Am 1. April 1915 begannen in Hamburg die Osterferien. Es gab Zeugnisse, denn damals endete das Schuljahr immer zu Ostern. Die Schulabgänger – Abiturienten und Realschüler – wollten hinaus ins Leben und die große weite Welt für sich erobern. Aber es war Krieg. Der dauerte bereits ein halbes Jahr, und niemand wusste, wie es weitergehen würde. Finde ich jetzt in der schwierigen Zeit einen Ausbildungsplatz? Kann ich mein Studium beginnen oder werde ich gleich Soldat? Die Zukunft war für die Jungen und Mädchen ungewiss.
Da hatte die Hamburger Oberschulbehörde einen großartigen Einfall. Sie gab ein Buch in Auftrag, das innerhalb weniger Wochen druckfertig war. Dieses Buch, das in kostbares Leinen gebunden war (336 Seiten), sollte allen Hamburger Schulabgängern auf der Entlassungsfeier mit den Zeugnissen überreicht werden. Es hieß Hamburger Kriegsbuch 1914.
Dieses Machwerk wurde im „Auftrage der Lernmittelkommission der Oberschulbehörde“ herausgegeben. Dafür brauchte es sogar eine Extra-Genehmigung vom „stellvertretenden General-kommando“, das an der Palmaille eingerichtet wurde und auch für Hamburg zuständig war.
Hamburg war in den ersten Kriegsmonaten genauso euphorisch und siegestrunken wie alle Städte im Reich. Vor allem in bürgerlichen Kreisen gingen die Wellen der Begeisterung hoch. Es kam zu skurrilen Auswüchsen. „Jeder Stoß ein Franzos“ wurde schnell ein Gassenhauer. Die Franzosen mussten schnellstens weggehauen werden, am liebsten auch alles Französische. So wurde das »Café Belvedere« an der Ecke Ballindamm/Bergstraße schnell in »Kaffeehaus Vaterland« umbenannt. Ist es Zufall oder späte Wiedergutmachung, dass dieses Haus jetzt die „EuropaPassage“ beherbergt? Das »Hotel de Russie« wurde in »Preußischer Hof« umbenannt und französischer Camembert war auf einmal unverkäuflich.
Der Krieg hinterließ in Hamburg schon in den ersten Tagen und Wochen Spuren in der Stadt. Für alle sichtbar waren die militärischen Übungen auf öffentlichen Plätzen (Moorweide) und natürlich die zum Bahnhof marschierenden Kompanien der Armee. Bis Ende 1918 zogen etwa 230.000 Hamburger Männer als Soldaten in den Krieg. 34.181 von ihnen kamen zu Tode.
Von dieser traurigen Bilanz war Ostern 1915, als die Schulabgänger das Hamburger Kriegsbuch als Abschiedsgeschenk gewissermaßen in ihren Tornister gelegt bekamen, noch nichts zu spüren. Die Oberschulbehörde ging im Vorwort wie alle davon aus, dass der Krieg eine vorübergehende Erscheinung sei und dass man sich beeilen müsste, wenn man noch dabei sein wollte. Opfermut und Tapferkeit vorausgesetzt.
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Die Oberschulbehörde
Zur Einführung.
Meine lieben Jungen und Mädchen!
Die Oberschulbehörde überreicht Euch bei Eurem Ausscheiden aus der Schule ein „Hamburger Kriegsbuch“. Der Titel darf Euch nicht stutzig machen. Hamburger kämpfen auch in anderen Regimentern, nicht nur bei den 76ern; sie kämpfen auch nicht nur für Hamburg, sondern für die Sache des großen deutschen Vaterlandes. Aber wie Glück und Leid unseres gesamten Volkes sich bei Hamburgern und in Hamburg kundgetan haben, das möchte dies Buch besonders betonen. Es sind mir Tagebücher und Feldpostbriefe in liebenswürdigster Weise zugänglich gemacht worden. Wir alle danken den Verfassern für das hohe Vertrauen, das sie uns durch deren Zustellung bekundeten.
