Briefe aus dem Niemandsland

Vor 100 Jahren treffen mitten im Krieg zwei junge Menschen zufällig aufeinander. Er an der Front in Frankreich, wird an der Hand schwer verletzt und kommt in ein Lazarett nach Hannover Burgfelde. Sie höhere Tochter betreut ebendort  die verwundeten Soldaten. Vier Wochen sehen sie sich jeden Tag, sehen sich immer tiefer in die Augen und versprechen sich Briefe zu schreiben. Er in Hamburg, sie in Hannover.

Daraus entwickelt sich eine große und schließlich tragische Liebe, die man aus den wenigen erhaltenen Briefen und Fotos rekonstruieren kann. Die Dokumente, in einem Schächtelchen verwahrt, landeten irgendwann auf dem Flohmarkt, von ahnungslosen Verwandten entsorgt.

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Carl an Ottilie

Hamburg, den 9. Juli. 1916

Mein liebes Fräulein Otto!

Rechtzeitig kam ich zum Bahnhof und fuhr 9.45 ab. Aber zu spät für ein kurzes Treffen mit Ihnen am Zug. Ich sah Sie zwischen all den anderen wincken, fein! Hier angelangt so um 12 Uhr herum, stürzte ich erst mal ein Glas Bier herunter und meldete mich dann pünktlich wieder zum Dienst.

Ich musste aber immer und immer wieder an die Johannisbeeren denken, die Sie mir mit Ihrem kleinen Händchen überreicht haben. Sie waren so feurig rot und schmeckten vortrefflich. Aber rot war auch Ihr schöner Mund, das wollte ich Ihnen noch gesagt haben und er schmeckte tausend Mal süßer als die Johannisbeeren. Verzeihen Sie mir meinen Angriff beim Abschied? Sie haben sich aber auch gar nicht gewehrt!

Ach, mit solch wirren Gedanken im Kopf schmeckt der Dienst nicht. Ach, gute Ottilie, ich möchte Ihnen nun so vielerlei schreiben, was mir durch den Kopf geht, was zwischen uns geschah, aber ich weiß nicht recht, ob ich es kann; denn ich möchte nicht gerne, daß meine Briefe von sonst Jemand gelesen würden.

Nun wir werden ja sehen, wie es wird mit uns beiden. Es ist nur schade, daß wir so weit auseinander leben. Aber am nächsten Wochenende bin ich wieder in Hannover bei Ihnen. Ihre Frau Mutter hat mich eingeladen. Ich hoffe, Sie sind einverstanden oder verziehen Sie jetzt Ihr süßes Mündchen?

Ich bitte Sie so recht, recht sehr, lassen Sie mich noch einmal in Ihrer Nähe sein, bevor ich vielleicht doch wieder an die Front muß. Man hat mir gesagt, daß ich wegen meiner Handverletzung zunächst auf der Werft bleibe. Hier werden tüchtig U-Boote gebaut. Meine Aufgabe ist es, die Kriegsgefangenen zu rekrutieren, die hier die eigentliche Arbeit machen. Viel Arbeit im Comptoir. Unsere Werftarbeiter sind fast alle an der Front.

Ich hoffe, Ihr süßer Mund sagt ja! Und wenn dieses nicht der Fall wäre, dann würde ich recht traurig und würde auch nicht am Sonnabend nach Hannover kommen; denn die Johannisbeeren ziehen mich nicht dahin – wohl aber ein Paar so entzückende brennende Augen und ihr roter Mund. Ist keine Poesie! Die reine Wahrheit.

Donnerwetter, ich möchte jetzt in Ihrer Nähe sein – wäre auch ganz artig, aber wozu diese Illusionen…

Nun, liebe Ottilie, werden Sie mir mal ein paar Zeilen schreiben? Aber sagen Sie mir auch bitte, ob ich Ihnen so schreiben kann, wie ich wohl möchte und ob sie auf  meine Briefe antworten werden.

Entschuldigen Sie mich für heute, es ruft die Pflicht.

Ein Photo von mir lege ich dazu. Sie können mich dann immer bei sich haben. Vielleicht schicken Sie mir auch ein Bild von Ihnen. Wenn ich Ihnen aber zu sehr mein Herz ausgeschüttet habe, so vergessen Sie mich und zerreißen lieber diesen Brief in 1000 Stücke!!!

Mit einem herzlichen Gruß verbleibe ich ach so gerne der Ihrige

Carl Lindner

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Ottilie an Carl

Hannover, d. 11. Juli. 1916

Lieber Herr Lindner,

die Johannisbeeren sind noch reichlich vorhanden in unserem Garten. Aber Sie müssen sie schon selber pflücken, wenn Sie am Sonnabend kommen.  Ich werde zwar daneben stehen und Sie dann fragen, ob die Beeren süß genug sind und ob Sie noch noch mehr… verlangen.

Ach, lieber Herr Carl, es ist so traurig, dass Sie wieder nicht mehr hier sind. Ich habe Sie so gerne im Reserve-Lazarett betreut. Das haben Sie vielleicht bemerkt. Es waren nur vier Wochen, daß wir uns fast täglich auf dem Burgfelde gesehen haben. Aber es kam mir vor wie ein langes, langes Leben in einer anderen Welt. Und dann dieser Abschied bei uns im Garten. Vielleicht für immer, dachte ich. Aber dann kam heute Ihr lieber Brief.

Wissen eigentlich Ihre Eltern, was hier geschehen ist? Und wissen Sie eigentlich, was mit mir geschehen ist, seitdem Sie abgereist sind? Ich bin so überglücklich, daß Sie uns am Sonnabend wieder besuchen wollen. Das Vaterland braucht sie wieder und hat Sie gerufen, aber ich kann und will nicht auf Sie verzichten. Aber was rede ich da jetzt? Nennen Sie mich ruhig töricht!

Zu Ihrem letzten Satz in Ihrem Brief: in 1000 Stücke reißen. Solange Sie nicht in meiner Nähe sind, drücke ich jeden Abend Ihren Brief an mein Herz. Zerreißen kann und werde ich ihn nicht. Eher zerreißt mein Herz, wenn Sie mir nicht schnell antworten.

