Ein Schnappschuss für die Heimat

Manchmal ist es ein unscheinbares Foto, das einem auf dem Flohmarkt oder sonst wo zufliegt. Schaut man dann genauer hin, entdeckt man eine fremde und weit entfernte Welt. Weit, weit entfernt und längst vergangen. Aber schon sind wir neugierig und wollen wissen, woher dieses Foto kommt. Wer hat auf den Auslöser gedrückt? Wer hat es aufbewahrt? Wieso ist es auf dem Flohmarkt gelandet? Ist es ein Privatfoto? Ein Schnappschuss? Wir tasten uns vorsichtig heran. Hier ist z.B. ein Foto mit drei Männern – vermutlich ein Amateurfoto. Es ist schon stark vergilbt und etwas schräge im Fotolabor entwickelt worden. Wann und wo ist es wohl entstanden? Oder sagt man geschossen worden?

stryj_0002

Wir haben Glück. Auf der Vorderseite steht gewissermaßen die Bildunterschrift: Marktplatz in Stryj. Und die Rückseite verrät, dass dieses Foto als Feldpost im Januar 1916 aus dem weit entfernten Galizien nach Hamburg geschickt wurde. Januar 1916 – genau vor 100 Jahren.
Stryj gehörte damals zu Galizien und war eine Stadt mit 40.000 Einwohnern – ca. 70 km südlich von Lemberg entfernt. Ende Mai 1915 hatten deutsche Truppen schon Stryj eingenommen und hatten sich auf eine längere Besatzungszeit eingerichtet. Da gab es natürlich Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung, vor allem auf dem Marktplatz.
Es gab es Cafés, Geschäfte und mehrmals in der Woche war Markttag. Aber alles sah anders aus als in Deutschland. Nicht zu vergleichen mit zu Hause. Nicht zu vergleichen mit der Weltstadt Hamburg, wo die Verwandten wohnten. Fast 40% der Einwohner in Stryj waren Juden. Das war eine eigene Welt, fremd und aufregend zugleich. Wie soll man das alles erzählen, wenn man demnächst wieder auf Urlaub zu Hause ist? Auf einer Postkarte kann man nicht viel schreiben. Wie wäre es mit einem Foto? Der Marktplatz mit seinen täglichen Besuchern bietet sich dafür an. Aber leider sieht man die Menschen nur aus der Ferne. Solche Bilder gibt es auch als Postkarte. Sogar in Farbe. Aber jetzt will man näher ran.

plac_w_stryju

1910, Marktplatz von Stryj, einer galizischen Stadt 70 km südlich von Lemberg

Da ist doch der Kamerad auf der Stube, der einen Fotoapparat hat. Er hat schon einige Fotos von unserer Gruppe auf der Stube gemacht. Er hat auch schon die schönen Bürgerhäuser am Marktplatz, die Kirche und das Rathaus fotografiert. Und jetzt ist man wieder am Markt. Man hat hier und da schon etwas gekauft. Einige Gesichter der Händler erkennt man wieder. Die mit den ulkigen Löckchen und den schwarzen Hüten zum Beispiel. Man macht Scherze miteinander, auch wenn man die Sprache des anderen überhaupt nicht versteht.
Aber jetzt versucht man den drei Männern verständlich zu machen, dass man sie fotografieren möchte. Tatsächlich! Sie sind einverstanden und freuen sich über so viel Aufmerksamkeit. Zuerst stehen sie ganz stumm mit ernster und wichtiger Miene hinter ihrem Tisch, so wie sie sich immer im Atelier eines Fotografen aufstellen müssen.
Aber nein, so geht das nicht! Der Kamerad mit dem Fotoapparat hat eine Idee. So hat er das zu Hause auch gemacht, am Strand von Timmendorf oder auf einer Wanderung durch die Heide. Stellt euch doch mal so hin, dass es nicht so gestellt aussieht. Kein sekundenlanges Standfoto, bitte. Und nicht so steif und ernst. Es soll doch natürlich aussehen, lebendig und ungezwungen, so wie eben Tuchhändler in Stryj ihre Ware anbieten. Es soll zumindest so aussehen.

stryj_0002 - Kopie

Und dann gibt der Fotograf, der nette deutsche Soldat, den drei Männern mit den Hüten Regieanweisungen, was sie tun sollen. Messen Sie doch bitte mit dem Maßband die Stofflänge aus. Das macht der Mann auch, aber er kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Zu komisch ist das für ihn.
Und Sie heben bitte den Stoffballen hoch, rollen ihn aus und zeigen mir, wie schön er ist. Aber auch dieser Mann muss schon lachen und versteckt sein Gesicht halb hinter dem schwarzen Stoffballen. Vielleicht ist ihm das ein bisschen peinlich.
Einfacher ist es mit dem dritten Mann, der wahrscheinlich der „Geschäftsführer“ ist. Und Sie bitte kommen mal nach vorn. Wir brauchen noch jemand, der Ihren Stoff kaufen möchte. Fertig ist ein schönes Stimmungsbild aus dem fernen Galizien.
So jedenfalls bezeichnet der Absender auf der Rückseite der Postkarte dieses Foto und möchte damit seine Tochter ein wenig aufheitern. Und fügt dazu: Naturaufnahme. Was er damit meint, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht kannte er das Wort Schnappschuss noch nicht und will damit ausdrücken, dass es wirklich ein Bild aus dem richtigen Leben ist, natürlich und nicht gestellt. Nur schade – das merkt man aber erst hinterher – dass ein Kamerad mit ins Bild gerutscht ist. Das wird die Tochter zu Hause in Hamburg hoffentlich nicht stören.

stryj_0001Am 10. Januar 1916 geht das Foto mit einem kurzen Gruß auf die Reise von Stryj nach Hamburg.

