Jedes Jahr wird seit 1977 von der Gesellschaft Deutscher Sprache das „Wort des Jahres“ gewählt. Zur Auswahl stehen „Wörter, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt haben.“ Wenn es vor 100 Jahren schon diesen Wettbewerb gegeben hätte, wäre der Begriff „hamstern“ erster Anwärter gewesen, das Wort des Jahres 1917 zu werden. Aber wer hat den Begriff „hamstern“ erfunden oder als erster benutzt? Das ist ähnlich unklar wie bei den heutigen Wörtern des Jahres.
Das Grimmsche Wörterbuch mit dem Buchstaben H, das 1877 veröffentlicht wurde, enthält lediglich den Begriff „hamsterschrank“.
HAMSTERSCHRANK, m. nennt man in gegenden Mitteldeutschlands einen groszen schrank, der ähnlich wie der bau des hamsters in viele fächer eingetheilt ist und eine menge vorräte faszt.
Nun aber 1917. Seit Beginn des Krieges stiegen die Preise und haben das alltägliche Leben verteuert. Die Belastungen des Krieges führten zu einer allgemeinen Verknappung. Der sogenannte Schweinemord von 1915 hatte die Lage zusätzlich verschlimmert. http://de.wikipedia.org/wiki/Schweinemord
Getreideprodukte und Fleisch- und Wurstwaren wurden rationiert, da musste die Kartoffel als Hauptnahrungsmittel her. Aber ein verregneter Herbst verursachte eine Kartoffelfäule, die die Ernte drastisch reduzierte. Jetzt wurde die Steckrübe das wichtigste Nahrungsmittel. Man ernährte sich von Steckrübensuppe, Steckrübenauflauf, Steckrübenkoteletts, Steckrübenpudding, Steckrübenmarmelade und Steckrübenbrot. Das Wort vom Steckrübenwinter war geboren.
Vor allem in den Städten wurden die Nahrungsmittel knapp. Die Schlangen vor den Läden nannte man im Volksmund „Polonaise“. Stundenlang mussten vor allem ältere Frauen und Männer in eisiger Kälte warten – ohne angemessene Kleidung. Und für die Wohnung war Kohle zum Heizen kaum noch zu bekommen. http://centenaire.org/de/der-heimatfront-nahrungspolitik-und-hungersnot-von-emmanuelle-cronier-und-silke-fehlemann
Wer konnte, versuchte an die Erzeuger selbst heranzukommen – die Bauern auf dem Lande. Doch nicht jeder hatte entsprechend wertvolle Tauschware zur Hand. Nach heutigen Schätzungen starben in Deutschland über 800.000 Menschen an den Folgen von Unterernährung – vor allem Frauen, Kinder und Alte. http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=257&url_tabelle=tab_medien
Hamstern scheint vor allem im Rheinland lebensnotwendig gewesen zu sein. In den dichtbevölkerten Industriebezirken war die Not wohl am größten. Am Wochenende strömten die Menschen scharenweise in die ländlichen Regionen Westfalens, um von den Bauern Kartoffeln, Speck und Schinken zu bekommen.
Die Behörden standen dem Ganzen zunächst hilflos gegenüber. Auf den Bahnhöfen in Osnabrück, Münster und anderen größeren Städten begann man im Winter 1916/17 mit engmaschigen Kontrollen durch die Polizei. Plakate in der Stadt sollten die Leute vom Hamstern abhalten. Aber keine noch so eindringliche Warnung konnte das verhindern. Die hungernde Stadtbevölkerung wusste, dass auf dem Lande genug Nahrungsmittel zu haben waren. Weder durch Strafen noch durch eine Beschlagnahme der Waren ließ man sich vom Hamstern abhalten. Die Not war zu groß. Schon längst galt überall das Motto: „Es gibt nur noch Idioten und Verbrecher, Idioten sind die, welche nicht hamstern, und Verbrecher alle übrigen!“ http://www.muenster.de/stadt/kriegschronik1914/1917_versorgung_mangel.html
Ein Idiot wollte auch nicht Franz Dost sein, ein junger Mann aus Osnabrück, dessen Tagebuchaufzeichnungen von 1917 bis 1918 überliefert sind. Hauptsächlich beschreibt der angehende Volksschullehrer seine Ausflüge in Biergärten oder zu Konzerten, wo er dann auch seine Angebetete trifft.
In diesem Buche sollen (wichtige) Erlebnisse meiner Jugendzeit niedergeschrieben werden. Als ich damit begann, war ich 16 ½ Jahr alt und besuchte die II. Klasse der Präparandenanstalt in Osnabrück.