Wir danken den Redaktionen der Hamburger Zeitungen, die uns in entgegenkommender Weise den Nachdruck aus ihren Blättern gestatteten. Wir danken endlich den Dichtern Deutschlands, die in freundlicher – manche in freudigster – Zustimmung die Aufnahme ihrer Gedichte erlaubten. Was aus Aktenstücken, aus Briefen und Dichtungen spricht, die gewaltige Tapferkeit unserer Krieger, der begeisterte Opfermut aller Stände, das soll Euch im Gedächtnis bleiben. Das soll Euer Herz bewegen und Euch zu gleichen Leistungen entflammen. Für die Sache unseres Volkes sollt auch Ihr all Euer Denken und Können einsetzen, Ihr Mädchen und Ihr Knaben, die Ihr heute aus der Schule hinaustretet in das Leben.
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Hinaustreten in das Leben war für viele junge Hamburger gleichbedeutend mit „Eintreten in den Wehrdienst“. Nicht das Leben, sondern eher der Tod wartete auf sie. In den Hamburger Tageszeitungen fanden sich schon Mitte September 1914 neben den offiziellen Totenlisten erste private Traueranzeigen. Sie sollten bald ganze Seiten füllen.
Das Kriegsbuch enthielt Gedichte, eine Predigt im Michel, Tagebuch-aufzeichnungen, Zeitungsberichte, Kampfschilderungen und Feldpostbriefe. Hierin wurde der Krieg durchweg verherrlicht und verharmlost, ja sogar freudig gefeiert. Das Buch spiegelte damit wider, wie die Stadt und ihre Bevölkerung mit dem Kriegsgeschehen umgingen. Für die breite Öffentlichkeit wurde viel geboten, um die Kriegsbegeisterung zu steigern. Es gab zahlreiche Ausstellungen, Veranstaltungen, Konzerte und Attraktionen, die durchaus mit dem Frühjahrsdom und anderen Volksbelustigungen konkurrieren konnten. Der Krieg hatte damit in Hamburg bald Eventcharakter.
Es gab eine Kaiserfeier für die Verwundeten am Rathaus – mit Musike, Aufmärschen und Reden. Es gab Liederabende im Lazarett. Der Chor der Junglehrerinnen sollte ein wenig Trost spenden und zeigen, was das Leben sonst so zu bieten hat. Im Hafenkrankenhaus wurde am 7. Juli 1915 ein Gartenkonzert veranstaltet unter dem Motto „O Deutschland hoch in Ehren!“
Es gab einen Tag der offenen Tür im Marinelazarett auf der Veddel und in der Fliegerschule in Fuhlsbüttel. Es gab eine Bismarck-Ausstellung „Blut und Eisen“ – nicht nur im Sachsenwald, sondern auch im Gewerbemuseum am Hauptbahnhof (heute Museum für Kunst und Gewerbe). Das Warenlager des Kaufhauses Tietz in Ottensen war inzwischen eine Kaserne, und die Verwandten konnten ihre Krieger beim Landsturm zum letzten Mal besuchen, bevor es an die Front nach Belgien oder Galizien ging.
Am Hauptbahnhof und in der Großen Allee (heute Adenauerallee) gab es Verpflegungsstationen für die einrückenden Soldaten. Allein im Juni 1915 wurden wöchentlich 300 000 Portionen verteilt. In der Langen Reihe wurde ein Brotempfang in der Turnhalle eingerichtet, finanziert von der Kriegshilfe. Verwandte waren mit dabei, um Abschied zu nehmen.
Im Sommer 1916 machte in der Ernst-Merck-Halle eine große Kriegsausstellung Station, die durch ganz Deutschland tourte. Das Non-Plus-Ultra-Highlight gab es aber ab Juni 1915 in Eppendorf. Dort baute man in der Erikastraße eine Kriegslandschaft mit Schützengräben, Unterständen und erbeuteten Waffen nach. Gegen eine Spende für das Rote Kreuz konnte man selber in den Schützengraben steigen. 50 Pfennig für Erwachsene, 30 Pfennig für Kinder. Für viele bestimmt aufregender als die Geisterbahn auf dem Dom.
