Eine Straße für Carl Melchior!

Steller_Abb2Der Krieg ist gerade zu Ende. November 1918 – noch herrscht überall in Deutschland Revolutionswirrwarr. Da beginnen schon die Friedensverhandlungen. Die Delegationen der Sieger und Besiegten treffen sich an verschiedenen Orten, um vor allem die Höhe der Entschädigungen auszuhandeln. Was vom besiegten Deutschland schließlich verlangt wird, übersteigt alle Vorstellungskraft.
Zwei Mitglieder der Delegationen scheren aus und lehnen diese Forderungen ab – der eine ein Engländer, der andere ein Deutscher. Beide verlassen unter Protest ihre Delegation. Sie treffen sich heimlich, tauschen ihre Meinungen aus und werden nahezu Freunde.

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John Maynard Keynes (1886-1943)

Der eine ist der Engländer John Maynard Keynes. Der andere ist der deutsche Unterhändler Carl Melchior. Keynes wird später ein weltberühmter Wirtschaftsexperte und Politiker, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Und Carl Melchior? Ist heute vergessen. Sogar in seiner Heimatstadt Hamburg.
Zu Unrecht. Wenn man nämlich ein bisschen hineinsteigt in die Biografie dieses Mannes, fragt man sich: Wie konnte solch ein bedeutender Diplomat, Bankier und Finanzpolitiker der Weimarer Republik in Vergessenheit geraten? Immerhin gibt es auf wikipedia einen schmalen Beitrag über ihn. In Stichworten:

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Carl Melchior (1871-1933)

◇ Carl Melchior (* 13. Oktober 1871 in Hamburg; † 30. Dezember 1933 ebenda)
◇ deutscher Jurist, Bankier und Politiker
◇Leiter der deutschen Finanzdelegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles
◇einer der Initiatoren der Zentral-Einkaufsgesellschaft
◇ Teilhaber von M.M. Warburg & Co.
◇ einer der wichtigsten deutschen Finanzpolitiker
◇gründete 1923 zusammen mit Max Warburg das Institut für Auswärtige Politik an der Universität Hamburg
◇ im Völkerbund Repräsentant des Finanzkomitees
◇im Vorstand der 1930 gegründeten Bank für Internationalen Zahlungsausgleich

Carl Melchior hat übrigens mehrmals abgelehnt Reichsfinanzminister zu werden. Sein Rat war aber gefragt. Die bloßen Lebensdaten zeigen: Carl Melchior war eher ein Mann für den Hintergrund, ein Mensch, der sich selber nie in den Vordergrund gedrängt hat, um Karriere zu machen. Er war begabt auf verschiedenen Gebieten – als Bankier, als Diplomat, als Politiker. Vereinfacht könnte man sagen: Melchior wollte Diener sein und nicht Herr. Das haben seine Freunde und Mitarbeiter respektvoll über ihn gesagt. So z.B. Hans Schäffer, der ab 1929 Staatssekretär im Reichsfinanzministerium war.

Frage ich mich nun, wer war eigentlich Carl Melchior? Ein Bankier? Er besaß mehr als die meisten anderen einen Überblick über die internationalen Finanzverhältnisse, aber es fehlte ihm jeder Erwerbstrieb und wohl auch die spekulative Ader.
Ein Gelehrter? Er besaß die Gründlichkeit eines solchen, aber er lebte in der Welt, verstand mit Menschen umzugehen und war niemals doktrinär und ließ sich überzeugen.
Ein Beamtentyp? Er besaß die Pflichttreue und die Schlichtheit, die wir früher als Eigenschaften der Beamten, insbesondere der preußischen Beamten, ansahen, aber er hatte einen weiten Gesichtskreis und es fehlte ihm jeder Formalismus, jede Härte und jeder Aufstiegswunsch.
Ein Diplomat? Er war ein Unterhändler auf internationalem Gebiet, wie kaum ein zweiter, aber Schlauheit war ihm fremd und ich habe in all den Jahren ihn niemals eine Unwahrheit sagen hören. Er hatte von jeder dieser Gruppen das Beste, aber darüber hinaus war er ein weiser, gütiger und verstehender Mensch, der durch sein Auftreten und seine Art, anderen zu begegnen, das zu erwecken wußte, worauf am Ende alle Beziehungen zwischen Menschen, Menschengruppen und Völkern beruhen: unbedingtes Vertrauen.