Anbei wie gewünscht ein Photo von mir mit meiner kleinen Schwester

mit herzlichen Grüßen Ihre Ottilie

rechts Ottilie Otto

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Carl an Ottilie

Hamburg, 14. Juli 1916

Meine Allerliebste Ottilie! Geliebtes Herz!

Ich kann es immer noch nicht fassen, was zwischen uns beiden geschehen ist. Ich muß Dir sofort mein Herz ausschütten. Bin eben gerade angekommen.

Wie mag es Dir jetzt ergehen? Und denkst Du auch an mich, wie ich dauernd während der gesamten Bahnfahrt an Dich gedacht habe und an Deine zärtliche Hingabe und Deine liebevolle Hand, die mich so zielsicher geleitet hat.

Wie kann es nur sein! Ach, Ottilie! Du hast in mir einen furchtbaren Sturm entfacht, andrerseits fühle ich mich jetzt, seitdem ich Deine Lippen gespürt habe, in ruhigem Fahrwasser. Ich freue mich aber auf  weitere stürmische Zeiten mit dir.

Ach, warum bin ich gerade jetzt wieder dank Deiner aufopferungsvollen Pflege genesen und muß vielleicht wieder zurück an die Front!? Allerdings werde ich im Augenblick dringend hier bei Blohm & Voss gebraucht. Bis ins nächste Jahr, so sagte man mir. Meine Uniform muß ich auch hier tragen. Es kann aber jeden Moment vorbei sein und dann?

Können wir uns nicht noch einmal wieder treffen? Vielleicht hier in Hamburg? Vielleicht erhalte ich noch einmal Sonderurlaub. Vielleicht, vielleicht, vielleicht… Was ist denn in dieser Zeit sicher und vorhersehbar? Ich hoffe, wir beide!!!

Antworte mir schnell! Nun, mein Herzchen, schreib mir schnell wieder, aber ausführlich. In treuer Liebe verbleibe ich

Dein Carl

Ach, ich habe den von Dir so geliebten stürmischen süßen Kuß vergessen. Hier ist er! Das Photo hat ein Kamerad auf der Stube gemacht. Du siehst, meine Hand ist wieder in Ordnung.

Carl Lindner

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Carl an Ottilie

Hamburg, den 22. Oktober 1916

Mein geliebtes Herzchen!

Nach recht unbequemer Fahrt bin ich gestern wohlbehalten in Hamburg angelangt. Der Zug war außerordentlich voll und die Akustik miserabel. Du wirst von Vater wohl gehört haben, daß ich mir in dem Abteil für „Frauen“ einen wunderbaren Platz ergattert hatte, doch mußte ich diesen wohl oder übel bald wieder aufgeben und mich in das Abteil für „Männliche“ verfügen. Hier redete mich übrigens ein Herr an, der uns  gestern vormittag im Tiergarten gesehen hatte. Du erinnerst Dich vielleicht, daß in dem Restaurant, in welchem wir frühstückten, auch in der Ecke ein Pärchen saß, welches überaus verliebt war und unter dem Tisch genau wie wir die Hände sprechen ließ. Dieser Herr erkannte mich im Zug wieder! Da sieht man wieder, die Welt ist groß und doch so klein!

Ich freue mich nun außerordentlich, daß das Wetter wieder freundlicher geworden ist. Ich nehme an, daß Du heute Nachmittag mit Deiner Mutter und Else nach Herrenhausen warst. Wie hat es Dir denn dort gefallen? Haben die Fontänen gesprungen? Ich hätte dich riesig gern gestern Nachmittag mitgenommen, aber mein liebes Herzchen, du wirst es wohl selber inzwischen eingesehen haben, daß Dir die ganze Besichtigung der Anlagen auf einmal viel zu anstrengend gewesen wäre, zumal Du erst die vielen anstrengenden Tage hinter Dir hast. Glaube mir, mein Liebchen, ich habe nur Dein Bestes im Auge. Wir sind doch zusammen bald wieder in Hannover. Dann fahren wir auch mal zusammen in den Harz.

Heute morgen rief mich meine Mutter schon telephonisch an und wollte wissen, was zwischen uns passiert ist. Heute abend erwartet mich Mutter, um etwas Genaues über die zusammen verlebten Tage zu hören. Tante war übrigens etwas pikiert, daß wir nur einmal eine Karte geschrieben hätten, dasselbe werde ich wohl heute von Mutter hören! Schreibe mir doch bitte nochmals eine Karte. Oder einen kurzen Brief mit einem schönen Photo vom letzten Wochenende.

Wie geht es Dir denn sonst, mein Liebchen, ich hoffe, dass Dein Hüsterchen sich inzwischen wieder gegeben hat. Iß nur tüchtig die wohlschmeckenden Bonbons!?!

Nun bitte ich Dich, mein Herzchen, noch recht dringend, schreib mir bald wieder, aber ausführlich und schütte Dein Herz aus, wenn Dir etwas nicht zusagen sollte. Empfange von mir einen recht kräftigen Süßen.

In Liebe

Dein Carl

Meine Eltern grüßen dich, wie Du siehst, vom heimischen Sofa, das Du bestimmt noch von anderer Gelegenheit in Erinnerung hast. Es war auch zu schön mit dir dort.

Ottilies Eltern

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Carls Mutter an Ottilies Mutter

Hamburg, den 22. November 1916

Sehr geehrter Herr Otto,

Ihren werten Brief vom 19. des Monats habe ich erhalten und denselben mit großem Interesse gelesen. Ich war aber ein wenig überrascht, als Carl mir seine Verlobung mit Ihrer lieben Tochter Ottilie mitteilte. Aber es ist ja nun einmal so der Lauf der Dinge, haben wir Alten es seinerzeit doch nicht anders gemacht.

Er mußte ja nun doch eher wieder einrücken. Ich bin so in Sorge, daß alles gut geht und er Weihnachten wieder bei uns ist. Und natürlich auch bei Ottilie.

Geht es ihr eigentlich wieder besser? Carl war ziemlich besorgt über den gesundheitlichen Zustand Ihrer Tochter. Was sagt der Arzt? Ist das eine vorübergehende Geschichte? Wie hat es denn mit ihrem Bein angefangen? Carl konnte mir auch nichts Genaueres sagen.