Für alle, die jetzt den Kopf schütteln und sich diese naive Kriegsbegeisterung der Hamburger nicht vorstellen können, soll hier der Abschnitt IV. aus dem Kriegsbuch von 1914 wiedergegeben werden.
Hamburger Kriegsbuch 1915
IV. Wir in Hamburg während der Kriegszeit.
Aus einer Kriegspredigt (gehalten am 5. August 1914, Kriegs-Bettag) von D. Hunzinger, Hauptpastor zu St. Michaelis.
Mitten in diesen Schicksalsstunden und ihrer Erregung wächst vor unseren Augen eine Gestalt unter uns zur Riesengröße empor, zur Reckengestalt hoch und hehr wie der Bismarck dort draußen über dem Hafen, heldenhaft wie Barbarossa: der Kaiser. Wieviel wir alle gelitten haben, niemand von uns kann die seelischen Kämpfe und Leiden ermessen, die das kaiserliche Herz in diesen Tagen ertrug. Und wie ertrug – wie ist er groß und grösser geworden als das drohende und dann hereinbrechende Schicksal! Wie ist er über uns alle, über sich selbst hinausgewachsen. Wie steht er jetzt unter uns da als der Größte von allen, als der beste Deutsche, der stärkste Mann der Station, der gottbegnadete Führer und Herzog der Deutschen. Keinen Augenblick hat ihn seine Mannhaftigkeit. Festigkeit, Ruhe, Entschlossenheit, seine Vornehmheit, Offenheit, Schlichtheit, seine Würde, sein Adel, seine Majestät verlassen.
Wenn wir längst unsern Kaiser zu kennen vermeinten, jetzt haben wir ihn ganz kennen gelernt, seine Seelengröße und seinen edlen Sinn. Und was für Worte hat er zu seinem Volk geredet, zum Herzen seines Volkes. Wie jauchzen sie ihm alle zu! Aber lasst uns ja nicht heute vergessen, zu fragen, was es ist, das ihm in übermenschlich schweren Stunden solche weltgeschichtliche Kraft und Größe verlieh! Seine eigenen Worte im Bußtagsausruf an sein Volk mögen die Antwort geben: „Wie ich von Jugend auf gelernt habe, auf Gott den Herrn meine Zuversicht zu setzen, so empfinde ich in diesen ernsten Tagen das Bedürfnis, vor ihm mich zu beugen und seine Barmherzigkeit anzurufen. Das große Bismarckwort: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts in der Welt“, das wir so oft und gern im Munde führen, der Kaiser hat es in seiner Person zur Tat und Wahrheit werden lassen.
Was ihn jetzt stark und groß macht, das ist fürwahr sein evangelischer Glaube. Er hat das festgehalten, fest mit seinen Händen umklammert, was so vielen Gliedern seines Volkes aus den Händen zu entgleiten drohte, ja schon entglitten war: den Glauben, (sein Glaube macht ihn jetzt in der Stunde der Gefahr zum Helden.
Der Kaiser hat auch von vornherein die Lage in ihrer ganzen Tiefe erfaßt. Er ist durchdrungen davon, daß es sich in diesem Kampfe nicht nur um eine physische Kraftprobe, um politische Vorteile oder wirtschaftliche Werte handelt, sondern daß Deutschlands heiligste Güter und innerlichsten Werte bedroht sind. Der Kaiser durchschaut mit seinem durch sittlichen Ernst und religiöse Energie gestärkten Auge den geistigen, idealen, religiös-sittlichen Grundcharakter des Krieges. Sein ganzes Auftreten, alle seine Worte atmen die Sehnsucht seines großen Herzens, daß der Kampf die rechte Weihe empfange, die Glaubensweihe, die Gottesweihe, die Gebetsweihe; daß der rechte Geist aus der Höhe über die Kämpfer komme, daß ja der glänzenden äußeren Mobilmachung das innerliche, innerlichste Gerüstetsein nicht fehle. Der Kaiser lebt jetzt ganz und gar in der Wirklichkeit des Wortes: So jemand auch kämpfet, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht. Geweihte Kraft, geheiligte Macht muß es fein, die den frevelhaften Angriff unserer Feinde zurückweist. Alles kommt aus den Geist an, in dem wir kämpfen.