Zurück zu Keynes und Melchior, die sich zum ersten Mal im Januar 1919 bei den Friedensverhandlungen in Trier trafen. Keynes war von Melchior so beeindruckt, dass er zwei Jahre später über ihn einen Essay schrieb und seinen Freunden im Club vorlas: D. Melchior, a Defeated Enymy (Dr. Melchior, Ein besiegter Feind). Veröffentlicht wurde dieser Essay erst 1949 nach Keynes‘ Tod. Darin findet sich der Satz: „In gewisser Weise war ich in ihn verliebt.“ Da Keynes mehrere Liebesbeziehungen zu Männern hatte, ist das ein prekärer Satz. In der deutschen Übersetzung, die erstmals 1956 erschien, wurde dieser Satz übrigens stillschweigend getilgt.
Keynes war nicht der einzige Verehrer oder Bewunderer von Carl Melchior. 1967 haben Freunde und Mitstreiter ihre Erinnerungen an Carl Melchior in einem Sammelband veröffentlicht: Carl Melchior. Ein Buch des Gedenkens und der Freundschaft. Das Vorwort dazu schrieb der damalige Hamburger Bürgermeister Kurt Sieveking. Hier ein kurzer Auszug:

Melchior_0004Mit der Herausgabe der folgenden Aufzeichnungen möchten wir das Gedächtnis an Dr. Carl Melchior bei allen denen bewahren, die ihn gekannt haben.
Die Aufzeichnungen … schildern die Laufbahn eines Deutschen, genauer gesagt eines Hamburger Bürgers, der in den Jahren des ersten Weltkrieges und nach der deutschen Niederlage 1918 seinem Vaterland wesentliche Dienste geleistet hat.
Fast den ganzen Krieg über war Carl Melchior in Berlin und in zahlreichen Missionen im Ausland tätig. Seit dem Waffenstillstandstag (11. November 1918) nahm Melchior an den Verhandlungen der Waffenstillstandskommission teil. 1919 wurde er Mitglied der deutschen Friedensdelegation. Als Deutschland in den Völkerbund eintrat, wurde Melchior Mitglied des Finanzkomitees und im Jahre 1928/29 dessen Vorsitzender.
Mit unendlicher Geduld und Selbstbeherrschung, mit unerschütterlicher Rechtschaffenheit, mit großer Zähigkeit in der Vertretung des deutschen Standpunktes, oft in tiefer Resignation, ist Melchior seinen Weg gegangen. Er war kein Mann der ungenauen, schon gar nicht der großen Worte. Melchior besaß die Klarheit der Analyse und die Kraft der Konzentration. Er blieb würdig in der Position des Besiegten und verwandelte die Niederlage in eine Grundlage gegenseitiger Achtung; er gewann Vertrauen.
Dr. Kurt Sieveking
Bürgermeister a. D.

Melchior_0003Vertrauen, immer wieder Vertrauen schaffen – das konnte Carl Melchior wohl gut. Aber Carl Melchior ist vergessen. Er war ein Mann, der nur schwer greifbare Eckpunkte seiner Karriere aufweisen kann. Er war nie Minister, nicht Bürgermeister, nicht Chef einer bedeutenden Institution. Kein aufsehenerregendes Ereignis ist mit ihm verbunden. Nicht einmal die Verfolgung als Jude im Dritten Reich steht in seiner Biografie. Er starb schon Ende 1933 an Herzversagen. Sein Eintrag im Nachschlagewerk „Das Jüdische Hamburg“ umfasst nicht viel mehr als der wikipedia-Artikel. Im „Stadtführer von A bis Z durch das jüdischen Hamburg“ fehlt er ganz.
Zwei kleine Ehrungen gab es immerhin für ihn. Er erhielt 1930 die Bürgermeister-Stolten-Medaille. Sie gilt als eine der höchsten Auszeichnungen der Stadt. Und 1984 stiftete die deutsche Bundesregierung an der Hebräischen Universität Jerusalem den „Carl-Melchior-Lehrstuhl“.