Ach, viele Dinge, die wir beide zu besprechen haben. Ihrer freundlichen Einladung an uns, besonders mein liebes Schwiegertöchterchen kennen zu lernen, komme ich gern nach, und es wird mich meine jüngste Tochter begleiten. Die Zeit unserer Ankunft werde ich Ihnen noch mitteilen.

Für heute empfangen Sie und Ihre liebe Familie die herzlichsten Grüße von

Ihrer Johanna Lindner

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Ottilie (stehend in der Mitte) im Kreise ihrer Familie

Ottilie an Carls Mutter

Hannover, d. 2. Dez. 16

Meine liebe Frau Lindner!

Die herzlichsten Geburtstagsgrüße vorauf! Carl hat mich Ihren lieben Brief lesen lassen, und so erhielt ich von Ihrer liebenswürdigen Erlaubnis zu unserer Verlobung Kenntnis. Haben Sie herzlichen Dank dafür und seien Sie versichert, dass ich mich stets bemühen werde, Ihnen eine liebe, gute  Tochter zu sein, die verspricht, Ihnen nur Freude machen zu wollen.

Leider habe ich die Folgen meiner bösen Krankheit, von der Ihnen Carl ja gewiß Mitteilung gemacht hat, noch immer nicht ganz überwunden. Ich bin noch in ärztlicher Behandlung und muß mein Bein schonen. Der Arzt glaubt aber, dass ich mich spätestens Weihnachten soweit erholt haben werde, daß ich den Unruhen und Aufregungen, welche doch immer mit einer offiziellen Verlobung verbunden sind, ohne Gefahr für meine Gesundheit begegnen kann.

Dies ist auch der Grund, weshalb meine Eltern die Verlobung jetzt noch nicht wünschen. Ich bitte Sie, liebe Frau Lindner, mich aber trotzdem schon jetzt als Tochter anerkennen zu wollen.

Ihre Sie herzl. Liebende

Ottilie Otto

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Carls Mutter an Ottilie

Hamburg, d. 14. Dez. 16

Mein liebes Töchterchen!

Für Deine und Deiner Lieben herzlichen Glückwünsche zu meinem Geburtstage sage ich besten Dank. Dir aber besonders für den schönen Kuchen. Er hat uns allen, Willy, Marie und Hänschen haben ihn auch mitgegessen, vorzüglich geschmeckt. Sag mal, liebe Ottilie, hast du noch mehr solch schöner Recepte? Da möchte ich die wohl auch mal kosten. Es ist mir nicht des Kuchens wegen, man sieht aber die Liebe daran!!

Na Spaß muß sein!!

Else und ich sind aus dem Taumel eigentlich noch nicht herausgekommen. Dies machte wohl auch der Besuch von meinen Kindern, mein Geburtstag und einige Gesellschaften, welche wir mitgemacht haben. In Gedanken sind wir noch oft bei euch und denken noch viel an die schönen Tage, welche wir bei euch verlebt haben. Euch ist es gewiss nicht anders gegangen wie uns, hattet Ihr doch mit Wäsche und Schneiderei viel zu thun. Habt Ihr nun bald alles fertig?

Wie geht es Dir denn jetzt? Schonst Du Dich wohl und pendelst fleißig? Mein sehnlichster Wunsch ist es ja, dass Du die volle Gelenkigkeit in Deinem Bein bald wieder hast, damit wir bei deinem baldigen Hiersein auch schöne Spaziergänge machen können. Es wäre so schön, wenn Carl dabei sein könnte. Wir hoffen ja alle inständig, daß der Krieg bald zu Ende ist und Carl nicht wieder an die Front muß. Der Kaiser hat ja jetzt eine großartige Friedensaktion begonnen. Die feindlichen Mächte müssen doch endlich zur Besinnung kommen.

Meinen Geburtstag habe ich recht vergnügt verlebt. Von Nah und Fern hatte ich Glückwünsche, Blumen u.s.w. erhalten und nehme ich dies als gutes Zeichen für das kommende Jahr. Nachmittags hatten wir Kaffeegesellschaft und Abends waren wir in der Familie gemütlich. Das Wetter ist hier abscheulich jetzt, Schnee, Regen und Wind.

Empfange nun für heute nebst Deinen Lieben die herzlichen Sonntagsgrüße und einen besonderen Kuß für Dich in Liebe von

Deiner zukünftigen Schwiegermutter

Viele Grüße von Else und Leopold.

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Im Hamburger Hafen (Januar 1917)

Carl an seinen Bruder Willy

Hamburg, 14. Jan. 17

Mein lieber Willy!

Wie geht es Dir? Ich hoffe recht gut, und wie ist es bei Euch mit dem Wetter? Heini hat ja wieder recht grausige Tage hinter sich, ist gerade wieder nach Kiel zurück, wo sein Schiff in Kessel-Reparatur liegt. Hat die Nase voll vom Krieg und will, wenn alles zu Ende ist, nicht mehr aufs Wasser, sondern Landstellung annehmen als Lager-Verwalter bei Schell-Harburg. Aber noch ist ja Krieg.

Heini hat auch noch Sorgen mit seiner Grete. Sie war heute wieder in Eppendorf zum Röntgen und muß wohl nächste Woche ins Krankenhaus zur Beobachtung. Der Prof. meint, daß ein Herzmuskel versagt und es soll schnell behoben sein. Hoffen das beste. Gretel spricht drüber, als wenn’s gar nichts wär, hoffen ja, daß Alles gut wird, hat Gretel doch augenblicklich immer allerlei.  Einen Lichtblick gibt es ja. Mutters Herze ist im Augenblick ganz ruhig, aber dafür hat sie Rückenschmerzen.

Mir selber geht es wie immer gut, aber mein Portemonnaie ist schwindsüchtig. War mit Franzi  Sylvester bei Werner, wo es ganz gemütlich war, haben gut gegessen und getrunken, so daß wir zu Hause angekommen einen großen Kater hatten und uns aber noch auf angenehme Weise Gute Nacht sagen konnten.

Franzi kennst du noch gar nicht. Ist seit einiger Zeit bei uns in Stellung und ist eine kleine dralle Deern und keine Kostverächterin. Sie weiß was sie will, aber auch was ich will. Schade daß ich nur am Wochenende hier sein kann. Dann bekomme ich von Franzi, was ich mir eigentlich von Ottilie wünsche.

