Nicht nur in Deutschland wurde in 2014 flächendeckend an den Ersten Weltkrieg erinnert. In Belgien, Frankreich und England gibt es genauso wie bei uns zahlreiche Ausstellungen, Fernsehdokumentationen und Publikationen zu diesem Jahrhundertereignis. Die Tagebücher von Kriegsteilnehmern werden veröffentlicht und das Bildmaterial dazu ist im Internet millionenfach abrufbar. Interessant und wahrscheinlich einzigartig ist das Buch When the Lamps Went Out, das die englische Zeitung The Guardian herausgebracht hat.
Der Guardian hat in einer Anthologie Zeitungsartikel von 1914 bis 1918 zusammengestellt, um zu zeigen, wie der Pulsschlag der Zeit sich damals Tag für Tag veränderte. Dadurch ist ein einzigartiges Zeitdokument entstanden. Wir erfahren, wie damals mit aufgeregter Hand vier Jahre lang das aktuelle Kriegsgeschehen wahrgenommen und veröffentlicht wurde – ohne zeitliche Distanz und ohne „Besinnung“. In Deutschland gibt es bisher nicht einmal ansatzweise ein ähnliches Buch. Wie kommt das?
Sicher – es gibt genügend Archive. Zeitungsarchive oder Stadtarchive, wo man sich einlesen könnte. Aber das ist ein mühseliges Unterfangen, das eher Wissenschaftlern vorbehalten bleibt. Es gibt in Deutschland mehrere Zeitungsmuseen, die viele Zeitungs-Originale auf Lager haben. Das Internationale Zeitungsmuseum (IZM) in Aachen hat zwar eine aktuelle Ausstellung dazu: „Der erste Weltkrieg – Ausbruch und Auftakt“. Sie zeigt zahlreiche zeitgenössische Zeitungen, Fotos und Berichte über den Beginn und den Kriegsverlauf in den ersten Wochen. http://izm.de/event/der-erste-weltkrieg-ausbruch-und-auftakt-2/ Aber ein Überblick oder ein Blick auf eine einzige Zeitung der damaligen Zeit fehlt. Es geht wie so oft im Augenblick nur um die ersten Wochen im August 1914.
Im Saarbrücker Zeitungsmuseum in Wadgassen gibt es zurzeit die Ausstellung „Euphorie und Untergang – Im Trommelfeuer der Schlagzeilen: Der Erste Weltkrieg“. Aber auch hier geht es wieder nur um die ersten Kriegstage, wie das Museum es selber formuliert: „Anhand zahlreicher Originalzeugnisse – Zeitungen, Extrablätter etc. – werden vor allem die letzten Friedens- und die ersten Kriegstage im Sommer 1914 präzise dokumentiert. Wie hat die Presse über den Kriegsbeginn berichtet? Welche Schlagzeilen verwendeten die Zeitungen? Zeugt die Berichterstattung von Kriegsbegeisterung oder eher von fatalistischer Resignation?“ Warum gibt es in Deutschland noch kein Buch, das diese interessanten Fragen nicht nur über die ersten Tage des Krieges, sondern über den gesamten Kriegsverlauf dokumentiert? Die Zeitung als Spiegel der Stimmung im Lande – das könnte doch die umfangreichen Untersuchungen von Christopher Clark, Herfried Münkler und anderen Autoren ergänzen. Hätte nicht irgendein Journalist oder Historiker mit seinen Assistenten und Studenten so etwas längst zustande bringen können? Sicher es gibt hier und da vereinzelte Lokalzeitungen, wie den Mindener Anzeiger oder die Bergische Landeszeitung, die in kleinen Ausschnitten ganze Titelseiten einscannen und online stellen. Aber es gibt keinen wie auch immer zusammengestellten Überblick. http://www.mindenertageblatt.de/blog_mt_intern/?p=10596 http://www.rundschau-online.de/rhein-berg/erster-weltkrieg-im-spiegel-als-die-stadt-vor-erregung-bebte,16064474,28000366.html Liegt es daran, dass es die großen deutschen Zeitungen der damaligen Zeit gar nicht mehr gibt – die Frankfurter Zeitung oder das Berliner Tageblatt?
Das Berliner Tageblatt erschien erstmals am 1. Januar 1872. Es war zunächst ein Anzeigenblatt für die Geschäftswelt, wurde aber bald eine eigenständige Zeitung. Von 1906 bis 1933 war Theodor Wolff Chefredakteur. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Berliner Tageblatt zum einflussreichsten Hauptstadtblatt. Nach 1933 wurde die Zeitung gleichgeschaltet und erschien noch bis zum 31. Januar 1939. Der Frankfurter Zeitung, einem ebenfalls liberalen und angesehenen Blatt, erging es ebenso. Eine Neugründung nach 1945 war zwar geplant, scheiterte aber an den Besatzungsmächten, die gar keine Zeitungsgründungen duldeten. Die Frankfurter Allgemeine bemüht sich im Augenblick immerhin, einige Ausgaben der Frankfurter Zeitung von 1914 ins Netz zu stellen. http://www.faz.net/aktuell/politik/der-erste-weltkrieg/historisches-e-paper/s2.html#FAZContent
In Berlin-Tempelhof soll im ehemaligen Ullsteinhaus ein Deutsches Pressemuseum entstehen.http://www.dpmu.de/Pressemuseum/Willkommen.html Vielleicht kümmert sich dort jetzt schon jemand unbemerkt um das Berliner Tageblatt und recherchiert für uns, wie diese bedeutende deutsche Zeitung vor 100 Jahren den Krieg gesehen hat.