O, daß nur alle diese heilige Überzeugung durchdringen möchte. Alle Fasern unserer Nerven und alle Regungen unserer Seele drängen jetzt zum Siege. Ein Gedanke, ein Wille hat jetzt im ganzen deutschen Volke alle anderen Gedanken und Willen impulsiv auf Wochen und Monate verdrängt: Sieg, Sieg! Wir wollen, wir müssen siegen. Und doch dürfen wir in dieser heißen Begierde des Sieges nicht vergessen, daß der Sieg, der uns winkt, mehr sein muß als ein äußerer Triumph der Waffengewalt – und wäre es auch ein noch nie dagewesener. Wie unser mit allen Kräften physischer Vernichtung geführter Kampf zugleich ein Geisteskampf sein muß, so muß der Sieg, dem wir zudrängen, ein Geistessieg im höchsten Sinne des Wortes sein – nicht bloß ein Zerschmettern des Feindes. Auch von Siegen heißt es: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Am meisten aber von deutschen Siegen.
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Der folgende Aufruf wurde am 4. Oktober 1914 von der gesamten deutschen Tagespresse kommentarlos abgedruckt und für die Hamburger Schulabgänger im Kriegsbuch übernommen. Die Unterzeichner unterschrieben mit ihrem Titel und Namen. Die vollständige Namensliste findet sich unten im Anhang. Wichtig war den Professoren, Künstlern und Schriftstellern vor allem der Schlusssatz:
Dafür stehen wir Euch ein mit unserm Namen und mit unserer Ehre!
Gegen die Verleumdungen von Feindesseite
wendet sich die folgende öffentliche Kundgebung. Sie ist unterzeichnet von mehr als 90 bekannten deutschen Dichtern, Künstlern und Gelehrten. Unter diesen finden wir auch folgende Namen: Prof. Justus Brinkmann, Museumsdirektor (Hamburg), Richard Dehmel (Hamburg), Maximilian Lenz, Professor der Geschichte (Hamburg).
Es ist nicht wahr!
An die Kulturwelt!
Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm ausgezwungenen schweren Daseinskämpfe zu beschmutzen trachten. Der eherne Mund der Ereignisse hat die Ausstreuung erdichteter deutscher Niederlagen widerlegt. Umso eifriger arbeitet man jetzt mit Entstellungen und Verdächtigungen. Gegen sie erheben wir laut unsere Stimme. Sie soll die Verkünderin der Wahrheit sein. Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt, noch die Regierung, noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das äußerste geschehen, ihn abzuwenden.Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den sechsundzwanzig Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann.
Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen.
Es ist nicht wahr, daß eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum von unseren Soldaten angetastet worden ist, ohne daß die bitterste Notwehr es gebot. Denn wieder und immer wieder, allen Mahnungen zum Trotz, hat die Bevölkerung sie aus dem Hinterhalt beschossen, Verwundete verstümmelt, Ärzte bei der Ausübung ihres Samariterwerkes ermordet. Man kann nicht niederträchtiger fälschen, als wenn man die Verbrechen dieser Meuchelmörder verschweigt, um die gerechte Strafe, die sie erlitten haben, den Deutschen zum Verbrechen zu machen.
Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teiles der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen. Der größte Teil von Löwen ist erhalten geblieben. Das berühmte Rathaus steht gänzlich unversehrt. Mit Selbstaufopferung haben unsere Soldaten es vor den Flammen bewahrt. Sollten in diesem furchtbaren Kriege Kunstwerke zerstört worden sein oder noch zerstört werden, so würde jeder Deutsche es beklagen. Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgendjemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerkes mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.
Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdum-Geschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.
Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde, wie kein zweites.
Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei. Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden. Wir können nur in alle Welt hinausrufen, daß sie falsches Zeugnis ablegen wider uns. Euch, die Ihr uns kennt, die Ihr bisher gemeinsam mit uns den höchsten Besitz der Menschheit gehütet habt, Euch rufen wir zu: Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende führen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir Euch ein mit unserem Namen und mit unserer Ehre!
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Führer.