Ich hoffe, du verstehst meine Not. Ottilie ist ja immer so weit weg und außerdem immer noch nicht gesund. Weihnachten habe ich sie und ihre Eltern besucht, da war es besonders schlimm. Sie fühlte sich sehr schwach und elend und hat auch vermieden mit mir irgendwo allein zu sein. Keiner weiß so richtig, was mit ihrem Bein los ist. So langsam fange ich an zu grübeln, wie das alles so weiter gehen soll. Die Hochzeit haben wir jetzt erstmal verschoben, bis Ottilie wieder ganz gesund ist. Jedenfalls bin ich gut und glücklich mit Franzi ins Neue Jahr gekommen.

Gestern war hier Hochwasser und so gab es am Hafen recht viel Spaß, ein paar Autos fuhren in vollem Tempo durchs Wasser. Alle Keller wieder voll Wasser.

War am 3.1. zu Tante Tines Beerdigung in Nordhastedt. Tante Tine war recht hübsch aufgebahrt. Es war überhaupt sehr feierlich. Von zu Hause ging es dann mit dem Wagen nach Tellingstedt, wo in der Kirche die schöne Trauerfeier war, und dann zum Friedhof. Viele Leute waren da und Tante hatte viele Blumen. So sah ich dann noch Tante Tine auf dem Totenbett liegen, ruhig und zufrieden wie sie immer war. Ihr Herz war so schwach, und davon schlief sie so hinüber, ohne davon zu wissen. Gut für die liebe Tante, so weg zu bleiben.

Nun mein lieber Willy, laß es Dir gut gehen und sei gegrüßt

von Deinem Bruder Carl

Bitte behalte für dich, was ich über Franzi geschrieben habe. Es ist nicht der Rede wert.

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Carls Mutter an Ottilie

Hamburg, d. 2.2. 17.

Liebe Ottilie!

Für Deinen und Deines Vaters Brief sage ich euch herzl. Dank. Ich habe mich gefreut, dass Ihr wohlbehalten dort wieder angelangt seid. Ich konnte mir wohl denken, dass Dein liebes Mutterchen erstaunt war, Euch schon wieder zu sehen, sie muß wirklich gedacht haben, daß es Dir bei uns nicht gefallen hat. Ich hätte Dich ja so gern mal auf längere Zeit bei mir und wir könnten es uns ja auch recht gemütlich machen.

Ich wünsche Dir für das Neue Jahr alles, alles Gute! Vor allem Gesundheit! Und Carl und dir eine gute Reise in den Hafen der Ehe. Aber dein Bein will und will ja nicht wieder gut werden. Ich glaube, es war richtig, daß Ihr wieder abgereist seid. Hoffentlich pendelst Du fleißig, damit wir, wenn Du das nächste Mal hier bist, tüchtig zusammen ausgehen können. Sei nur recht vergnügt und pflege Dich gut, gehe fleißig in die frische Luft und befolge den Rat des Dr. genau, da wird hoffentlich das Bein bald wieder gesund.

Eure Hochzeit rückt nun immer näher heran und ich kann mir vorstellen, wie viel Arbeit Ihr noch vor Euch habt. Wir haben das ja alles im letzten Jahr mit unserer Else miterlebt. O, es gehört doch zu viel dazu, um einen neuen Haushalt hübsch und wohnlich einzurichten. Ein Mädchen hat Else aber immer noch nicht und wird sie sich wahrscheinlich in Altona eins mieten.

Mein Mädchen übrigens wurde im neuen Jahr ziemlich frech, hat sich jetzt aber eines besseren besonnen, als ich ihr drohte sie zu kündigen. Ein gutes Wort hat auch Carl für sie eingelegt. Ich hoffe, aus ehrlicher Absicht. Franzi hat ihm vielleicht auch Augen gemacht. Aber ich habe sie mir nochmal ordentlich vorgenommen, seitdem ist sie auch sehr freundlich u. arbeitet gut. Hoffentlich bleibt es so!

Ja, die Dienstboten heut zu Tage sind eine Last, gut ist es daher, wenn eine Hausfrau gesund ist und selbst die Arbeit versteht. Ich hoffe, daß Du bis zur Hochzeit wieder zwei gesunde Beine hast und du euren gemeinsamen Hausstand auch ohne Mädchen meistern kannst. Bei Else später und bei mir darf sich ein Mädchen nichts erlauben! Ich hoffe und wünsche für Carl, daß Du das genau so siehst.

Liebe Ottilie, bist Du denn schon bei Deinem Kranzgedicht und Deiner Toilette? Schiebe nur nicht alles auf die letzte Zeit, damit Du dann nicht so angegriffen bist. Du wirst viele neue Verwandte auf Deiner Hochzeit kennen lernen. Ich glaube es wird ein schönes Fest, wenn nur die Trennung durch den Krieg nicht wäre. Carl kann ja wohl bis auf Weiteres auf der Werft bleiben, sonst muß er, wir wollen es nicht hoffen, an die Front zurück.

Aber es ist ja nun einmal der Welt Lauf, der Mensch muß es verstehen, dem Leben die beste Seite abzugewinnen. Mit ein wenig guten Willen geht dies ja auch. Also immer guten Mut, liebe Ottilie, da wird alles gut!!

Wie geht es denn bei Euch Lieben dort in Hannover? Deinem lieben Mutterchen sage ebenfalls besten Dank für ihre lieben Zeilen.

Soeben kommen Adolf und Else vom Spaziergang nach Haus. Da muß ich wohl Schluß machen. Grüße mir alle Lieben dort herzlich von mir und Else, Leopold u. Adolf.

Sei Du aber besonders gegrüßt von Deiner

Dich liebenden Mutti

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Carls Bruder Willy an Ottilies Eltern

Bad Oeynhausen, den 28. Mai 1917

Willy H. Lindner

Sehr geehrter Herr, sehr verehrte Frau Otto!