2012 erschien der Essay von Keynes über Carl Melchior in einer neuen Übersetzung im Berenberg-Verlag. In einem Vorwort dazu schreibt Christian Esch:

„Dr. Melchior. Ein besiegter Feind“ ist … die Geschichte einer seltsamen Freundschaft, ja Liebe – zum Finanzexperten der deutschen Delegation, dem deutsch-jüdischen Privatbankier Carl Melchior. Keynes hat den Text im Frühjahr 1920 im Freundeskreis der Bloomsbury-Gruppe vorgetragen. Er sah Melchior das erste Mal in Trier im Januar 1919. Von der Ehrpusseligkeit und Haltungslosigkeit der anderen hob sich der gepflegte Bankier Melchior ab. Als einziger wahrte er „die Würde der Niederlage“; er allein war bereit, die Reparationsfrage mit der Vernunft und Ehrlichkeit des Geschäftsmanns zu lösen.

1101651231_4002013 gab es einen öffentlichen Skandal um Äußerungen des schottischen Wirtschaftsprofessors und Historikers Niall Ferguson. Darin spielt Melchior auch eine Rolle. Ferguson hatte sich in einem taktlosen Spruch über John Maynard Keynes geäußert. Er behauptete, Keynes habe sich nicht um die Zukunft gekümmert – weil er schwul gewesen sei und keine Kinder gehabt habe. „The strong attraction he felt for the German banker Carl Melchior undoubtedly played a part in shaping Keynes’ views on the Treaty of Versailles and its aftermath.”
Ist auch Melchior deswegen „vergessen“, weil das öffentliche „Liebesbekenntnis“ von John Maynard Keynes totgeschwiegen werden soll? Eine Medaille in Hamburg, ein Lehrstuhl in Jerusalem – mehr Aufmerksamkeit, Ehrung oder Erinnerung gibt es nicht für Carl Melchior. Man muss wohl im Rampenlicht stehen – in welchem auch immer -, um Ehrungen zu erfahren. Es gibt den Hans-Albers-Platz und den Beatles-Platz in Hamburg, die nicht einmal Hamburger waren.
Erlaubt ist die Frage: Warum gibt es bis heute keine Straße in Hamburg, die Carl-Melchior-Straße heißt? Oder einen Platz? Gibt es nicht irgendwo in Hamburg, vielleicht sogar in der Nähe des Johanneums, wo er zur Schule ging, oder in Eimsbüttel, wo er aufgewachsen ist, eine Straße, die man ohne Schaden umbenennen könnte? Oder dort, wo er bis zu seinem Tod gewohnt hat, in der Nähe seines Hauses Heimhuder Straße 55 in Harvestehude.

UnknownAber was sollte man auf die kleine Info-Tafel schreiben, die immer unter dem Straßenschild zu finden ist, wenn der Name einer Person auftaucht? Wie gesagt, Carl Melchior war nie Bürgermeister, nie Minister. Aber das, was er für Deutschland und andere Länder geleistet hat, ist in weltpolitischen und wirtschaftlichen Dimensionen kaum fassbar, aber bis heute innovativ und erfolgreich. Eine Straße für Carl-Melchior!

Quellen
John Maynard Keynes, Freund und Feind – Zwei Erinnerungen, Berlin, Berenberg-Verlag, 2004
Carl Melchior, Ein Buch des Gedenkens und der Freundschaft, Vorträge und Aufsätze, hrsg. vom Verein für Hamburgische Geschichte, Tübingen, Mohr 1967
Eckhard Kleßmann, M.M. Warburg & CO, 1798-1998, Die Geschichte des Bankhauses, Hamburg, 1998
http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Melchior
http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/melchior-carl
http://www.kulturkarte.de/hamburg/HHKuMe
http://www.spiegel.de/wirtschaft/attacke-gegen-keynes-fergueson-entschuldigt-sich-a-898155.html
http://fablog.ehrensteinland.com/2013/05/09/

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