Drei Buchtipps zu Weihnachten

In diesen Tagen werden die Bücher in den Buchläden höher gestapelt als sonst. Jetzt vor Weihnachten gibt es wieder neue Bestseller, die man unbedingt gelesen haben muss. Das sagt einem jedenfalls der Buchhändler, das sagt DIE ZEIT, das sagen andere Rezensenten.
In der Abteilung Deutsche Geschichte liegen die Bestseller schon das ganze Jahr über auf hohen Stapeln: Christopher Clark z.B., Jörn Leonhard oder Herfried Münkler. Ob sie allerdings noch gekauft und dann auch noch gelesen werden, ist fraglich. Der Boom Erster Weltkrieg hat nachgelassen. Das Gedenkjahr 1914 ist schon lange vorbei. Vielleicht gibt es aber noch die eine oder andere Perle zu entdecken.

Daša Drndić, Sonnenschein
win_0001Dieser Roman spielt nur am Anfang im Ersten Weltkrieg. Schauplatz ist die kleine Grenzstadt Gorizia an der italienisch-slowenischen Grenze am Fluss Isonzo. Auf drei Zeitebenen folgt Drndić einer Familie durch die Donaumonarchie, den Ersten Weltkrieg, nach Italien, wohin sie vor den Rassengesetzen fliehen, dann nach Albanien und schließlich zurück in die Grenzregion nach Gorizia. Die zentrale Figur ist Haya Tedeschi, eine Mutter, die als einzige ihrer jüdischen Familie überlebt hat und seit 62 Jahren nach ihrem verschollenen Sohn sucht. Bei ihrer Suche stößt sie auf andere Schicksale, liest Zeugenaussagen, betrachtet Fotos und Erinnerungsstücke.

Und das ist das Besondere an diesem Roman. Es ist kein Familienroman, wie man vermuten könnte. Es ist vielleicht nicht einmal ein Roman – eher eine Mischung aus Fiktion und Dokumentation. DIE ZEIT findet dafür die Bezeichnung „dokumentarischer Holocaust-Roman“.
Die Geschichte dieser jüdischen Mutter, die seit Jahrzehnten nach ihrem Sohn sucht, ist eingebunden in historische Daten, Listen ermordeter Juden und Partisanen, Fotos oder detaillierte biografische Informationen über die politischen und administrativen Verantwortlichen. Das alles ist verstörend und packend zugleich. Wer sich in die 400 Seiten dieses Buches hineinbegibt, empfindet von Seite zu Seite immer mehr Mitgefühl und Trauer für die Opfer, die vom Ersten Weltkrieg bis 1945 ihr Leben gelassen haben. Einen ausführlichen Einblick in dieses großartige und bewegende Buch gibt es unter https://astrolibrium.wordpress.com/2015/04/04/sonnenschein-von-dasa-drndic-gegen-das-vergessen/

Leseprobe
Pfeifende österreichische Schrapnelle verwandeln die trunkene Soca in ein blaugrünes Schaumbad. Dann tritt schreckliche Stille ein, durchlöchert von gleißenden Sonnenstrahlen, und an der Soca erhebt sich ein riesiger purpurner Schleier zum Tanz, nass und klebrig und dicht. Trompeten blasen zum Angriff, und graue Uniformen reihen sich zu einer schützenden Feuermauer. Diese lebende Mauer aus kleinen Käfern mit ausgerissenen Flügeln schreit Avanti Savoia! Die Steinbrücke über der Soca wurde am Tag zuvor getroffen. Die Ingenieure reparieren die Eisenbahnbrücke, über die die Eisenbahnlinie aus Milano und Udine nach Gorizia und Triest führt. Italienische Einheiten, bereits verwundet und zerlumpt, galoppieren über die Brücke zum anderen Ufer und schießen auf die zurückweichenden Österreicher. An der Seite der Soldaten und unter einem ganzen Wald aus Bajonetten greifen Carabinieri an, Alpini, Bersaglieri, Infanterie und Kavallerie. Für die einen ist Gorizia erobert. Für die anderen ist Gorizia verloren.
Bruno Baar steigt auf den Berg und beobachtet die Schlacht, versteckt hinter dem rauen Stamm einer hundertjährigen Tanne, in dessen Rinde jemand ein Herz geritzt hat. Ihm scheint, als sehe er einen Haufen gelangweilter Kinder, die sich im Spiel in zwei Lager teilen, getrennt von einem dünnen Faden. Ihm scheint, als sehe er, wie die Kinder auf beiden Seiten des Fadens auf dem Bauch liegen und pusten und wie der Faden in die Luft steigt, sich zu einer Schlange windet und wie im leichten Föhnwind zu Boden sinkt. Dieser Faden ist die Grenze, sagt Bruno Baar. Er wird sich immer hin- und herwinden. Dann sagt er: Ich gehe und ergebe mich.
In der sechsten Schlacht an der Soca sterben zwanzigtausend italienische Soldaten und einunddreißigtausend verschwinden oder geraten in Gefangenschaft. Die Italiener nehmen neunzehntausend Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee gefangen, erbeuten siebenundsechzig Artilleriewaffen und eine Menge Minen und Maschinengewehre. Die österreichischen Verlierer zählen einundsiebzigtausend Gefallene, Vermisste oder vom Gegner Gefangene. Die Opfer aller zwölf Schlachten an der Soca auf italienischer Seite: 1.205.000, bei den Österreichern: 1.291.000.
Die Verluste des Königreichs Italien an der italienischen Front im Ersten Weltkrieg:
65.000 Gefallene, 947.000 Verwundete, 6oo.ooo Gefangene oder Vermisste; insgesamt 2.197.000 Opfer.
Die Verluste des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs an der italienischen Front:
1.200.000 Gefallene, 3.620.000 Verwundete und 2.200.000 Gefangene und Vermisste; insgesamt 7.200.000 Opfer, so oder so.
Daša Drndić, Sonnenschein
Roman, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, gebunden, 400 Seiten, 24,00 €