Stryj, 10.I.16.

Liebe Gertrud!
Vielen Dank für lieben Brief. Um Dich ein wenig aufzuheitern sende Dir umseitiges Stimmungsbild aus Stryj. Naturaufnahme. Sonst hier wenig los, nur augenblicklich große Aufregung der Zivilbevölkerung, denn die Russen kommen wieder.

Mit herzlichen Grüßen Papa Erich

Fotos so aussehen zu lassen, als ob sie Schnappschüsse sind, war im Ersten Weltkrieg übrigens an der Tagesordnung. Die militärische Führung hatte erkannt, wie gut sich Bilder als Propaganda eigneten. Aber echte Schnappschüsse waren kaum möglich oder von schlechter Qualität. Gestellte Fotos waren einfach wirkungsvoller. „Die meisten Kampfbilder aus dem Ersten Weltkrieg sind gestellt“, das hat der Fotohistoriker Anton Holzer festgestellt. „Es sind genau diese Szenen, die wir als typische Kriegsbilder bis heute in den Köpfen haben.“
Die offiziellen Kriegsfotografen nahmen diese Bilder meist im Hinterland auf. Echte Schnappschüsse von Kämpfen gab es kaum. Fotografiert wurden gerne siegreiche Szenen der eigenen Truppen oder Kriegsgefangene in Lumpen. Man wollte zeigen, wie unzivilisiert der Feind lebte. Vielleicht ist dieser Gedanke auch im Hinterkopf des Amateurfotografen gewesen, der vor 100 Jahren diese drei Tuchhändler aus Stryj für uns bis heute aufbewahrt hat.

*****

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis echte Schnappschüsse ohne Stativ und ohne Regieanweisungen des Fotografen entstehen konnten. 1925 stellte Leitz die erste Kleinbildkamera vor, die in kurzer Zeit die Fotografie revolutionierte. Wackelfreie Bilder und schnelle Schnappschüsse waren jetzt jederzeit möglich.
In Stryj, der kleinen Stadt im fernen Galizien, kehrte nur für ein paar Jahre Ruhe und Frieden ein. Wir können das nachlesen in dem ergreifenden Roman von Louis Begley, Liebe in Zeiten des Krieges. Begley ist 1933 in Stryj geboren. Der kleine Maciek, die Hauptfigur des Buches, wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Bis 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht.

schupostryjAls 1941 Galizien von deutschen Truppen besetzt wird, war die jüdische Bevölkerung in Stryj auf 30.000 angewachsen. Immer mehr Juden flüchteten aus ganz Polen vor den deutschen Truppen Richtung Süden. Aber es gab kein Entrinnen.
Aus den Akten des Wiener Volksgericht wissen wir, dass schon in den ersten Tagen 2.000 Juden mitten in der Stadt erschossen wurden, weitere 1500 auf dem jüdischen Friedhof. Insgesamt wurden 10.000 Juden vor Ort erschossen, die übrigen 20.000 wurden mit dem Zug in das Vernichtungslager Belzec bei Lemberg deportiert. Ende August 1943 wurde Stryj als „Judenrein“ erklärt.

Quellen
Ulrich Schmidt, »Ich gebe zu, gehört zu haben«, Die Auslöschung der jüdischen Gemeinde Stryj und das Schutzpolizeiregiment 24, mandelbaum verlag, Wien, 21013
Louis Begley, Lügen in Zeiten des Krieges, Suhrkamp, Frankfurt, 1994
Heinrich Böll, Der Zug war pünktlich, Erzählung, dtv, München, 1972
Anton Holzer, Die letzten Tage der Menschheit, Der Erste Weltkrieg in Bildern, Darmstadt, 2013
Walter Sanning, The Dissolution of Eastern European Jewry, Castle Hill Publishers, 2015
auf Deutsch als PDF-Datei unter
http://nsl-archive.tv/Buecher/Nach-1945/Sanning,%20Walter%20-%20Die%20Aufloesung%20des%20osteuropaeischen%20Judentums%20%281983,%20313%20S.,%20Text%29.pdf

http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/judenvernichtung-in-stryj.html
http://www.galizien-deutsche.de/hochgeladen/dateien/Vortrag-1.Weltkrieg-Dr.Mueller.pdf
http://www.giedriuskuprevicius.lt/musicae/Traukinys/Boll_Heinrich_Der_Zug_war_punktlich.pdf
http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/judenvernichtung-in-stryj.html

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.