An den Grenzen in Westen und Osten,
An beiden Meeren, entlang den Strand,
Erdharte Wolken lagern,
Land überm Land,
Himmlische Mannschaft steht in Lüften auf Posten.
Luther, der Landsknecht Gottes, mit reisiger Bibel bewehrt,
Bach, vorbetend preisende Orgelgesänge,
Kant, gewappnet mit Pflicht, gewaffnet mit Strenge,
Schiller, die mächtige Rede schwingend als malmendes Schwert.
Beethoven, von kämpfenden Erzmusiken umdröhnt,
Goethe, kaiserlich ragend, von Tagewerksonne gekrönt,
Bismarck, großhäuptig, geharnischt, pallaschbereit,
Des ewigen Bundes Kanzler in Ewigkeit, —
Seht sie gedrängt verdämmern in Ferneschein,
Dürer und Arndt und Hebbel, Peter Fischer und Kleist und Stein.
Rings über Deutschland stehn sie auf hoher Wacht,
Generalstab der Geister, mitwaltend über der Schlacht.
Ernst Lissauer.
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Deutscher Trost.
Und wird es euren Herzen auch schwer,
Den Sohn zu missen,
Mit euch tragen tausend und mehr.
Das sollt ihr wissen.
Und käm‘ auch die Nachricht, es legte der Tod
Ihm hart das Kissen:
Eure Not ist deutsche Not!
Das sollt ihr wissen.
Hermann Claudius.
Der Sieger.
Seele, o sieh nicht dich selbst mit Verzücken.
Eil über umgeschlagene Brücken,
Eil über Fernen
Hin zu den Sternen,
Denen du angehörst!
Eitelkeit kommt
Und streckt ihre langen
Glatten Finger,
Um dich zu fangen.
Narrheit hält dir den Spiegel, den blinken.
Willst du darin versinken?
Ertrinken
In den weichen Wassern des Ruhms?
Nimmermehr!
Deines Heiligtums l autere Sterne,
Schau sie in fliegender, flimmernder Ferne
Tief zuunterst vom Himmelsrand
Aufwärtssteigen wie winkende Hand:
Seele, wo bliebst du?
Hermann Claudius.
Quellen
Hamburger Kriegsbuch 1914, zusammengestellt von Karl Jahrmarkt
Hamburger Kriegsbuch 1915, zusammengestellt von Karl Jahrmarkt
Christoph Strupp, Die mobilisierte Gesellschaft, Hamburg im ersten Weltkrieg
Anhang
Namensliste aller Unterzeichner vom öffentlichen Aufruf Anfang Oktober 1914:
Adolf v. Baeyer, Exz., Professor der Chemie, München; Professor Peter Behrens, Berlin; Emil v. Behring, Exz., Professor der Medizin, Marburg; Wilhelm v. Bode, Exz., Generaldirektor der königlichen Museen, Berlin; Alois Brandl, Professor, Vorsitzender der Shakespeare-Gesellschaft, Berlin; Lujo Brentano, Professor der Nationalökonomie, München; Professor Justus Brinkmann, Museumsdirektor, Hamburg; Johannes Conrad, Professor der Nationalökonomie, Halle; Franz v. Defregger, München; Richard Dehmel, Hamburg; Adolf Deißmann, Professor der protestantischen Theologie, Berlin; Professor Wilhelm Dörpfeld, Berlin; Friedrich v. Duhn, Professor der Archäologie, Heidelberg; Professor Paul Ehrlich, Exz., Frankfurt a. M.; Albert Ehrhard, Professor der katholischen Theologie, Straßburg; Karl Engler, Exz., Professor der Chemie, Karlsruhe; Gerhard Esser, Professor der katholischen Theologie, Bonn; Rudolf Eucken, Professor der Philosophie, Jena; Herbert Eulenberg, Kaiserswerth; Heinrich Finke, Professor der Geschichte, Freiburg; Emil Fischer, Exz., Professor der Chemie, Berlin; Wilhelm Foerster, Professor der Astronomie, Berlin; Ludwig Fulda, Berlin; Eduard v. Gebhardt, Düsseldorf; J. J. de Groot, Professor der Ethnographie, Berlin; Fritz Haber, Professor der Chemie, Berlin; Ernst Haeckel, Exz., Professor der