Kriegskinder, Nachkriegskinder, Nachkriegsenkel – zu diesem Thema gibt es inzwischen zahlreiche Publikationen. Vor allem Sabine Bode hat dort Pionierarbeit geleistet und in ihren Büchern aufgezeigt, wie die Kinder im Zweiten Weltkrieg unter Vertreibung, Hunger, Verschüttung oder Bombenhagel gelitten haben. Viele von ihnen wurden dadurch traumatisiert. Sie schwiegen darüber bis ins Alter und trugen ihr Leben lang Unsicherheit, Krankheiten und psychische Schwächen mit sich herum.
Aber – so darf gefragt werden: Gibt es nicht auch in der Kindergeneration des Ersten Weltkriegs ähnliche Erfahrungen und Traumata? Haben die ab 1900 Geborenen nicht auch im Krieg Hunger, Verzweiflung und überhaupt die ganze sogenannte Urkatastrophe erlebt?
Allein in Deutschland starben im Ersten Weltkrieg mehr als zwei Millionen Soldaten – ganz zu schweigen von den zivilen Opfern und den „Kriegskrüppeln“. Wie viele Kinder sind wohl ohne ihren Vater aufgewachsen! Über diese Kinder, die den Ersten Weltkrieg und die schwere Zeit danach miterlebt haben, gibt es so gut wie gar keine Forschung oder Publikationen, in denen deren Schicksal bearbeitet wird. Über die tieferen Ursachen dieser Sprachlosigkeit kann nur spekuliert werden. Ein Grund ist aber klar: Es gab gar keine Möglichkeit das zu thematisieren; denn als vielleicht die Zeit dafür reif gewesen wäre, begann auch schon der Zweite Weltkrieg. Die Männer, die zwischen 1900 und 1915 geboren waren, befanden sich ab 1939 als Soldaten im Einsatz.
Es waren darunter die Väter der 68er-Generation. Wir wissen, dass diese Väter nur begrenzt von ihren Söhnen und Töchtern Mitleid erfahren haben, sondern eher gefragt wurden: Warum habt ihr das alles mitgemacht – die Nazis, den Krieg und überhaupt. Diese Väter haben zwar versucht sich irgendwie gegenüber der neuen Zeit und ihren Kindern zu rechtfertigen. Sie ernteten aber fast nur Unverständnis.
Damit mussten diese Väter – um es ganz platt auszudrücken – nach dem Krieg an zwei Fronten kämpfen: Sie mussten sich gegenüber ihren Kindern verteidigen und ihr Verhalten in der Nazizeit rechtfertigen. Und an der zweiten Front haben sie stumm und sprachlos ihre Leidenszeit ganz allein verarbeiten müssen. Sie haben über ihre Kindheit und Jugend im Ersten Weltkrieg zeitlebens kaum etwas mitgeteilt. Trauer, Reue oder Schuld – Mitscherlich hat 1963 schon darauf hingwiesen, dass „gekonnter Gefühlsumgang gelernt werden muss“.
Erst seitdem Angehörige der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs zu fragen beginnen, unter welchen Bedingungen ihre Eltern aufgewachsen sind, gibt es eine verschwommene Ahnung, welchen seelischen Belastungen sie ausgesetzt waren. Viele dieser Männer wuchsen ja nach 1918 ohne Väter und mit überlasteten Müttern auf. Sie mussten früh Verantwortung übernehmen und waren oft sich selbst überlassen. Die Nachkriegszeit brachte kein Ende der Not. Revolution, Inflation und Weltwirtschaftskrise beherrschten die Zeit.