Sie beschämen uns thatsächlich auf das höchste durch die schmeichelhaften Worte, die sie uns im Hinblick auf die wenigen, bei uns in stiller Häuslichkeit verlebten Stunden widmen, während wir, die wir weit größere Veranlassung gehabt hätten Ihnen zu danken, uns mit ein paar flüchtigen Dankesworten unsere tiefe Schuld bei Ihnen gestreift haben.

Streng genommen ist es wohl nicht ganz fair, wenn Sie vorgeben Dankesworte nicht zu lieben, und sich nun denselben ohne nennenswerte Veranlassung selbst in einer Sprache bedienen, die für uns – wie eingangs gesagt – geradezu beschämend ist.

Nun kommt wahrhaftig in diesem selben Augenblick, wo ich mich auf eine Grobheit für Sie besinne, aber so schnell keine finden kann, auch Fräulein Otti, unser kleines Bräutchen, ins Spiel. Hier will ich mit einem Dankessermon und complimentösen Redewendungen bei Ihnen lange im Gedächtnis bleiben und ihrem Vater zuvorkommen.

Was haben wir eigentlich gethan, daß Sie uns so mit Lob überschütten und so freundlich behandeln? Sie sind ja ganz gemüthliche Menschen! Aber darum keine Feindschaft nicht. Wir freuen uns ja so, daß es dem Papa und der kleinen Braut bei uns gefallen hat; und wenn wir etwas bei Ihrem Besuche tief bedauert haben, dann ist es das, daß derselbe erstens die weite Reise von Hannover bis hier infolge seiner Kürze gar nicht lohnte, und daß – last not least – sich die theure Gattin nicht unter den Besuchern befand. Ich hoffe bestimmt, daß Sie – um mit der Letzteren zu sprechen – uns bald Gelegenheit geben Ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

So nun habe ich mit Ihnen abgerechnet, die Falten auf meiner Stirne haben sich wieder geglättet, und nun kann ich Ihnen noch in aller Freundschaft sagen, daß meine Frau und ich selten, – oder besser gesagt noch nie – eine Bekanntschaft gemacht haben, die – wie das bei Ihnen (und ich schließe die Tante und ihre Kinder nicht aus) der Fall gewesen ist, sich so schnell in ein echtes warmes freundschaftliches Verhältnis umgewandelt hat; und ich kann meinem Bruder Carl das Compliment machen, daß er mit viel Geschick – eine sonst bei ihm seltene Eigenschaft – bei der Wahl seiner Braut, seinen Schwiegereltern und der ganzen Familie, die man ja doch bekanntlich mitheirathet, zu Werke gegangen ist. Aber sagen Sie ihm bitte nichts wieder!

Unserem kleinen Henry geht es – Dank für gütige Nachfrage – befriedigend, die kleine Verstimmung am 1. Pfingsttage ist Gottlob ohne ernste Folgen geblieben.

Ich schließe für heute mit dem Wunsch der kleinen Braut, daß wir uns zur Hochzeit Ende Juni in guter Gesundheit und fröhlicher Stimmung wiederfinden.

Alle Hiesigen lassen alle Dortigen bestens grüßen und so verbleibe ich denn in freundschaftlicher Gesinnung und Ergebenheit

Ihr Willy H. Lindner

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Carls Bruder Willy an Ottilies Vater

Bad Oeynhausen, den 25. Juni 1917

Willy H. Lindner

Sehr geehrter Herr Otto,

Gestern Nacht nach Hause zurückgekehrt, drängt es mich Ihnen auf diesem Wege zu erkennen zu geben, wie sehr ich die Ereignisse der letzten Tage beklage, und welch herzliches Mitgefühl ich für sie und Ihr armes Töchterchen empfinde. Verzeihen Sie mir, daß ich an den letzten Auseinandersetzungen zwischen Ihnen und meiner Mutter nicht theilgenommen habe, ich darf Ihnen die Gründe dafür nicht mittheilen. Seien sie aber überzeugt, mein lieber Herr Otto, daß meine Sympathien sehr zu Ihrer Seite herüberneigen, und seien Sie ferner überzeugt, daß ich Ihnen die Freundschaft und Ergebenheit, denen ich in meinem letzten Schreiben an Sie Ausdruck verliehen habe, auch in Zukunft bewahren werde.

Mir ist es heute noch nicht klar, weshalb das Alles so schnell kommen mußte; und wenn ich auch ehrlicher Weise gestehen muss, daß von vorneherein gewisse Bedenken, die in der Hauptsache in dem Gesundheitszustande Ihrer armen, schwergeprüften Ottilie begründet waren, zu dem übereilten Verlöbniss bei mir vorhanden waren, so hatte ich doch bis vor wenigen Tagen die feste Ueberzeugung, dass die Zeit, und andererseits die innige Zuneigung zwischen den Verlobten diese Bedenken verwischen würden.

Nun ist es anders gekommen, aber trösten Sie und Ottilie sich damit, daß Sie unter den einmal eingetretenen Umständen den allein richtigen Weg gegangen sind, und wer weiß, ob das augenblicklich als ein Unglück erscheinende Ereignis in seinem Schooße nicht das Glück Ihres Kindes birgt.

Ich bin weit davon entfernt meinen Verwandten u. auch meinem Bruder Carl im Besonderen einen Vorwurf zu ersparen, aber nach Allem, was ich gehört und gesehen habe, trifft dasselbe in erster Linie Ihre verehrte Frau Schwägerin, Frau Timm, die allerdings mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die beiden jungen Herzen zusammengeführt hat, die aber, durch die Aussaat des Mißtrauens und der Eifersucht in das Herz ihrer Nichte, in gleichem Maaße an der Entfremdung der beiden Liebenden Schuld trägt.

Ich hoffe aufrichtig, daß Ihre liebe kleine bald den Schmerz überwindet, und daß derselbe ihren zarten Körper keinen Schaden zufügt.

Wenn ich nach Hannover komme, darf ich Sie wohl einmal begrüßen; sollte ich Ihnen inzwischen irgendwie dienlich sein können, stehe ich Ihnen mit Freuden zur Verfügung.

Mit herzlichen Grüßen an Sie, Ihre liebe Frau und die Kinder, besonders an Ottilie verbleibe ich für heute

Ihr ergebener

Willy H. Lindner

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Carls Mutter an Ottilies Mutter

Hamburg, d. 26. Juni 17.