Zoologie, Jena; Max Halbe, München; Professor Adolf v. Harnack, Generaldirektor der königlichen Bibliothek, Berlin; Gerhart Hauptmann, Agnetendorf; Karl Hauptmann, Schreiberhau; Gustav Hellmann, Professor der Meteorologie, Berlin; Wilhelm Herrmann, Professor der protestantischen Theologie, Marburg; Andreas Heusler, Professor der nordischen Philologie, Berlin; Adolf v. Hildebrand, München; Ludwig [316] Hoffmann, Stadtbaumeister, Berlin; Engelbert Humperdinck, Berlin; Leopold Graf Kalckreuth, Präsident des Deutschen Künstlerbundes, Eddelsen; Arthur Kampf, Berlin; Fritz Aug. v. Kaulbach, München; Theodor Kipp, Professor der Jurisprudenz, Berlin; Felix Klein, Professor der Mathematik, Göttingen; Max Klinger, Leipzig; Alois Knoepfler, Professor der Kirchengeschichte, München; Anton Koch, Professor der katholischen Theologie, Tübingen; Paul Laband, Exz., Professor der Jurisprudenz, Straßburg; Karl Lamprecht, Professor der Geschichte, Leipzig; Philipp Lenard, Professor der Physik, Heidelberg; Maximilian Lenz, Professor der Geschichte, Hamburg; Max Liebermann, Berlin; Franz v. Liszt, Professor der Jurisprudenz, Berlin; Ludwig Manzel, Präsident der Akademie der Künste, Berlin; Josef Mausbach, Professor der katholischen Theologie, Münster; Georg v. Mayr, Professor der Staatswissenschaft, München; Sebastian Merkle, Professor der katholischen Theologie, Würzburg; Eduard Meyer, Professor der Geschichte, Berlin; Heinrich Morf, Professor der romanischen Philologie, Berlin; Friedrich Naumann, Berlin; Albert Neisser, Professor der Medizin, Breslau; Walter Nernst, Professor der Physik, Berlin; Wilhelm Ostwald, Professor der Chemie, Leipzig; Bruno Paul, Direktor der Kunstgewerbeschule, Berlin; Max Planck, Professor der Physik, Berlin; Albert Plehn, Professor der Medizin, Berlin; Georg Reicke, Berlin; Professor Max Reinhardt, Direktor des Deutschen Theaters, Berlin; Alois Riehl, Professor der Philosophie, Berlin; Karl Robert, Professor der Archäologie, Halle; Wilhelm Röntgen, Exz., Professor der Physik, München; Max Rubner, Professor der Medizin, Berlin; Fritz Schaper, Berlin; Adolf v. Schlatter, Professor der protestantischen Theologie, Tübingen; August Schmidlin, Professor der Kirchengeschichte, Münster; Gustav v. Schmoller, Exz., Professor der Nationalökonomie, Berlin; Reinhold Seeberg, Professor der protestantischen Theologie, Berlin; Martin Spahn, Professor der Geschichte, Straßburg; Franz v. Stuck, München; Hermann Sudermann, Berlin; Hans Thoma, Karlsruhe; Wilhelm Trübner, Karlsruhe; Karl Vollmöller, Stuttgart; Richard Voß, Berchtesgaden; Karl Voßler, Professor der romanischen Philologie, München; Siegfried Wagner, Bayreuth; Wilhelm Waldeyer, Professor der Anatomie, Berlin; August v. Wassermann, Professor der Medizin, Berlin; Felix v. Weingartner; Theodor Wiegand, Museumsdirektor, Berlin; Wilhelm Wien, Professor der Physik, Würzburg; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Exz., Professor der Philologie, Berlin; Richard Willstätter, Professor der Chemie, Berlin; Wilhelm Windelband, Professor der Philosophie, Heidelberg; Wilhelm Wundt, Exz., Professor der Philosophie, Leipzig.
In den ersten Oktobertagen 1914 von der geeinten deutschen Tagespresse kommentarlos abgedrückt
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