Aber jetzt ist es zu spät, diese Männer selber zu fragen. Sie sind als potentielle Zeitzeugen einfach weggestorben. Natürlich haben sie ihren Kindern etwas aus ihrer Jugend und aus der Kriegszeit erzählt. Aber das waren fast immer nur Anekdoten, Bruchstücke ihres Lebens, die nur ansatzweise durchschimmern ließen, was für ein Leben das tatsächlich gewesen war. Wenn jemand nachbohrte und mehr wissen wollte, wurde geschwiegen. Vielleicht wurde aber auch zu fordernd und zu besserwisserisch gefragt. Konnte man jemandem die eigene innere Not anvertrauen, der einem ständig Vorwürfe über die Nazizeit machte. Wo warst du als, Warum hast du nicht, Wie konntest du nur!
Hier kommt Konstantin Wecker ins Spiel. Schade dass wir damals vor über dreißig Jahren zu sehr auf seine Musik gehört haben und nicht so sehr auf den Text eines seiner Lieder. 1982 brachte er ein neues Album heraus, schlicht „Wecker“ genannt. Dort hat er neben Titeln wie „Ballade vom Puff“ und „Revoluzzer“ den „Chor der Kriegerwaisen“ besungen. Es geht genau um die Kinder des Ersten Weltkriegs. Verwendet hat er dafür ein Gedicht der Lyrikerin Mascha Kaléko. Sie ist 1906 geboren und gehört also selber zur Kriegskindergeneration des Ersten Weltkriegs. »Wir sind die Kinder der eisernen Zeit« – so fängt ihr Gedicht an und beklagt in eindrucksvollen Bildern das Leiden und die Not der Kinder im Ersten Weltkrieg.
Chor der Kriegerwaisen (aus dem Album „Wecker“, Text: Mascha Kaléko) 1982
Wir sind die Kinder der Eisernen Zeit,
Gefüttert mit Kohlrübensuppen.
Wir haben genug von Krieg und Streit
Und den feldgrauen Aufstehpuppen!
Kind sein – das haben wir niemals gekannt.
Uns sang nur der Hunger in Schlaf,
Weil Vater im Schützengraben stand
Zu fallen für Kaiser und Vaterland,
Wenn’s grade ihn mal traf.
Und kam eines Tages ein Telegramm,
Wenn der Vater schon lang nicht geschrieben,
Dann zog sich die Mutter das Schwarze an,
Und wir waren kriegshinterblieben.
Unser Kinderschreck war der Heldentod,
Unser Märchenbuch: Extrablätter.
Unsere Leckerbissen: das Karten-Brot,
Kanonen – unsere Götter.
Die Schulfibel prangte so stolz schwarz-weiß-rot.
Draus lernten wir: Tod den Franzosen!
Wir übten: Man sagt nicht Adieu nur Grüßgott –
Und schwärmten für Stahlbadehosen.
Wir lernten Geschichte und Revolution
Am eigenen Leib erfahren.
Wir schwitzten für Gelder der Inflation,
Die später Klosettpapier waren.
Wir spüren noch heute auf Schritt und Tritt
Jener Herrlichen Zeiten Vermächtnis.
Und spielt ihr Soldaten, wir machen nicht mit,
Denn wir haben ein gutes Gedächtnis.
»Wir sind die Kinder der eisernen Zeit« – diese Anfangszeile des Gedichts hat die Historikerin Barbara Stambolis 2014 für den Titel ihres neuen Buches benutzt: Aufgewachsen in »eiserner Zeit« – Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Sie weist darin eindrucksvoll nach, dass es Kriegskinder nicht erst seit 1945 gibt.
Barbara Stambolis ist Professorin in Neuerer Geschichte an der Universität Paderborn. Sie fragt: Welche Erfahrungen haben unsere Urgroßeltern oder Großeltern als Kleinkinder, Kinder oder Heranwachsende im Ersten Weltkrieg gemacht? Anhand von Zeitdokumenten und Selbstzeugnissen der Betroffenen rekonstruiert die Autorin ein eindrucksvolles Bild der Kindheit im Ersten Weltkrieg und deren Auswirkungen auf die folgenden Generationen. Das 20. Jahrhundert, das ja oftmals „Jahrhundert des Kindes“ genannt wurde, wurde spätestens ab 1914 zu einem absoluten Desaster für die Heranwachsenden – eine eiserne Zeit brach an. Wer dieses Thema ausführlich für sich ergründen will, findet in Barbara Stambulis‘ Anregungen zum Weiterdenken.