Sehr geehrte Frau Otto!

Ich kann es nicht unterlassen mit Ihnen über das Vorgefallene auszusprechen. Wir Eltern denken wohl vernünftiger über solche Sachen. Fragen wir uns zunächst mal, „wozu ist die Verlobungszeit.“ Die Verlobungszeit ist da, um sich näher kennen zu lernen. Sagt doch der Dichter schon:

„Prüfe wer sich ewig bindet,

ob sich das Herz zum Herzen findet.“

Wenn mein Carl jetzt zu dem Entschluß gekommen ist, das Verhältniß mit Ottilie zu lösen, so muß sein Herz ihm wohl sagen, daß es so das Beste ist. Unter Thränen hat er mir sein Herz ausgeschüttet und Recht mußte ich ihm geben. Daß Ottilie diese Mitteilung von Carl körperlich wohl sehr angegriffen hat, läßt sich wohl erklären, da sie mit ihrer Gesundheit sowieso noch zu  kämpfen hat. Unbegreiflich ist es mir, wie Ottilie Anlaß zu den vielen Wiederwärtigkeiten geben konnte, welche 8 Tage vor der Hochzeit stattgefunden haben.

Ottilie schrieb mir, ich möge doch ein gutes Wort für sie bei Carl einlegen und würde ich dies auch getan haben, wenn ich nicht selbst zu der Überzeugung gekommen wäre, es ist besser so. Ich möchte so gern ein gesundes lebensfrohes Schwiegertöchterchen haben und bedaure ich es zu sehr, daß die Krankheit Ottiliens keine Fortschritte gemacht hat. Lassen Sie uns, verehrte Frau Otto die Zukunft in Gottes Hand legen und bitten, daß er alles zum Guten leite.

Mein Carl ist sehr traurig gestimmt, er ist heute nach Oeynhausen gefahren. Wie Sie sich selbst sagen müssen, habe ich gern alles Liebe und Gute, welches Sie uns erwiesen, nach Kräften wieder gut gemacht und bedaure ich tief, daß das schöne Fest solch traurigen Abschluß finden mußte.

Indem ich Ottilie gute Besserung wünsche, verbleibe ich mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre liebe Familie

Ihre Johanna Lindner

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Carls Bruder Willy an Ottilies Vater

Willy H. Lindner, Bad Oeynhausen, den 29. Juni 1917

Mein lieber Herr Otto,

Ich kann Ihnen nicht sagen, mit welchen Gefühlen ich heute Morgen Ihre freundlichen Zeilen an mich gelesen habe. Die Nachricht, die sie mir über den Gesundheitszustand Ihres armen Kindes gaben, übertrifft die größten Befürchtungen, die ich gehegt und deren ich auch in warnender Weise meinem Bruder Carl gegenüber Ausdruck verliehen habe. Das Band zwischen den beiden jungen Leuten schien aber damals schon so gelockert zu sein, daß der rasche Verlauf der Katastrophe nicht mehr zu hindern war. Ich kenne meinen Bruder Carl und habe ihn des öfteren wegen seiner Lebensführung zurechtweisen müssen. Nach den Mittheilungen, die Sie mir heute machen, ist das Ereignis der letzten Woche für mich ein größeres Räthsel als zuvor.

Bis zum Montag Abend, dem Vorabend des Hochzeitstages, erschien für mich das Verhältnis zwischen Ottilie und Carl einerseits, als auch zwischen Frau Timm u. Carl in vollster Harmonie. Ich war deshalb wie aus den Wolken gefallen, als wir bei unserer Rückkehr aus dem Hamburg von dem vorgefallenen Zerwürfnis zwischen Ottilie und Carl vernahmen, welchem ich – nach dem was ich hörte – eine ernste Bedeutung beimessen mußte.

Ich hörte bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, daß ähnliche Unstimmigkeiten in der letzten Zeit mehrfach Platz gegriffen hätten; u. da ich immer wieder hörte, daß Ihre Frau Schwägerin das Mißtrauen u. die Eifersucht zwischen den beiden Liebenden geschürt, glaubte ich ihr die Hauptschuld zuschicken zu müssen. Nach ihren Mittheilungen scheint aber noch eine tiefere Ursache für die Separation vorhanden zu sein, die ich thatsächlich nicht fassen kann, umsoweniger als Sie mir schreiben, dass die eigentliche Initiative zu der Verlobung direct von meinem Schwager Carl ausgegangen ist.

Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Ottilie als Braut, ich wollte sagen in ihrer Eigenschaft als die Verlobte meines Bruders, nicht immer einer freundlichen Kritik unterworfen ist, dass Manches – sei es mit Recht oder Unrecht, lasse ich dahingestellt – an ihr bemängelt wurde, aber derartige Kritiken hat in weit stärkerem Maaße die damalige Braut meines Vetters Carl Junge über sich ergehen lassen müssen. Es haben damals ganz andere Szenen stattgefunden, ohne daß dieselben irgendwelche nachhaltigen Spuren auf das Gemüth der beiden Verlobten und auf deren Verhältnis zu einander zurückgelassen gehabt hätten.

Darum habe ich den hin und wieder mir zu Ohren gekommenen Kritiken große Bedeutung beigelegt, und darum glaubte ich daraus schließen zu dürfen, daß die Grundursache zu der Entfremdung erstens in der Erkenntnis der beiden Liebenden selbst, zum Anderen in dem Verhalten der Tante zu suchen ist. Wenn Sie diese Gründe nicht gelten lassen, dann stehe ich, wie schon gesagt, vor einem großen Räthsel.

Aber das Unglück ist da, das wird durch die Erforschung der Ursachen nicht beseitigt, und wenn ich je einen innigen Wunsch gehegt habe, dann ist es der, daß Gott geben möge, daß Ihr armes Kind, an welchem das Schicksal in den letzten Monaten so unerbittlich und grausam mitgespielt hat, auch diesen schweren Schlag überwinden, und recht bald und dauernd davon genesen möge. Es gilt vor Allem das Herz Ihres Kindes darüber aufzuklären, daß – unter den Umständen – das scheinbare Mißgeschick ein Glück für sie gewesen ist und sein wird, denn von dem Tage ab, an welchem zwei Menschen erkennen, daß sie nicht füreinander bestimmt sind, ist das Festhalten an einem Verlöbnis ein Unglück.