Ein Vorbild gibt es ja schon – das Buch, das der Guardian herausgebracht hat. Im Klappentext wird begründet, was dieses Buch so bedeutend macht:
When the Lamps Went Out presents a surprising, immediate, sometimes humbling, sometimes uplifting insight into what British society was reading about, and thinking, during the Great War. Journalism catches the moment at the moment, and these stories drawn from the Guardian archive stretch across a century as signals from a lost world. We see boy scouts patrolling the coast and liners lost at sea; upper-class charity in Chelsea and bloody battles in Champagne; Pathan fighters in Flanders and Charlie Chaplin impersonators an the Euston Road. We see suffragists in East London, Bolsheviks in Glasgow, Vesta Tilley at the New Palace Theatre – and the British army at the gates of Damascus. lt was a time when new technologies could rain shells seventy-five miles from the stratosphere into Paris, and make moving images the art form of the century. When the Lamps Went Out is a panorama of a society during a cataclysm, recorded by people who were there, through victories and defeats; the women, men and children who lived, loved, defied, perished and survived in the war that did not end all wars.
Aus dieser Anthologie sollen zum Schluss zwei kurze Abschnitte vom 4. August 1914 zeigen, wie zeitnah und hautnah die Berichte eines Reporters die Stimmungslage der Menschen von damals wiedergeben kann.
Tears in Soho One came nearest to the reality of the situation in the French quarter in Soho or in the narrow streets off Tottenham Court Road, where hundreds of the poorer Germans live. In Compton Street one could hardly get along for the groups of young Frenchmen, waiters in restaurants, in their Sunday clothes, talking things over. Friends and relations of these young fellows had left for France only a few hours before. One saw French mothers and wives with red eyes. The little French restaurants were almost deserted; perhaps people were too excited to eat. In the wider streets motors came along occasionally adorned with British and French flags entwined, the occupants singing patriotic songs and waving little flags. Here and there English people were calling for cheers for King George and for the President of the French Republic, and shrill cries of `Vive Angleterre‘ were heard.
The German Reservists Go Then I saw the German reservists going. They left with something like the circumstance, if not the pomp, of war. A special train took them from Charing Cross to Gravesend, where a steamer was chartered to sail direct to Hamburg. For nearly half an hour Charing Cross was like a scene in Germany. There were about 600 travellers, with several hundreds of friends, and suburban passengers arriving on the other platforms were brought up standing, as they sat, by the roar of `Die Wacht am Rhein‘ and the sight of this regiment of young Teutons, very excited and at times noisy, dressed in all varieties of costumes, many with the appearance of hurried dressing and many with their things packed anyhow in hat-boxes and in newspaper. The majority were probably waiters, the men one sees in a mass at great public dinners being drilled by the chief, halting at the buffet and deploying into line down the tables with the duo courses. Now very masculine, almost truculent, they charged through the crowd, carrying the platform at a rush. WHEN THE LAMPS WENT OUT, From Home Front to Battle Front: Reporting the Great War 1914-1918, edited by Nigel Fountain, London, Guardian Books, 1914, S. 39-41
Am Abend des 3. August 1914 blickte der britische Außenminister Edward Grey aus seinem Büro auf den Londoner St. James Park, in dem gerade die Laternen angezündet wurden. Angesichts des beginnenden Ersten Weltkriegs befielen den Politiker düsterste Ahnungen. Er schreibt 1925 in seinen Memoiren: A friend came to see me on one of the evenings of the last week — he thinks it was on Monday, August 3rd. We were standing at a window of my room in the Foreign Office. It was getting dusk, and the lamps were being lit in the space below on which we were looking. My friend recalls that I remarked on this with the words: “The lamps are going out all over Europe, we shall not see them lit again in our life-time.”
In England ist dieses Wort von Sir Edward Grey heute nach 100 Jahren immer noch im Gedächtnis. Es gab am 4. August 2014 eine beindruckende Aktion im ganzen Land. Zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg wurde es in London dunkel. Die Aktion sollte an dieses berühmte When the Lamps Went Out und an ein verstrichenes Ultimatum erinnern. http://www.sueddeutsche.de/politik/gedenken-an-den-ersten-weltkrieg-london-macht-das-licht-aus-1.2077370
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