Es ist für uns heute immer noch unvorstellbar, wie vor hundert Jahren Millionen junger Männer von ihren Generälen in den Tod getrieben wurden. Vorstellen mag man sich auch gar nicht, was in ihnen vorging – kurz vor dem Sprung aus dem Schützengraben, der fast immer einen Sprung in den Tod bedeutete – oder wie es damals noch hieß – bevor sie den Heldentod starben. Aber wer war von diesen Millionen Toten ein Held, wer nicht?
Als Helden jedenfalls wurden bald die gefeiert, die in Briefen, Tagebüchern oder Gedichten ihre Kriegsbegeisterung bezeugten. Bereits 1916 erschien die Sammlung „Kriegsbriefe deutscher Studenten“ – allesamt Briefe von gefallenen Soldaten. Mit ihrer Begeisterung und Opferbereitschaft wurden sie bis in die Hitlerzeit und bis zum nächsten Weltkrieg als Beispiel für deutsches Heldentum gefeiert. Gefeiert als Held – aber war man deswegen auch gleich ein Held? Und was ist überhaupt ein Held?
In vielen Familien findet man heute immer noch im Keller oder auf dem Dachboden, in Schachteln oder verstaubten Koffern Briefe, Fotos oder andere Dokumente aus dem ersten Weltkrieg. Neu ist inzwischen, dass man oft gar nicht mehr genau weiß, wer die Postkarte geschrieben hat oder wer denn dieser Soldat auf dem Foto ist. Zu lange lagen diese Dokumente unberührt irgendwo herum. Jetzt nach hundert Jahren gibt es kaum noch jemanden, der die Schrift der Briefe entziffern kann oder der weiß, ob das der eigene Urgroßvater auf dem Foto ist oder sein Bruder. Oft sind es die einzigen Dokumente dieser Verwandten. So jedenfalls geht es mit einem Brief, den ein gewisser Karl im Jahre 1916 aus der Champagne an seine Familie geschrieben hat.
Champagne, den 25. 2. 1916
(abends 9 Uhr)
Meine lieben Eltern!
Heute war ein heißer Tag für die arme Truppe, die vorne lagen. Sonntag stürmten wir vor! Es ist beteiligt unser stolzes Regiment „Königin“ und das Grenadier-Regiment 89.
Ich bin mit meiner Kompagnie in vorderster Linie. Ein stolzes und herrliches Gefühl ist es für mich, an der Spitze der Kompagnie vorstürmen zu können. Ich will mich in keiner Weise schonen, meinen braven Leuten will ich ein leuchtendes Beispiel sein! Liebe Eltern, sollte ich an der Spitze meiner Kompagnie den Heldentod sterben, dann sei dies ein letzter Gruß! Seid stolz, dass auch Ihr einen Sohn geopfert! Die langen, schweren Kriegsmonate haben mich innerlich gefestigt. Ich fürchte den Tod nicht. Ich will „tapfer kämpfen und lachend sterben“.
Und die Worte, die Annemarie mir neulich schrieb, waren mir aus dem Herzen gesprochen: Es gibt für uns ein Wiedersehen in einer besseren Welt! Tragt Euren Kummer, geliebte Eltern, wie es die Größe der Zeit verlangt und behaltet Euren Karl in warmem Andenken! Mein Leichnam soll nicht nach Deutschland überführt werden, ich will dort ruhen, wo meine lieben Füsiliere ruhen, mit denen ich kämpfend gefallen bin für Deutschlands Größe!
Es küsst Euch
Euer Karl
Die Heereszeitung „Der Champagne-Kamerad“ schreibt über diese Schlacht, von der Karl berichtet, in der Ausgabe Nr. 12: So ist den Franzosen in sechs Tagen annaehernd 250 Quadratkilometer, also etwa sechsmal so viel Gelände entrissen worden, als sie bei der September-Offensive … mit einem Verlust von 150 000 Mann erreichen konnten. Die Berichte unserer Obersten Heeresleitung heben hervor, dass unsere Verluste bei Verdun durchaus erträglich geblieben sind. Erträglich? Was soll man darunter verstehen? Die ganze Wahrheit über diese Schlacht bei Verdun findet man unter http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_um_Verdun
Ganze Dörfer wurden 1916 in der Champagne für immer zerstört.
Karl, so viel weiß man heute, starb am nächsten Tag – wie hunderttausende anderer deutscher und französischer Soldaten – in der Schlacht bei Verdun durch einen Kopfschuss. Er wurde mit seinen Kameraden aus dem Flensburger Grenadier-Regiment auf einem sogenannten Heldenfriedhof beerdigt.
Wir wissen nicht, was Karl zu solch „heldenhaften“ Worten und zu solchem Handeln angetrieben hat. Es wäre aber ungerecht, ihm vorzuwerfen, dass er verblendet gewesen sei. Wir wissen auch nicht, was ihn hätte zurückhalten können.