In dem Vorwort zu ihrem Buch schreibt sie u.a.:
Die wissenschaftliche Bedeutung der teilweise hochkarätigen Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg ist unbestritten, doch finden sich in der neueren Forschung bislang kaum Antworten auf die Fragen, wie sich das Leben der zwischen 1900/1902 und 1914/1918 Geborenen gestaltet hat, was sie empfunden haben, welches psychisch-mentale Gepäck ihnen in Kindheit und Jugend mit auf den Weg gegeben wurde.
Zahlreiche Angehörige der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs stellen heute im Alter fest, dass ihre Eltern zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschafskrise aufgewachsen vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie später ihre Kinder in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Spurensuche in privaten Unterlagen ist so wenig ergiebig und auch in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen finden sie nur wenige Anhaltspunkte. Diesem ›blinden Fleck‹ gilt in der vorliegenden Publikation die Aufmerksamkeit. Manche Leserinnen und Leser – zwischen 1930 und 1945 geboren – werden sich in den Kindern des Ersten Weltkriegs teilweise wiedererkennen, sie werden aber auch feststellen, dass sie in vielerlei Hinsicht unter anderen Bedingungen aufgewachsen sind und dass ihre Lebensperspektiven sich von denen Heranwachsender nach 1918 grundlegend unterscheiden. Jüngere, nach 1945 Geborene, werden zum einen gängigen Perspektiven auf das 20. Jahrhundert einige neue Facetten hinzufügen und sich der Frage nach der Dauer mentaler und psychohistorischer Erbschaften zuwenden können. Es handelt sich im Folgenden um einen vorsichtigen historischen Brückenschlag zwischen Kindheits- und Jugenderfahrungen im bzw. nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dem hoffentlich weitere, vor allem detailliertere Untersuchungen folgen werden.
In diesen Tagen hat gerade eine Konferenz zu diesem Thema Kriegskinder stattgefunden (23./24. März 2015 in der Akademie des Bistums Mainz): Kinder und Krieg – Epochenübergreifende Analysen zu „Kriegskindheiten“ im Wandel. Die Konferenz hatte sich zum Ziel gesetzt, „Kriegskinder“ von der Antike bis in die Moderne zu untersuchen. Schwerpunkte waren die Aspekte Erziehung, Alltag, Propaganda und Kindersoldaten.
Im Februar 2015 fand in Osnabrück ein Forum statt mit den Fragen: Sind wir auch „Kriegskinder“ des Ersten Weltkrieges? Wirkt der Erste Weltkrieg in ähnlicher Form bis in unsere Gegenwart weiter? Was haben die Kriegskinder – als Kriegsenkel des Ersten Weltkriegs – eventuell an Erfahrungen und versteckten Emotionen weitergegeben?
Die 1900er-Jahre sind das letzte Friedensjahrzehnt des „langen 19. Jahrhunderts“ und zugleich der Aufbruch in ein neues Jahrhundert voller Bewegung. Wie würde diese Generation heute dastehen, wenn es diese beiden Kriege nicht gegeben hätte?
Quellen:
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München, 1967
Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Ideen zur Sozialpsychologie, München, 1963
Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent: Europa 1900-1914, Hanser, 2009
Barbara Stambulis, Aufgewachsen in »eiserner Zeit« – Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, psychosozial-verlag, 2014
http://www.science-at-home.de/wiki/index.php/Die_Opfer_des_1._Weltkriegs
http://www.psychosozial-verlag.de/2358
http://www.science-at-home.de/wiki/index.php/Die_Opfer_des_1._Weltkriegs
http://www.barbara-stambolis.de/ http://systemagazin.com/aufgewachsen-eiserner-zeit/
http://www.hsozkult.de/event/id/termine-25855
http://geboren.am/1900er
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