Es thut mir leid, mein armer Herr Otto, daß ich Ihnen keinen weiteren Trost geben u. keine weitere Hülfe bringen kann, richten Sie Ihre Augen aufwärts.

In steter Freundschaft verbleibe ich

Ihr ganz ergebener Willy Lindner

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Carls Mutter an Ottilies Tante Frau Timm

Hamburg, d. 29. Juni 17.

Geehrte Frau Timm!

Für Ihre freundlichen Zeilen empfangen Sie bitte Dank. Mein Carl ist seit vorigen Montag bei seinem Bruder in Oeynhausen und hatte ich wenig Gelegenheit eingehender über das Zerwürfniß mit Ottilie mit ihm zu sprechen. Wie kommen Sie nur darauf, sich Vorwürfe über das Vorgefallene zu machen. Wenn Sie hin und wieder Carl Vorwürfe über dies und das gemacht haben, ist dies doch kein Grund, daß Carl seine Verlobung mit Ottilie löst. In erster Linie kommt doch die Braut hier in Frage.

Ottilie ist, wie mir Carl mitteilte, während ihrer Verlobungszeit noch nicht so gewesen, wie es ein Bräutigam von seiner Braut erwartet. Ottilie musste sich bei ihren körperlichen Leiden doch sagen, es ist viel, daß Carl sich mit mir verlobt hat und hatte aus diesem Grunde besondere Ursache recht aufmerksam gegen ihn zu sein. Da Ottilie auch gesellschaftlich noch manches lernen mußte, Carl noch jung und lebenslustig ist, mußte er jetzt doch alles entbehren. Auch auf mich machte er immer einen traurigen Eindruck, wenn wir zusammen ausgingen und Carl Ottilie so traurig am Arm führte. Carl hat wohl nun bei seiner Verlobung erwartet, daß Ottilie schnellere Fortschritte in Betreff ihrer Gesundheit gemacht hätte, wie es jetzt der Fall ist. Wenn Ottilie etwas mehr Lebensklugheit gehabt hätte, wäre alles Unangenehme nicht passiert, denn Carl hat einen zu edlen Charakter und würde in Betreff der Krankheit nie geklagt haben.

Ich bin nun der Ansicht, daß es besser ist, wenn Ottilie jetzt erst ihre völlige Gesundheit wieder zu erlangen sucht. Beide sind noch jung und Carl seine Stellung ist noch nicht so, um ans heirathen denken zu können. Ottilie ist ja sonst ein braves gutes Mädchen, hat die liebevollsten Eltern von der Welt und braucht sich wegen ihrer Zukunft keine Sorgen zu machen. Da wird sich noch alles für sie zum Guten wenden.

Lassen Sie uns vorläufig die Verlobung lösen, bis Ottilie wieder ganz gesund ist, damit sie später ihrem lebenslustigen Mann auch eine gesunde und vergnügte Frau sein kann. Zeigen Sie bitte Ottilie diesen Brief nicht, ich möchte nicht, daß sie sich jetzt noch Vorwürfe macht, wo nichts mehr zu ändern ist.

Indem ich Ihnen, liebe Frau Timm, noch für alles Liebe und Gute, welches Sie meinem Sohn Carl erwiesen haben, danke, verbleibe ich mit größter Hochachtung

Ihre

Johanna Lindner

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Ottilie  an Carl

(ohne Datum)

Mein lieber Carl,

Du wirst Dich wundern, daß ich nach dem Vorgefallenen noch wage Dir zu schreiben.

…wenigstens keinen Grund dazu. Aber glaube mir, es thut weh, das Herz blutet einem, und muß man nach außen lachen. Ich hörte die Eifersucht wäre grundlos, wenn man keine Grund hätte an u. für sich und wenn hätte man Grund, wäre es auch nicht klug eifersüchtig zu sein. Wenn es zu spät ist, wirst Du sagen fragt sie u.s.w.

Auch Du hast schon manchmal gefehlt, und Dir ist auch vergeben. In der letzten Stunde sagtest Du mir noch, Du hättest mich lieb gehabt, lieber als alles auf der Welt. Carl, laß es nicht zu spät sein. Mach mich nicht für’s Leben unglücklich. Ach, sei wieder gut. Wenn ich Dich gekränkt habe, so vergib’s mir.

Ist das wahr, so mußt  Du mich vergessen, wenn es ist. Oh! Warum haben wir uns nur verlobt?? Warum blieb ich nicht fest, als Du mich um mein Wort batest? Wie viel, wie unendlich viel Elend hätten wir uns erspart. Habe ich mich Dir etwa zu sehr aufgedrängt? Bei den Johannisbeeren im letzten Sommer und was danach geschah?

Habe ich dir zu viel zugemutet, als du gleich alles wolltest und ich derzeit dich bat Geduld mit mir zu haben? Ich hab mir doch mit allem so viel Mühe gegeben, um es Dir recht zu machen. Ich hatte ja auch noch gar keine Erfahrung.

Damals habe ich mir Dich nicht aufgedrängt. Jetzt bitte ich Dich von Herzen, laß es weiter so sein wie am Anfang unserer Verlobung. Sieh Carl, …(?) Geld konnte ich Dir nicht bringen, aber ein treues Herz, so voller Liebe für Dich. Ich kann es immer noch nicht fassen, daß ich Dich nicht wiedersehe. Wenn’s klingelt, springe ich auf und denke, Du bist’s. Alles hier erinnert mich an dich. Heute träumte mir, wir beide wären so recht vergnügt gewesen. Aber vorbei! Weißt Du auch, dass Du meine Ehre, ja mein ganzes Lebensglück zerstört hast. Für mich gibt es keine Freude mehr. Ich wehre mich. Ich bin keine Dirne, der man bietet, was man will und der alles gleich ist.

Noch bin ich nicht wieder draußen gewesen. Aber ich möchte mich bald  wieder so bewegen können wie früher. Ich habe so gerne getanzt. Allein und auch mit Dir.

