Erinnern oder vergessen?

Die Briten, Franzosen und Belgier erinnern jedes Jahr am 11. November an den Waffenstillstand von 1918 und begehen landesweit Schweigeminuten. Im nationalen und sozialen Gedächtnis der Deutschen spielt der Erste Weltkrieg eher eine untergeordnete Rolle. Es sei denn, wir haben ein Erinnerungsjahr wie 1914, das zu einem vielstimmigen und reichhaltigen Medienereignis wurde.

Jetzt zwei Jahre später ist das in der Öffentlichkeit kein Thema mehr, nicht einmal am Rande. Die Bücher von Christopher Clark und anderen Weltkriegsexperten sind aus den Bestsellerlisten verschwunden und auch aus den Regalen. Aber warum soll man immer noch daran erinnern, was vor 100 Jahren war? Sollte nicht allmählich Gras darüber wachsen?

100 Jahre sind in der Erinnerungskultur eine wichtige Schwelle. Nach diesem zeitlichen Abstand verschwindet die mündliche Tradition. Es lebt niemand mehr, der dabei war. Bücher, vor allem Geschichtsbücher, sind da eher eine flüchtige Größe und nicht geeignet, um Erinnerung, auch schmerzhafte Erinnerung, lebendig werden zu lassen. Also Gras darüber wachsen lassen?

So könnte man das Gedicht von Carl Sandburg verstehen, in dem er das Gras selber zu Wort kommen lässt, das Gras, das in seiner Barmherzigkeit helfen will, die Zeit, den Schmerz und den Tod zu vergessen. Geschrieben hat er es kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs. In Deutschland wurde es erst nach 1945 in Deutschland veröffentlicht.

Pile the bodies high at Austerlitz and Waterloo.
Shovel them under and let me work –
I am the grass; I cover all.
And pile them high at Gettysburg
And pile them high at Ypres and Verdun.
Shovel them under and let me work.
Two years, ten years, and passengers ask the conductor:
What place is this?
Where are we now?
I am the grass.
Let me work.

Über alles Gras wachsen lassen – das kann man auch als einen stillen Aufschrei und eine Provokation verstehen, es eben nicht so zu tun wie das Gras. Wir wissen zwar, dass auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs tatsächlich schon lange Gras gewachsen ist. Längst sind die Bombentrichter und Leichenberge in Natur zurückverwandelt. Es ist jedoch fraglich, ob wir Menschen es so halten sollen wie das Gras; denn anders als das Gras können wir Menschen zwischen Vergessen und Erinnern wählen. Wir Menschen können und müssen es mit unserem Gewissen vereinbaren, ob wir die traumatischen Schmerzensspuren unserer Geschichte aus unserem Gedächtnis löschen wollen oder ob wir sie an uns heranlassen – auch nach 100 Jahren.

In diesem Herbst ist in Deutschland ein Roman des Norwegers Lars Mytting erschienen, der uns in einer aufregenden Jagd durch ein ganzes Jahrhundert schickt und miterleben lässt, dass zwar Gras auf den Schlachtfeldern an der Somme gewachsen ist, aber das, was 1916 in der Schlacht an der Somme geschehen ist, in einer spannenden und traurigen Geschichte bis in die Gegenwart hineinragt.

Es geht um Erinnern und Vergessen – vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart der 1990er Jahre – die sagenhafte Geschichte um das Schicksal mehrerer Generationen. Es würde jetzt zu weit führen, den Inhalt ausführlich darzustellen. Nur so viel:

Lars Mytting, Die Birken wissen’s noch
Suhrkamp/Insel, 2016

Die Spuren führen in die Kriegszeiten des 20. Jahrhunderts und zu den Spätfolgen des „Großen Kriegs“ in Frankreich. Ein Junge namens Edvard wächst von seinem dritten Lebensjahr an beim Großvater auf dessen Bergbauernhof im Gudbrandstal auf. Seine Eltern sind bei einem mysteriösen Unfall in Frankreich ums Leben gekommen. Zu den alten Schlachtfeldern der Weltkriege waren merkwürdigerweise Edvards Eltern gefahren, in einen Wald, wo ein Teil der Schlacht an der Somme getobt hatte.

In diesem Wald standen ungewöhnlich wertvolle Walnussbäume, die der Familie von Edvards Mutter gehörten. Seine Eltern fuhren 1971 dorthin, offenbar um das Erbe zu klären. Ihr damals dreijähriger Sohn Edvard, der die Reise überlebt hat, wird erst als Erwachsener erfahren, dass sie in eine der Phosphor-Granaten gerieten, deren Ummantelung im Laufe der Jahre von Rost zerfressen worden war. (Annemarie Stoltenberg, 11.5.2016, NDRkultur)

Ein Familiengeheimnis, das der junge Norweger Edvard ergründen will. Was genau ist geschehen? Wie ist die Verbindung zu einem Wald aus Birken, deren Stämme Eisenringe tragen? Das sind die treibenden Fragen dieses fesselnden Romans.