Es gibt aber auch andere Briefe – Briefe von Soldaten, die ihr Schicksal ähnlich wie Karl ahnten, aber sich gegenüber ihren Angehörigen nachdenklich und zweifelnd zeigten und sich fragten, was für einen Sinn das alles haben könnte. Da gibt es zufällig einen anderen Karl, Karl Thylmann, der fast zur selben Zeit wie der todesmutige Karl im Schützengraben bei Verdun lag. Karl Thylmann war ein junger Künstler, der in kurzer Zeit Holzschnitte von ergreifender Anschaulichkeit geschaffen hat. Von ihm gibt es Briefe an seine Frau und Gedichte, die er im Schützengraben geschrieben hat, Briefe, in denen er um Erkenntnis ringt und sich fragt, wie sein Leben vor Gott bestehen könnte. Das Wort „Held“ kommt darin nicht vor. Im Juli und August 1916 schreibt er an seine Frau die letzten Briefe.
Im Feld, 23. Juli
Heut ist unser Hochzeitstag. Ich habe ihn schon mit einem schweren Marsch gefeiert. Alles geht, merke ich. Ich sitze hier auf dem Gemäuer eines idyllischen Gärtchens, zwischen Mohn, Birnbäumen und meterhohem Unkraut. Vorhin habe ich nach 14 Tagen die ersten Zivilisten gesehen. Wie eine Wohltat. – Eine alte Frau mit weißem Häubchen und zwei schwarzhaarige französische Mädchen.
Im Feld, 25. Juli
Heut sind drei Briefe angekommen!! Ich bin mit den Briefen hierher auf ein stilles abgelegenes Plätzchen bei einem kleinen, überwucherten Steinbruch gegangen. Mein Verlangen wächst natürlich ins übermenschliche. – Heut waren wir zur Waldarbeit kommandiert. Ich habe mich die größte Zeit über ins Dickicht verloren und Mattheus Evangelium gelesen, oder in die Kronen und in den tiefblauen Himmel geschaut.
Im Feld, 4. August.
Eben kommt der Befehl, daß wir uns heute Abend marschbereit halten sollen. Ich bin so ruhig, trotz der Spannung. Gnade mir Gott! Aber ich sehe dich wieder, Dich und Andreas.
Montmédy, Theaterlazarett, 5. August
Wir mußten gestern vormittag plötzlich vorgehen in einer Schlucht, und die allererste Granate, die bei uns einschlug, traf mich. Bei der Explosion wurde ich umgerissen und dachte erst, es wäre ein Stein gegen mich geflogen.
Karl Thylmann wird verwundet nach Deutschland transportiert. Am Morgen des 25. August, nach tagelangen Visionen, starb Karl Thylmann – wie seine Frau schreibt – in vollkommener Demut und Gottseligkeit. Sie hat dafür gesorgt, dass seine Briefe und vor allem seine ergreifenden Holzschnitte der Nachwelt überliefert wurden.
War Karl ein Held? Der eine Karl oder der andere? Beide wurden im Massengrab von Verdun sinnlos getötet. Held oder kein Held – im Laufe der letzten hundert Jahre gab es darauf je nach „Lage der Nation“ wechselnde Antworten. Und heute wissen wir immer noch nicht genau, was ein Held ist. Heute lehnen wir zwar jegliche Form von Hurrapatriotismus ab. Aber wissen wir genau, wie wir uns damals in solchen Situationen verhalten hätten? Vielleicht wären wir auch Soldaten geworden, „die sich in München und Manchester, Linz oder Lyon freiwillig meldeten, die den Kopf voller Predigten, Reden und öffentlicher Heldenfeiern hatten, die sie aufforderten, dem Ruf des Vaterlandes zu folgen und im heiligen Kampf auf dem Felde der Ehre Tod oder Heldentum zu finden, Mann gegen Mann, Säbel gegen Säbel, Mut gegen Mut.“ (Philip Blom, Die zerrissenen Jahre, 1918- 1938)
Unsere Aufgabe heute bleibt, es zu verhindern, dass Menschen dazu gezwungen werden, in gewaltsamen Auseinandersetzungen welcher Art auch immer den fragwürdigen Helden zu spielen. Wenn uns das gelänge, wäre das vielleicht eine kleine Heldentat.
Links zu Karl Thylmann und seinem Bruder Victor
http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Thylmann
http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=704
http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=706
Und dann noch…
Für alle, die zu Hause noch schriftliche Dokumente von 1914 oder später haben und diese nicht entziffern können, sei die Sütterlinstube in Hamburg-Langenhorn empfohlen. Dieser Verein hat sich seit 1996 zur Aufgabe gemacht, Dokumente zu transkribieren. Ein Blick auf die Homepage lohnt sich. http://www.suetterlinstube-hamburg.de/