Was sollte Dir auch ein krankes Mädchen schenken, abgesehen davon, daß es noch nicht mal Geld hatte. Ja Carl, Geld konnte ich Dir nicht bringen, aber ein treues Herz so voller Liebe für Dich und voll gutem Willen.

O die eine schreckliche Nacht, ich vergesse sie nicht wieder. Unten höchste Festfreude, oben das tiefste Herzeleid. Nein und das um solche Bagatelle. Und alle hatten es so gut mit uns im Sinn und Vater hätte uns das Nestchen so warm gebaut. Warum sollten wir nicht glücklich sein!!

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Ottilie an Carl

Hannover, d. 3. Juli 17

Geehrter Herr Lindner!

Seit Sonntag habe ich Kenntnis von dem Inhalt Ihres Briefes, und so empfangen Sie den Ring zurück. Könnte er erzählen, wie manche Träne ruht darauf! Weh’ dem Tage, da ich Sie sehen mußte. Wer gab Ihnen das Recht, so mit meinem Herzen zu spielen! Aber ich habe mich nicht getäuscht, von Ihnen ist es nicht.

Sollte ich wirklich allein die Schuldige sein? Sie schreiben, Sie hätten an meiner Liebe gezweifelt. Sie selbst tragen Schuld daran! Sie werfen mir Mangel an Vertrauen vor und vergaßen selbst, sich mir anzuvertrauen! Meiner Meinung nach dürfen Verlobte keine Geheimnisse vor einander haben. Sie scheinen anders darüber zu denken, denn bald nach unserer Verlobung erfuhr ich durch einen Zufall von Ihnen so manches….

Ich habe wohl nicht nötig, mich näher darüber auszudrücken, was ich über Ihre Dienstmädchenverhältnisse gehört habe. Von dieser Zeit an schwand mein Vertrauen! Daher die Geschichte mit dem Ring. Mein erster Gedanke war auch „Schluß zu machen“, aber die Schande hielt und die Rücksicht auf meine lieben Eltern hielten mich zurück.

Warum haben Sie mir nicht volles Vertrauen geschenkt, ich hätte versucht zu vergeben und zu vergessen, und ich glaube auch, ich hätte’s vergeben und vergessen überwunden, denn ich hatte Sie sehr sehr lieb. Aber Sie hielten’s eben nicht der Mühe wert, sich auszusprechen, und das machte mich tief traurig. Wer hatte nun mehr Grund an der Liebe zu zweifeln?

Nun wünsche ich Ihnen alles Gute, eine andere würde sich vielleicht über diese Kleinigkeiten hinwegsetzen, ich konnte es unter solchen Umständen nicht!

Ottilie Otto

Im Übrigen hätten Sie nicht nötig gehabt, mir Ihre Adresse zu verschweigen, ich reise am Freitag und möchte Ihnen die anderen Sachen noch vorher senden. Ich kann sie doch nicht an Ihr Comptoir auf der Werft schicken.

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Nachtrag:

Im Schächtelchen mit den Briefen befanden sich zwei Fotos, die Ottilie Otto im Alter zeigen.

Zeigt sie hier ihre Beine absichtlich, weil sie stolz ist, ihre schwere Krankheit überwunden zu haben? Oder muss sie immer noch ihr Bein schonen und auf einem Kissen ausruhen?

Ein zweites Foto gibt auch keine nähere Auskunft. Es stammt aus dem Jahre 1940. Da muss Ottilie Otto ungefähr 55 Jahre alt oder auch älter gewesen sein. Auf der Rückseite steht folgender Erinnerungsspruch in unbeholfener Reimform:

Ottilie Otto (links mit einem Pilz in der Hand), 1940

Die Sonne schien zu arg – drum –
Hatte niemand einen Mantel um.
Frau Otto spannt den Riesenpilz auf als Dach –
ach!

August 1940

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Verlobung und Brautstand

aus: Der Gute Ton in allen Lebenslagen, Ein Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben, Leipzig, 1913

Endlich dürfen wir auch den Fall nicht unberücksichtigt lassen, daß eine Verlobung zurückgeht. Es ist das ein für beide Teile peinlicher Vorgang, der auf den einen oder den andern, oder auch auf beide übles Licht wirft. Die Gründe dazu mögen der Welt bekannt sein oder nicht, sie mögen sogar vor den Augen der Leute gerechtfertigt erscheinen, verurteilt wird eine aufgelöste Verlobung immer.

Wie urteilt sie nun erst, wenn ein wirkliches Verlöbnis stattgefunden und dies zurückgenommen wird. Das gibt auf Wochen und Monate hinaus Stoff zur Unterhaltung in allen bekannten und auch wohl unbekannten Kreisen. Hundert müßige Köpfe spüren Gründen nach, und hundert geschwätzige Zungen wissen auch in aller Schnelligkeit und mit voller Gewißheit jede eine andere Ursache dafür anzugeben. Das möge ein jeder bedenken, der sich verlobt, das möge namentlich jedes Mädchen bedenken; denn vielen schon ist mit der Aufhebung einer Verlobung auch der gute Ruf unwiederbringlich verloren gegangen.

Möge der Bräutigam nun selbst zwingende Gründe haben, von einer eingegangene Verlobung zurückzutreten, oder möge ihm das Schicksal widerfahren, dass ihm das Verlöbnis aufgekündigt wird, in jedem Falle tut er gut, wenn er so wenig wie möglich darüber spricht. Unzarte Fragen muß er mit Ruhe und Ernst zurückweisen. Vor allen Dingen aber möge er sich hüten, seiner bisherigen Verlobten Übles nachzusagen. Das muß man allerdings bei einem gebildeten Manne als ausgeschlossen voraussetzen, indessen wir sind alle Menschen und können fehlen.

Für das Mädchen, das sein Jawort zurückgegeben oder zurückerhalten hat, ist eine kürzere oder längere Abwesenheit von ihrem bisherigen Wohnort der beste Ausweg, um den unmittelbaren Unannehmlichkeiten zu entfliehen. Sollte es aber zum zweitenmal vor dem wichtigen Entschlusse stehen, einem Manne durch ein feierliches Gelöbnis nähere Rechte über sich einzuräumen, dann beherzige es doppelt das Wort unseres Schiller:

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,

Ob sich das Herz zum Herzen findet!

Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang.

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