Familien sorgen. Sie wird zum Ende des Krieges schwermütig und stirbt Ende 1944 in einem Krankenhaus in Allenstein.

0000-aaaa-ost-rueckfktv6ukAlle Kinder überleben den Zweiten Weltkrieg und können rechtzeitig mit ihren Familien aus Ostpreußen fliehen oder kommen bald aus der Gefangenschaft zurück. Alle finden sich in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide wieder. Alle warten und hoffen ein paar Jahre noch auf eine Rückfahrt in die Heimat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nachtrag
Pferde waren im Ersten Weltkrieg ein kostbares Gut. Sie zogen schwere Geschütze, aber auch Kranken- und Küchenwagen durch die tief verschlammten Felder Europas. Ihre Reiter überbrachten Pläne für bevorstehende Kämpfe und Nachrichten über den Ausgang geschlagener Schlachten. Als Zugtiere für Kanonen oder Versorgungswagen wurden Pferde im wahrsten Sinne zuschanden geritten. Oder man trieb sie über vergaste Schlachtfelder, um zu prüfen, ob das Gift sich verzogen hatte. Rund eine Million Pferde sollen zwischen 1914 und 1918 allein auf deutscher Seite ums Leben gekommen sein.

Der sterbende Gaul

Vor Tag im feuchten Graben
Liegt ein verendendes Pferd.
Die Kanoniere haben
Es von der Straße gezerrt . . .

Die Batterie trabt vorüber,
Die Kanonen, Stück für Stück –
Den sterbenden Kameraden
Lassen die Gäule zurück.

Der wiehert noch einmal so traurig
Und hebt den Kopf so bang.
Der Lärm der Räder und Hufe
Den Abschiedsgruß verschlang . . .

Sehnsüchtig bläht er die Nüstern,
Dann sinkt er zurück und ist tot.
In den verglasten Augen
Bricht sich das Morgenrot.
Joseph Roth, Illustrierte Kriegszeitung vom 10.1.1917

Quellen
Johannes Bobrowski, Levins Mühle

Ulrich Jakubzik, Sensburg, Stadt in Masuren, 1988

Ulla Lachauer, Ostpreußische Lebensläufe, 1998

Hermann Pölking, Ostpreußen, Biographie einer Provinz, Berlin, 2912

http://www.ulischubert.de/geografie/gem1900/gem1900.htm?ostpreussen/oletzko.htm

http://www.europeana1914-1918.eu/de/contributions/14853

http://gumbinnen-szittkehmen.blogspot.de/2012/10/bahnhofe.html

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