Mit Edvard begeben wir uns auf eine europaweite Suche nach seiner Identität und nach den komplizierten Spuren seiner abenteuerlichen, tragischen Familiengeschichte, die tatsächlich nicht nur metaphorisch im Erdreich verwurzelt ist. Zwischen dem Wald von Authuille und den Shetland Inseln spannen sich die Fäden, die seit dem Ersten Weltkrieg ausgelegt wurden. Fotos, Briefe, Pässe, Dokumente, Archive und Zeitzeugen geben Stück für Stück preis, was sich ereignet hat. Sie erschüttern uns und lassen uns teilhaben am Schicksale der Menschen vor 100 Jahren.

Dieser Roman lässt ahnen, dass die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs vielleicht bis heute auch in unser eigenes Leben eingreifen und es beeinflussen. Sie zeigen, dass wir alle – natürlich in unterschiedlicher Ausprägung – geprägt sind von dem, was unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern erlebt und erlitten haben. Erinnern oder Vergessen? Wer das Buch liest, wird darauf eine Antwort haben. Ein Buch, das man also unbedingt lesen sollte oder auch zu Weihnachten verschenken kann.

Auch das zweite Buch, das hier erwähnt werden soll, handelt vom Vergessen und Erinnern. Es ist aber eher ein leises Buch, ein schmales Bändchen von 158 Seiten.

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land
Dumont Verlag, Köln 2016

Die Geschichte erzählt ein alter Mann, der in jungen Jahren der Hölle des Ersten Weltkriegs entkommen ist und 1920 als Restaurator in einer Dorfkirche ausgerechnet ein Wandgemälde freilegen soll, das u.a. die Hölle des Jüngsten Gerichts zeigt. Dennis Scheck, der auch schon mal einen Autor richtig fertigmachen kann, schwärmt geradezu hymnisch von diesem Buch. Die Feuilletons der Printmedien tun es genauso.

J.L. Carr erzählt von einem Mann, der aus der Hölle kommt: aus der Hölle des belgischen Örtchens Passendale in der dritten Flandernschlacht des Ersten Weltkriegs. Mit der Hölle hat der Mann auch tagsüber zu tun, denn er ist jetzt Restaurator. Ein spleeniges Testament zwingt eine nordenglische Kirchengemeinde dazu, ein mittelalterliches Wandgemälde freilegen zu lassen, eine Darstellung des Jüngsten Gerichts. Einen Sommer lang wird unser Erzähler dazu in dem kleinen Dörfchen Oxgodby verbringen. Er wird sich während dieses Sommers verlieben, echte Freundschaft kennenlernen, profunde Einblicke in die Kunst gewinnen, sein Wertesystem neu durchdenken und vor allem erfahren, worauf es im Leben wirklich ankommt.

Dies alles ist so hinreißend zart, klug und einfühlsam erzählt, dass dieses Buch Leser finden wird, so lange sich Menschen Geschichten über Liebe und Tod erzählen werden. Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie J.L. Carrs Ein Monat auf dem Land. (Dennis Scheck, druckfrisch, 12.12.2016, ARD)

Aller guten Dinge sind drei. Auch wenn der letzte Buchtipp nicht unbedingt das Thema Erinnern und Vergessen als zentrales Thema hat – es ist ein außergewöhnliches Buch, dem man viele Leser wünscht. Besser kann ein Sachbuch gar nicht sein – so titelt die WELT vom 9.9.2015 und meint das wunderbare Buch des Tenors Ian Bostridge: Schuberts Winterreise, Lieder von Liebe und Schmerz.

Bostridge hat ein unfassbar kluges Buch über Franz Schuberts Liederzyklus geschrieben. Er erklärt viel und nimmt der Musik nichts von ihrem Geheimnis. Bostridges Leben, sein Kopf, seine extreme Emotionalität befähigen ihn zu einem ganz eigenen, ganz anderen und radikal neuen Umgang mit Schuberts Gesängen vom Ende des Lebens und der Zeiten.

Ian Bostridge, Schuberts Winterreise, Lieder von Liebe und Schmerz, C.H.Beck, München, 2015

Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh‘ ich wieder aus – diese ersten Zeilen der Winterreise konnte jeder deutsche Soldat im Ersten und im Zweiten Weltkrieg auf sich beziehen. Wer darüber hinaus hören mag, wie Ian Bostridge Schuberts Liederzyklus gesanglich interpretiert, findet auf youtube mehrere Aufnahmen mit ihm, u.a. den Mitschnitt eines Konzerts in Utrecht (2016).

Quellen zum Nachlesen
http://www.ndr.de/kultur/buch/Lars-Mytting-Die-Birken-wissens-noch,mytting102.html

https://www.buecherrezensionen.org/buecher/rezension/lars-mytting-die-birken-wissen-s-noch.htm

http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/index.html

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article146171733/Besser-kann-ein-Sachbuch-gar-nicht-sein.html

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