So beginnt sein Tagebuch. Für Januar 1917 beschreibt er eine Hamstertour aufs Land mit seinem Freund Biermann – ausgerechnet an Kaisers Geburtstag. Sie fahren mit einer Bimmelbahn, die ja bekanntlich an jeder Milchkanne hält, auf die Dörfer. Löhne ist das Ziel und von dort zu Fuß zu einem Müller, um Mehl zu erhamstern.
26. Januar Sonnabend
In der Schule Kaisers Geburtstagsfeier.
Von der Schule aus mit Karl Biermann zum Hauptbahnhof gegangen, um eine Hamsterfahrt nach Löhne zu unternehmen. Von Löhne zu Fuß nach der Mühle. In der Zwischenzeit allerlei eingekauft; Tabak, Suppenwürfel…
Dann in einer Wirtschaft Eier mit Brötchen nebst Butter gegessen. Inzwischen wurde der Korb mit 50 Pfund (30, 20) Mehl gefüllt.
Gegen Abend kam die Wallücker Kleinbahn. Wir stiegen ein. Wagen war dicht besetzt mit Hamsterern. Das Gespräch drehte sich natürlich um den Gendarmen. War er am Bahnhof oder nicht?
Endlich war Löhne erreicht. Der Zug hielt und vor der geöffneten Wagentür drängten sich schreiend einige Jungen. Jeder bot mit lauter Stimme seinen Wagen an. Auf solche Weise erreichten wir den Bahnhof Löhne. Aber o Schreck! Der Gendarm stand am Eingang des Gebäudes. Wir hatten keine Zeit zu verlieren und dachten auch: Frisch gewagt ist halb gewonnen. Karl löste Karten und ungehindert gelangten wir auf den Bahnsteig. Kaum waren wir eingestiegen, da fuhr der Zug auch schon ab. In Osnabrück niemand an der Bahn; daher mit großer Schwierigkeit nach Hause. Bei der Schillerstraße-Unterführung kamen uns singend Schleuther, Never und Klein entgegen vom Zapfenstreich.
Die Wallücker Kleinbahn, von der hier die Rede ist, fuhr höchstens 25 km/h und kam sehr gemütlich und ungefährlich daher. Die Bahnhöfe und Haltestellen lagen meistens in der Nähe von Gaststätten, wo dann auch Franz Dost Eier mit Brötchen zu sich nehmen konnte. http://de.wikipedia.org/wiki/Wall%C3%BCcker_Willem
So wie Franz Dost ging es vielen Städtern. Man hatte seine besonderen Hamstererlebnisse. Vielleicht nicht so harmlos wie oben auf der Postkarte. Einschränkungen, Paragrafen, Kontrollen, Gesetze, Verordnungen überschwemmten die deutsche Bevölkerung. Ob es um das Verhalten bei Fliegeralarm ging oder um das Hamsterverbot – die meisten Menschen scherten sich nicht darum. Man nahm es mit Humor, wenn man den noch hatte.
Ein schier absurde Verordnung wurde 1915 in Charlottenburg vom Magistrat erlassen. Da wollte man doch tatsächlich das Kuchenbacken verbieten. Nicht auf Dauer, sondern nur für den Zeitraum vom 26. März bis zum 12. April. Man kann sich denken, warum. Ostern lag 1915 mitten in diesem Zeitraum – am 4. April.
Zurück zum Hamstern. Welche anderen Wörter außer „hamstern“ hätten es denn auf die Liste der Wörter des Jahres geschafft? Vielleicht Steckrübenwinter oder Polonaise? Lusitania, Revolution, Zimmermann-Depesche? Oder Gaswerfer, Verbrannte Erde und Siegfriedstellung? Oder einfach nur Dicke Bertha? Aber nein, die ballerte ja schon seit 1914.
Noch einmal Wort des Jahres
Das Wort des Jahres 2014 ist ja „LICHTGRENZE“ geworden. Wer hat es aber erfunden? Goethe vielleicht? Mehr unter
http://www.welt.de/kultur/article135299788/Als-Goethe-die-Lichtgraenze-erfand.html
http://gfds.de/wort-des-jahres-2014/
2015 heißt das Wort des Jahres FLÜCHTLINGE. Und 2016? Postfaktisch. Was ist das denn?
„Postfaktisch“ soll eine Ära erklären, in der Fakten keine Rolle mehr spielen für viele Menschen – etwa bei Themen wie der Flüchtlingskrise oder dem Klimawandel. Themen, in denen sich Menschen in ihrer Weltanschauung angegriffen sehen.