Ludwig Winder, Der Thronfolger, Ein Franz-Ferdinand-Roman
Auch dieser Roman ist kein herkömmlicher Roman. Ludwig Winder zeichnet die Lebensgeschichte des Thronfolgers Franz-Ferdinand und hält sich dabei streng an die historischen Fakten. Dieser biografische Roman wurde 1937 nach Erscheinen sofort verboten. Indem Ludwig Winder mit der Neugier eines Reporters das erstickend beengte Leben des Kronprinzen erzählt, gelingt ihm ein faszinierender Einblick in die Zeit vor dem Attentat in Sarajewo.
Klappentext
Sonntag, 28. Juni 1914, 10.45, Sarajevo, Ecke Franz-Joseph-Straße/Appelkai: Mit zwei Pistolenschüssen tötet der 19-jährige Gavrilo Princip den Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie. Einen Monat später erklärt Österreich dem Königreich Serbien jenen Krieg, der den Ersten Weltkrieg auslöst. Franz Ferdinand d’Este, Neffe des Kaisers Franz Joseph, war ein Tyrann, scheu und voller Menschenverachtung, der den Tod des Monarchen Franz Joseph herbeisehnte und widersprüchliche Staatspläne entwarf.
Dieser Roman ist eine späte Wiederentdeckung.
Wer versucht hat sich durch die 900 Seiten Christopher Clark durchzukämpfen und dabei selber auf der Strecke geblieben ist, wird vielleicht mit den gut 500 Seiten von Ludwig Winder ein spannendes und doch nachdenklich machendes Buch gefunden haben. Weil oder obwohl wir den Ausgang der Geschichte mit Franz Ferdinand in Sarajewo kennen, sind wir fasziniert und zugleich berührt von der Figur des unbeliebten, jähzornigen Prinzen. Ludwig Winder hat so brillant geschrieben, wie es heute vielleicht nur noch Robert Harris kann.
https://www.perlentaucher.de/buch/ludwig-winder/der-thronfolger.html

win_0002Ludwig Winder, Der Thronfolger, Ein Franz-Ferdinand-Roman
Zsolnay Verlag, Wien 2014, gebunden, 576 Seiten, 26,00 €

Margaret MacMillan, Die Friedensmacher
csm_9783549074596_cover_911043e476Wer auf ein Sachbuch nicht verzichten möchte, dem sei zum Schluss ein schon älteres Werk der amerikanischen Historikerin Margaret MacMillan empfohlen. Es ist bereits im Jahre 2000 erschienen, wurde aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Die FAZ schreibt dazu:
Wenn ein – noch dazu preisgekröntes, überaus lesbares und höchst anschauliches – Buch erst 15 Jahre nach seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung vorliegt, gibt es dafür sicher Gründe. Ist es der Stoff oder der Tenor? Der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg bleibt in Deutschland bis heute ein Reizthema.
Rezensenten empfehlen es als angemessene Ergänzung zu Christopher Clarks Schlaf-wandler. Ähnlich wie bei Clark reicht MacMillan auch nur ein Begriff, um die Richtung ihres Buches vorzugeben: Die Friedensmacher.
MacMillan beleuchtet das monatelange Geschacher zwischen Siegern und Besiegten, zwischen Dilettanten und Machtgierigen. Der Versailler Vertrag hat nach ihrer Meinung zahlreiche Probleme in Europa und im Vorderen Orient erzeugt, die bis heute ungelöst sind.
Nähere Informationen z.B. unter
http://www.zeit.de/2015/46/margaret-macmillan-versailler-vertrag-woodrow-wilson
http://www.tagesspiegel.de/politik/politische-literatur/vertrag-von-versailles-der-misslungene-frieden/12323986.html
http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/pariser-friedenskonferenz-1919-fuer-eine-bessere-ordnung-in-europa-13864887.html

die-deutsche-delegation-in

Die deutsche Delegation in Versailles im Mai 1919. Zweiter von links: Carl Melchior

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